Frankreich demonstriert, Deutschland lamentiert

Frankreich demonstriert, Deutschland lamentiert

Frankreich demonstriert, Deutschland lamentiert

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Frankreich wird von den größten Sozialprotesten seit Jahren überrollt und Deutschlands Linke ist zutiefst verunsichert, wie man nun darauf reagieren sollte. Parteichef Riexinger macht sich vor allem Sorgen um das „Potenzial Ultrarechter in den Reihen der Bewegung“ und wittert eine Querfront, die in Deutschland „so nicht denkbar wäre“. Die Linke sollte aufpassen, dass sie vor lauter Lamentieren und Distanzieren das Demonstrieren nicht vergisst. Denn ansonsten werden die kommenden Sozialproteste ohne sie stattfinden. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Lesen Sie zum Hintergrund auch: „Macron und sein Problem mit den „gelben Westen“ – Frankreich am Scheideweg“.

Nun muss selbst der konservative Cicero eingestehen, dass „der gelbe Protest [in Frankreich] immer roter [wird]“, und mit dem verzögerten Anschluss der Gewerkschaften an die Gelbwesten gewinnen die Sozialproteste in der Tat eine immer klarere linke Note. Was oberflächlich als Protest der abgehängten ländlichen Bevölkerung gegen eine diskriminierende Erhöhung der Dieselsteuern begann, hat sich zu einer beeindruckenden Welle von Sozialprotesten ausgeweitet, die von Tag zu Tag weiter um sich greifen. Nun schließen sich auch die Schüler, der Gewerkschaftsbund CGT und nun sogar die Polizeigewerkschaft VIGI den Protesten an. Die Polizisten wollen ab Samstag in den unbefristeten Streik gehen.

Die Forderungen der Gelbwesten-Bewegung gehen uns alle an. Es ist an der Zeit, sich legal zu organisieren und Solidarität mit ihnen zu zeigen, zum Wohle aller. Wir sind besorgt, weil wir Teil des Volkes sind. Unser Anliegen ist es, am Ende des Monats über die Runden zu kommen und nicht die Teppiche im Elysée für 300.000 Euro zu wechseln.
Pressemeldung der französischen Polizistengewerkschaft VIGI

Teile der Gelbwesten übermittelten dem Parlament währenddessen ein inoffizielles Kommuniqué mit Forderungen, die man selbst mit sehr viel Phantasie und bösem Willen nicht als wie auch immer „rechts geartet“ missverstehen kann. Es geht um Obdachlosigkeit, bessere Löhne, höhere Renten, gerechtere Steuern, eine Ende der Austeritätspolitik und eine Stärkung der ländlichen Gebiete. Man fordert auch einen korrekte Behandlung von Asylbewerbern und die Umsetzung einer tatsächlichen Integrationspolitik – auch das klingt nicht gerade rechts.

Unser Kollege Marco Wenzel hat sich die Mühe gemacht, das Kommuniqué aus dem Französischen ins Deutsche zu übersetzen. Die Übersetzung können Sie sich hier als PDF herunterladen und ausdrucken.

Offenbar hat Bernd Riexinger die Wirkung seiner warnenden Grußadresse an die Gelbwesten unterschätzt. Kurz nachdem erste Zitate von ihm – in der Tat verkürzt – veröffentlicht wurden, versuchte er seinen Kopf mit einer Veröffentlichung des Wortlauts seines Zitats aus der Schlinge zu ziehen, was die Sache jedoch auch nicht besser macht. Dass der Chef der deutschen Linkspartei nach einer blutleeren kurzen Solidaritätsadresse gleich auf das „Potenzial Ultrarechter in den Reihen der Bewegung“ abhebt und es für wichtig hält, darauf hinzuweisen, dass „in Deutschland eine solche Verbrüderung (sic!) linker und rechter Gesinnung nicht denkbar [wäre]“, ist und bleibt ein Armutszeugnis – egal ob verkürzt oder vollständig zitiert. Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. Für Riexinger ist jedes Problem mit dem Kürzel AfD verbunden.

Von welcher „Verbrüderung“ spricht Riexinger eigentlich? Ein von der Liberation veröffentlichtes Video zeigt, wie diese „Verbrüderung“ auf der Straße aussieht – bekannte „Ultrarechte“, die sich dem Protest anschließen wollen, werden von linken Gelbwesten vom Hof gejagt. Aber selbst solche Szenen sind – gemessen am Umfang der Proteste – mit den Worten des französischen Philosophen Guillaume Paoli nur „Randerscheinungen in einem konfusen Meinungsmahlstrom“. Wie sollte es denn auch anders sein? Sozialproteste sind – zumal wenn sie Massenproteste sind – nun mal keine Prozession der Zufriedenen, sondern ein Aufbegehren der Unzufriedenen und Wütenden. Dass sich darunter nicht nur auf Linie gebrachte Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, sondern auch Anhänger rechter Parteien befinden, ist unumgänglich. Hätte man vor dem Sturm auf die Bastille erst einmal sämtliche Wirrköpfe aussortiert, würden die Bourbonen wahrscheinlich heute Frankreich regieren.

Dabei zeigen doch gerade die „Gelbwesten“, wie man aus einer diffusen heterogenen Graswurzelbewegung der Unzufriedenen eine breit aufgestellte Sozialprotestbewegung machen kann. Zu Beginn der Gelbwesten-Proteste gab es auch in Frankreich derartige Debatten. Der populäre Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon sympathisierte mit den Gelbwesten, aber in der politischen Linken gab es auch kritische Stimmen. Nun muss man wissen, dass Mélenchon ein Freund von Oskar Lafontaine ist und seine Partei, die LFI , die bei den letzten Parlamentswahlen mit 11% die stärkste Partei des „linken Lagers“ wurde, eher auf Linie mit dem Wagenknecht-Flügel der deutschen Linken ist. Deren Schwesterpartei ist nämlich nicht die LFI, sondern die unbedeutende PCF, die zusammen mit dem Gewerkschaftsbund CGT zu Beginn der Gelbwesten-Bewegung dort ebenfalls „rechte Umtriebe“ ausgemacht haben will und sich eilends distanzierte. Es ist jedoch zu vermuten, dass es der CGT vor allem nicht passte, dass es sich bei den Gelbwesten um Graswurzelbewegung handelt und die Gewerkschaftsfunktionäre dort nichts zu sagen hatten. Aktivisten von LFI ließen sich davon aber nicht beeindrucken und drückten der Bewegung stattdessen ihren Stempel auf. Und da die größten Sozialproteste seit Jahren ja nicht ohne PCF und CGT stattfinden dürfen, haben die beiden Bedenkenträger sich nun auch zähneknirschend dem Protest angeschlossen und sind auf den fahrenden Zug gesprungen. Man muss nicht lange rätseln, auf welcher Seite Bernd Riexinger steht.

Dabei ist die Sache doch eigentlich gar nicht so kompliziert. Entscheidend ist nicht, wer dort demonstriert, sondern für oder gegen was demonstriert wird. Es macht doch einen Unterscheid, ob die Menschen gegen Ausländer oder gegen schlechte Löhne, miese Renten und hohe Mieten demonstrieren. Und wenn nun auch AfD-Anhänger gegen schlechte Löhne, miese Renten und hohe Mieten demonstrieren, dann diskreditiert dies doch nicht den Protest. Wenn Deutschlands Linke beim Protestieren lieber unter sich sein will, wird es schwer mit der Schlagkraft. Denn lammfromme Trillermärsche mit einer gemeinsamen, zuvor bis auf letzte Komma abgeschliffenen gemeinschaftlichen Erklärung, die dann auch garantiert niemandem wehtut, mögen ja nett sein … an den bestehenden Verhältnissen ändern sie jedoch in der Regel nichts. Die Linke muss schon wissen, ob sie lieber was erreichen oder in Schönheit sterben will.

Wenn man dies einmal in Ruhe sacken lässt, kommt meist das Argument, dass bei den Protesten in Frankreich ja Gewalt ausgeübt wurde und man sich aus diesem Grund doch von Demonstrationen distanzieren müsse, die von Randalierern, Plünderern und Hooligans für ihr schändliches Werk genutzt werden. So einfach ist es aber nicht. Das bringt niemand anders so schön auf den Punkt, wie die in Frankreich lebende Schauspielerin Pamela Anderson:

»Ich verachte Gewalt … aber was ist die Gewalt all dieser Menschen, was sind die verbrannten Luxusautos, verglichen mit der strukturellen Gewalt der französischen und globalen Eliten? Anstatt sich von den Bildern der Brände hypnotisieren zu lassen, müssen wir fragen, wo das alles herkommt.
Und die Antwort lautet: Es kommt von der wachsenden Kluft zwischen der städtischen Elite und den ländlichen Armen, zwischen der von Macron repräsentierten Politik und den 99 Prozent, welche unter der Ungleichheit leiden – nicht nur in Frankreich, sondern überall auf der Welt.«

Diese Worte hätte man eher dem Vorsitzenden einer Linkspartei als einer Schauspielerin, die vor allem aufgrund ihrer körperlichen Attribute bekannt wurde, zugetraut. Die Schauspielerin erklärt das Phänomen der strukturellen Gewalt und der Linkenchef lamentiert über die Gefahr einer imaginären Querfront. Verrückte Welt.

Dies führt zu einem Gedankenspiel: Was wäre, wenn in Deutschland aus den Sozialen Netzwerken heraus Sozialproteste entstünden, die sich wie ein Lauffeuer ausbreiten? Da unter den Unzufriedenen ganz sicher auch hierzulande zahlreiche Menschen wären, die für linke Parteifunktionäre als „Ultrarechte“ gelten, würde sich der Riexinger- und Kipping-Flügel der Linkspartei wohl pikiert distanzieren. Die Gewerkschaften würden ohnehin keine Proteste unterstützen, bei denen sie nicht das Programm bestimmen können und SPD und Grüne haben mit Sozialprotesten ohnehin nicht viel am Hut; wer will schon gegen sich selbst auf die Straße gehen? Dreimal dürfen Sie nun raten, wer sich dann zum Sprachrohr der Unzufriedenen macht und die Proteste für seine Zwecke nutzt.

Schon jetzt kokettiert die AfD mit den Gelbwesten und würde am liebsten in Deutschland eine gelbbewestete Pegida 2.0 starten. Wenn die Linke nicht zusammen „mit dem Pöbel“ auf die Straße gehen will, werden derartige Proteste ohne sie stattfinden. Damit beraubt sich die Linke aber auch vollkommen ohne Not ihres Einflusses auf diese Proteste. Aber dann beschwere sich niemand, dass diese Proteste nach rechts abdriften. Die Rechten sind nur so stark, wie die Linke es zulässt. Die Vorsitzenden der Linkspartei sind da sehr großzügig. Was wäre es für ein Zeichen gewesen, wenn die komplette Linksfraktion bei der nächsten Sitzung des Bundestags mit gelben Westen erscheinen würde? Man kann den Protest nur dann zum Ziel bringen und ihn vor einem Kidnapping von rechts bewahren, wenn man sich an seine Spitze stellt. So gesehen wäre es Zeit, aufzustehen und voranzugehen.

Titelbild: Alexandros Michailidis/shutterstock