Zweifel an der ‚Transatlantischen Freundschaft‘. Werden wir Russland gerecht?

Peter Becker
Ein Artikel von Peter Becker

Dr. Peter Becker, Rechtsanwalt und Ko-Präsident der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms, IALANA, hat in einem längeren Essay die Zweifel am Sinn und Wirken der sogenannten „Transatlantischen Freundschaft“ beschrieben. Er bezweifelt, dass wir damit Russland gerecht werden. Mit diesem Text ergänzen die NachDenkSeiten ihre Aufklärungsarbeit zum neu angeheizten West-Ost-Konflikt. Danke, Peter Becker. Albrecht Müller.

Zweifel an der ‚Transatlantischen Freundschaft‘. Werden wir Russland gerecht?
Von Peter Becker

Der Begriff ‚Transatlantische Freundschaft‘ steht heute für ein historisch gewachsenes Konstrukt, dessen eine wichtige Aufgabe es ist – so die Arbeitshypothese –, eine Annäherung der EU an Russland und vor allem Deutschlands an Russland zu verhindern. Dafür wird seit hundert Jahren das Feindbild Russland gepflegt, während die USA als leuchtendes demokratisches und rechtsstaatliches Gegenbild herausgeputzt werden. Russland wird die Rolle des Kriegstreibers zugeschoben.

Die USA sind ein Gegenbeispiel, dem sie aber historisch eigentlich nur mit dem Sieg gegen den Hitler-Faschismus, den Nürnberger Prinzipien und der Gründung der UN gerecht geworden sind. Denn dagegen steht ein ungleich mächtigerer Strang von völkerrechtswidrigen Interventionen und Kriegen, dazu wirtschaftlich unverantwortliche Verhaltensweisen und jetzt Trumps klimapolitischer Irrsinn.

Das vertraute Bild der USA wird, beginnend mit dem 20. Jahrhundert, von idealistischen Präsidenten geprägt. Die Realpolitik bestimmen aber bellizistische Kräfte. Auch die innere Verfassung der USA, der ‚weltweit ältesten Demokratie‘, stellt sich genau betrachtet anders als gewohnt dar; ebenso die reale Verfassung des amerikanischen Rechtsstaats. Vielen Journalisten gelingt es nicht, die – zugegebenermaßen komplexen – Zusammenhänge zu berücksichtigen.

Ein verzerrtes Bild wird auch von Russland gezeichnet: Russland hat sich schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts friedenspolitisch engagiert und dieses Verhalten schon vor dem Ende des Kalten Krieges vorangetrieben; erst recht danach. Aber diese Verhaltensweisen werden kaum wahrgenommen.

  1. Marksteine der Entwicklung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
    1. Der Völkerbund: Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson übernahm mit seinem Vierzehn-Punkte-Programm Kants Forderung „zum ewigen Frieden“, das zur Gründung des Völkerbundes in 1920 führte. Obwohl der Völkerbund von vielen Nationen beschlossen wurde, konnte sich Wilson in den USA nicht durchsetzen. Der Senat lehnte die Ratifizierung des Versailler Vertrages ab, in den die Satzung des Völkerbundes aufgenommen war; die USA wurden damit nie Mitglied des Völkerbundes.
    2. Weltwirtschaftskrise: Ausgehend vom ‚Schwarzen Freitag‘ im Jahr 1929, einem Crash der US-Börse, kam es zur Weltwirtschaftskrise. Von den insgesamt 25.000 US-Banken mussten fast 11.000 geschlossen werden. Auslöser waren hemmungslose Spekulationen mit dem Geld der Einleger, die zur Einführung des Trennbankensystems mit dem Glass-Steagall-Act von 1933 führte.

      Die Weltwirtschaftskrise führte auch in Deutschland zu zahllosen Firmenzusammenbrüchen, löste eine Armutswelle aus und wird als Wegbereiterin der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eingeschätzt.

      Wir behalten in Erinnerung: Der nicht regulierte US-Kapitalismus kann weltweite Wirtschaftszusammenbrüche herbeiführen.

    3. Pearl Harbor: Die USA waren zunächst am Zweiten Weltkrieg nicht beteiligt. Präsident Roosevelt wollte aber den Kriegseintritt. Ihm kam gelegen, dass die amerikanischen Kryptologen den japanischen Telegrafenverkehr entzifferten, aus dem sich ergab, dass die japanische Luftwaffe im Herbst 1940 einen Luftangriff auf Pearl Harbor plante, Standort der US-Pazifikflotte. Diese

      Absichten wurden aber dem Chef der Pazifikflotte, Admiral Kimmel, verheimlicht. Kimmel erhielt die Anweisung, 21 moderne Kriegsschiffe, darunter seine beiden Flugzeugträger, aus Pearl Harbor abzuziehen und nur die ältesten Schiffe dort zu belassen. Am 7. Dezember 1941 bombardierten die Japaner die US-Flotte. 2.476 Soldaten starben, ein Großteil der Flotte wurde versenkt. Das führte in der Bevölkerung zu einem Stimmungsumschwung, Roosevelt konnte den Kriegseintritt durchsetzen.

      Der Ablauf wurde von der US-Marine totgeschwiegen. Admiral Kimmel wurde sogar Versagen vorgeworfen, er wurde degradiert. Robert Stinnett, Pazifik-Veteran, recherchierte über 17 Jahre lang in Archiven, redete mit Kryptologen und erlangte mit Hilfe des ‚Freedom of Information Act‘ zahlreiche Informationen. Er deckte den wahren Ablauf auf (in seinem Buch Pearl Harbor, 2000, auf Deutsch erschienen 2003). Trotzdem bleibt die US-Regierung bis heute bei der ‚amtlichen‘ Darstellung.

    4. Der Bombenabwurf vom August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki diente nur vordergründig der Beendigung des Krieges mit Japan. Denn es hatte schon vorher ein Kapitulationsangebot des Tenno gegeben. Seine intendierte Wirkung war, Druck auf Stalin auszuüben, der mit dem britischen Premierminister Attlee und dem US-Präsidenten Truman bei der Potsdamer Konferenz zusammensaß. Der eigentliche Sieger des Zweiten Weltkriegs war nämlich die Sowjetunion, die 17 bis 25 Millionen Opfer zu beklagen hatte, während die USA ‚nur‘ gut 400.000 tote Soldaten zählte.

      Es ging Truman darum, trotz dieser Disparität zukünftiger Hegemon zu werden. Dazu sollte ihm die Atombombe verhelfen: so die These des amerikanischen Historikers Gar Alperovitz in seinem Buch Hiroshima. Die Entscheidung für den Abwurf der Bombe (in deutscher Sprache erschienen 1995). Dem damaligen Kriegsminister Stimson sei es gelungen, der amerikanischen Öffentlichkeit Fakten und Stellungnahmen vorzuenthalten und so eine „Legende“ über den Einsatz der Bombe zu schaffen. Ein Rezensent des Buchs von Alperovitz, Hans Kluth (FAZ vom 29.12.1995), untertitelt seine Besprechung mit „Im Höllenofen der Atombombe begann der Kalte Krieg“.

    5. Mit den Nürnberger Prozessen wurden nicht nur die Hauptkriegsverbrecher bestraft, vielmehr wurde das Völkerrecht weiterentwickelt. Trotz vielfältiger Kritik verhalfen sie dem Prinzip zum Durchbruch, dass es für einen Kernbestand von Verbrechen keine Immunität geben darf.

    6. Basierend auf Vorarbeiten von Churchill und Roosevelt wurde im Juni 1945 die UN-Charta von 50 Staaten unterzeichnet. Als erster Staat ratifizierten die USA die Charta und boten den Vereinten Nationen als Sitz New York an, wo er heute noch ist. Sie reklamierten aber für sich ein Veto-Recht im Sicherheitsrat, neben dem für die weiteren vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs Sowjetunion, China, Großbritannien und Frankreich. Es wird heute allgemein als Hemmnis für die Durchsetzung der neuen Friedensordnung angesehen, der die Gründung der UNO dienen sollte.
  2. Der Kalte Krieg
    1. Kalter Krieg: Mit dem ‚langen Telegramm‘ von George Kennan vom State Department wurde der Schwenk zu einer feindlichen Haltung gegenüber Moskau begonnen. Zwar gab es nie direkte Konfrontationen, aber Stellvertreterkriege wie die in Korea und in Afghanistan. Der Kalte Krieg trat als Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus in Erscheinung, führte also auch zu weltweiten Interventionen und der Unterstützung von Militärputschen durch die USA (‚Truman-Doktrin‘).
    2. Die McCarthy-Ära von etwa 1946 bis 1955 war durch einen lautstarken Anti-Kommunismus und Verschwörungstheorien geprägt; sie war eine Phase der Verfolgung echter oder vermeintlicher Kommunisten und deren Sympathisanten. Die Angst vor Kommunisten war ein Merkmal des Kalten Krieges. Selbst die Demokratische Partei der USA wurde als „rote Faschisten“ beschimpft. Die Zuarbeiten kamen aus dem von J. Edgar Hoover geleiteten FBI. Selbst die deutschen Emigranten Thomas Mann und Bertold Brecht wurden vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe (HUAC) geladen. Charlie Chaplin wurde die Wiedereinreise in die USA verweigert.
    3. Interventionen: Mit der Doktrin des amerikanischen Präsidenten Monroe (1823) wurde zugesichert, dass sich die USA nicht in europäische Konflikte einschalten wollten. Im Gegenzug reklamierten die USA die Nichteinmischung Europas in amerikanische. Die südamerikanischen Staaten wurden praktisch zum Vorhof der USA, nachdem diese zahlreiche Staaten erobert hatten, etwa Texas, Kalifornien, Neu-Mexiko, Arizona, Nevada, Utah: Mexiko verlor etwa die Hälfte seines bisherigen Staatsgebietes. Auch im 20. Jahrhundert wurde diese Politik fortgesetzt, etwa mit den Militärinterventionen in der Dominikanischen Republik, Kuba, Nicaragua, Honduras, Grenada.

      Auch nach dem Zweiten Weltkrieg, der durch das Eingreifen der USA beendet wurde, intervenieren die USA auf Basis der Truman-Doktrin in zahlreichen Fällen:

      • 1953 stürzt die CIA den gewählten Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh im Iran, der die Verstaatlichung des iranischen Öls durchgesetzt hatte; er wurde abgelöst durch das Regime von Schah Mohammad Reza Pahlavi.
      • 1954 organisierte die CIA eine Söldnerinvasion gegen Guatemalas Präsidenten Jacobo Árbenz Guzmán, der vor allem eine durchgreifende Landreform durchsetzen wollte.
      • 1961 bis 1964 beteiligten sich die USA in Form der CIA laufend an den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Demokratischen Republik Kongo und organisierten die Ermordung von Staatschef Patrice Lumumba.
      • 1963 wurde in der Dominikanischen Republik nach dem Sturz der Trujillo-Diktatur 1961 der Linkspolitiker Juan Bosch von rechtsgerichteten Militärs mit Hilfe der CIA gestürzt.
      • 1964 bombardierten die USA Laos; die Intervention wird als der ‚geheime Krieg‘ bezeichnet.
      • Ebenfalls 1964 wurde in Brasilien mit logistischer Unterstützung durch die CIA der links gerichtete Präsident João Goulart gestürzt.

      Aber das ist nur eine Auswahl: Der ehemalige Bedienstete des US-Foreign-Office William Blum listet in seinem Buch Zerstörung der Hoffnung (in den USA unter dem Titel Killing Hope erschienen, erstmals 1987; in deutscher Sprache erschienen 2008) 55 bewaffnete Interventionen der USA und der CIA seit dem Zweiten Weltkrieg auf.

    4. Der Vietnam-Krieg: Frankreich verlor in der Schlacht um Ðiện Biên Phủ 1954 seine Kolonien Vietnam, Laos und Kambodscha. Es kam zur Bildung der Staaten Südvietnam (anti-kommunistisch) und Nordvietnam (kommunistisch), die einen Bürgerkrieg begannen. Mit dem Tonkin-Zwischenfall 1964 legitimierten die USA ihr Eingreifen in den Vietnam-Krieg: Angeblich hätten nordvietnamesische Schnellboote zwei US-Kriegsschiffe beschossen. Die Pentagon-Papiere (erschienen 1971) und die Memoiren von Robert McNamara (1995) belegen, dass die US-Regierung die Vorfälle durch bewusste Falschdarstellung zum Durchsetzen ihres seit 1963 geplanten Kriegseintritts nutzen wollten. Aber Nordvietnam gewann 1975 den Krieg gegen die USA, mit zwei bis fünf Millionen Toten, was zur Gründung des einheitlichen Staates Vietnam führte. Die USA setzten das hochgiftige Entlaubungsmittel ‚Agent Orange‘ ein und begingen damit unglaubliche Kriegsverbrechen.
    5. Chile: Mit direkter Beteiligung des CIA wurde in Chile der sozialistische Präsident Salvador Allende 1973 gestürzt; er starb. Eine faschistische Militärjunta unter Augusto Pinochet übernahm die Macht bis 1989.
    6. Panama: 1977 handelte US-Präsident Jimmy Carter mit dem panamaischen General Omar Torrijos Verträge aus, nach denen der Panama-Kanal bis zum Jahr 2000 an Panama zurückzugeben sei. Es ist geradezu ergreifend, wie Carter in seiner Biografie Full Life. Reflections at 90 seinen Kampf um einen vernünftigen Ausgleich mit Panama beschreibt – und welche Widerstände in der eigenen Bevölkerung er dazu überwinden musste. Torrijos Nachfolger Manuel Noriega, verstrickt in undurchsichtige Drogengeschäfte, wollte sein Vermächtnis pflegen und weigerte sich, die Erlaubnis für den Betrieb der ‚School of the Americas‘ in Panama zu verlängern, einer nach Noriegas Annahme „Ausbildungsstätte für Todesschwadronen und rechtsgerichtete Militärs auf unserem Boden“. Nachdem Noriega auch noch den Bau eines zweiten Kanals durch Japan prüfen ließ, führten die USA am 20. Dezember 1989 in Panama die größte Luftlandeoperation seit dem Zweiten Weltkrieg mit vielen Toten durch und kidnappten Noriega, um ihn in den USA vor Gericht zu stellen: ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Die USA wollten unbedingt verhindern, dass die Kontrolle über den Kanal wieder in die Hände des souveränen Panama zurückgegeben wurde (Manuel Noriega mit Peter Eisner: America’s Prisoner. The Memoirs of Manuel Noriega, 1997). Für die publizistische Begleitung des Überfalls, genannt ‚Operation gerechte Sache‘, wurde der ‚National Media Pool‘ bei der Invasion Panamas eingerichtet, mit dem die Berichterstattung umgedreht wurde (dazu die Arbeit von Thomas Zimmerling: Die US-Invasion in Panama, 1999/2000).
    7. Erster Afghanistan-Krieg: In Afghanistan war 1978 eine demokratische Regierung an die Macht gekommen, die von den Taliban und anderen bekämpft wurde. Die Regierung rief die Sowjetunion zu Hilfe. Die USA griffen 1981 in den Krieg ein und unterstützten die dortigen Mudschahedin, die sich 1989 durchsetzten und die sowjetischen Soldaten zum Abzug zwangen.
    8. Erster Irak-Krieg: Die USA rüsteten das Regime des Irak unter Saddam Hussein auf. Der Irak begann 1980 einen Bruderkrieg gegen den Iran, der acht Jahre dauerte und ohne Sieger mit einem Waffenstillstand beendet wurde.
  3. Nach dem Ende des Kalten Krieges
    1. Zweiter Irak-Krieg: Saddam Hussein überfiel Kuwait, das durch Schrägbohrungen in ein irakisches Ölfeld ausbleibende Zinsen für Kriegskredite durch direktes Ölabzapfen ausglich. Der Westen intervenierte auf Seiten Kuwaits und besiegte den Irak. 1991 griffen die USA die geschlagene zurückflutende irakische Armee mit Brandbomben an; ein Vorgang, den eine Kommission unter Vorsitz des früheren US-Justizministers Ramsey Clark als Kriegsverbrechen einstufte.
    2. Projekt for the New American Century (PNAC): Das PNAC wurde 1997 von William Kristol und Robert Kagan gegründet. William Kristol ist Neo-Konservativer, der sich leidenschaftlich für Israel einsetzt und für die militärisch gestützte Hegemonie der USA sowie für die umfassende Revision des Völkerrechts eintritt. Weitere Gründer sind Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz, Richard Perle, John Bolton. Man muss sich sein Manifest ansehen (Wikipedia), empfehlenswert ist die englische Version: Es ist die Proklamation einer US-Weltherrschaft, gestützt auf militärische Macht. Der Irak-Krieg wird angekündigt. Geradezu herbeigefleht wird ein großes Ereignis wie Pearl Harbor, von dem sich der PNAC einen Aufbruch verspricht. Viele sehen darin eine Vorwegnahme von 9/11 (vgl. dazu Jochen Bölsche, Der Krieg, der aus dem Think Tank kam, Spiegel online vom 04.03.2003). Am 26.01.1998 forderte das PNAC in einem Brief an „Mister William Clinton“ den damaligen US-Präsidenten zu einem Sturz Saddams und zu einer radikalen Umkehr im Umgang mit der UNO auf.
    3. Präsident George W. Bush: Bush, Sohn von George H. W. Bush, der von 1976 bis 1977 Direktor der CIA war, war von 2001 bis 2009 der 43. Präsident der Vereinigten Staaten. Ins Amt kam er mit einer Mehrheit von 537 Stimmen in Florida.
      Er berief die maßgeblichen Strategen des PNAC in seine Regierung: Dick Cheney wurde Vizepräsident, Lewis Libby Cheneys Stabschef, Donald Rumsfeld Bushs Verteidigungsminister, Paul Wolfowitz Rumsfelds Stellvertreter, John Bolton wurde Staatssekretär für Rüstungskontrolle, Richard Armitage stellvertretender Außenminister, Richard Perle, einst Vize-Verteidigungsminister unter Ronald Reagan, Chef des American Defense Policy Board, William Kristol, der PNAC-Vorsitzende, beriet Bush und galt als das „Hirn des Präsidenten“.
    4. Der zweite Afghanistan-Krieg: Bush begann nach 9/11 die ‚Operation Enduring Freedom‘ (OEF) gegen Afghanistan: völkerrechtswidrig, weil Afghanistan die USA nicht angegriffen hatte. Aber der Afghanistan-Krieg war der schon vom PNAC konzipierte Beginn des „Krieges gegen den Terror“; einer völkerrechtswidrigen Kriegsstrategie, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die USA anmaßen, Krieg gegen einen Staat oder eine Gruppierung zu führen, die sie zuvor einseitig als ‚terroristisch‘ bezeichnet haben: Damit wird ein militärisches Interventionsrecht beansprucht (Bush-Doktrin).
    5. Die ‚Farben-Revolutionen‘: Die öffentliche Kritik an den von der CIA gesteuerten Interventionen nahm ständig zu. CIA-Abtrünnige und Whistleblower wie L. Fletcher Prouty und Victor Marchetti hatten Einzelheiten zur verdeckten CIA-Finanzierung internationaler Studentenorganisationen veröffentlicht. Sie waren als ehemalige CIA-Angehörige oder -kenner in hohem Maße glaubwürdig. Oliver Stone, berühmter Regisseur, setzte Prouty ein Denkmal als Mr. X in seinem Kennedy-Film. Das führte zur Einsetzung der Rockefeller-Kommission, die die CIA auf rechtswidrige Aktivitäten hin untersuchen sollte. Die brisantesten 86 Seiten des Reports wurden allerdings von Dick Cheney vernichtet, damals Stabschef des Weißen Hauses. Als Ausweg gründeten CIA-Direktor Casey und Helfer eine Organisation, die sie ‚National Endowment for Democracy‘ (NED) nannten.

      Das NED, unterstützt von den Soros-Stiftungen, finanzierte und bildete NGOs aus, deren Aufgabe es war, ausgehend von durchaus berechtigten Protestbewegungen Umstürze zu organisieren; so etwa Otpor (Serbisch: Widerstand). Sie war eine studentische Oppositions-NGO, die von Washington erschaffen und nach Serbien hineingetragen wurde. Sie konnte schließlich den Sturz von Slobodan Milošević erreichen. Sogar Kriege wie die in Bosnien waren provoziert: „Der Krieg in Bosnien war in jeder Hinsicht ein amerikanischer Krieg. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat ihn angestiftet, am Laufen gehalten und ein frühes Ende verhindert“ (Sir Alfred Sherman, Berater von Premierministerin Margaret Thatcher).

      Auch die ‚Orangene Revolution‘ in der Ukraine, die ‚Rosen-Revolution in Georgien oder die ‚Tulpen-Revolution‘ in Kirgisien verliefen nach diesem Muster.

      Näheres kann man nachlesen im SPIEGEL („Die Revolutions-GmbH“, erschienen am 14.11.2005, Einleitung: „Wie macht man eine Revolution? Was in Jugoslawien 2000 passierte, in Georgien 2003, in der Ukraine 2004, wirkte wie ein spontaner Volksaufstand gegen Autokraten. In Wahrheit war vieles sorgfältig geplant – von Studentenführern und ihren vernetzten Organisationen. Sie scheuten auch amerikanische Hilfe nicht. Welches Regime wird ihr nächstes Opfer?“). Die Abläufe im Einzelnen findet man im Buch von F. William Engdahl: Geheimakte NGOs – Wie die Tarnorganisationen der CIA Revolutionen, Umstürze und Kriege anzetteln, 2017.

    6. Der Krieg gegen Jugoslawien: Zwischen dem 24. März und dem 10. Juni 1999 bombardierte die NATO – besser: die USA – Jugoslawien. Denn die gesamte Zielbestimmung lag in den Händen der US-Amerikaner, was zu Beschwerden der europäischen NATO-Partner führte. ‚Aus Versehen‘ wurde auch die chinesische Botschaft getroffen.

      Auslöser des Krieges war der letztlich militant gewordene Aufstand der ‚Befreiungsorganisation‘ der albanischen Kosovaren UCK, die für ein autonomes, Albanien-orientiertes Kosovo kämpften. Die Bundestagswahl im Herbst 1998 hatten die SPD und die Grünen gewonnen. Die US-Außenministerin Madeleine Albright bestellte den kommenden Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinen kommenden Außenminister Joschka Fischer nach Washington, um sie auf den Krieg einzuschwören. Motiv war die Angst Albrights vor den anfänglich auch von Fischer geäußerten Absichten, aus der NATO auszutreten.

      Der Mitgründer des PNAC, Robert Kagan (Ehemann von Victoria Nuland, US-Botschafterin bei der EU), schrieb dazu in seinem Buch Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der Neuen Weltordnung (2003), nur die NATO sei „der Westen“. Sehr kritisch betrachtete Kagan europäische Bemühungen, eine Alternative zur NATO aufzubauen. In der Abwehr dieser Gefahr sah Kagan den wesentlichen Grund für den Jugoslawien-Krieg: Auf dem Balkan hätten keine „nationale Interessen“ auf dem Spiel gestanden. Ein Hauptziel der amerikanischen Intervention sei der Zusammenhalt des Bündnisses gewesen. Eine Rezension ist in den NachDenkSeiten vom 29.10.2015 erschienen.

      Der Krieg gegen Jugoslawien war völkerrechtswidrig, weil eine Ermächtigung des Sicherheitsrates und eine Selbstverteidigungssituation nicht vorgelegen hatten. Der erste deutsche Kriegseinsatz nach 1945 war daher illegal. Die völkerrechtliche ‚Rechtfertigung‘, es habe sich um eine ‚humanitäre Intervention zwecks Verhütung eines Völkermordes‘ gehandelt, war an den Haaren herbeigezogen. Erstens: Die Fakten gaben einen ‚Völkermord‘ nicht her. Zweitens: Die sogenannte ‚humanitäre Intervention‘ war völkerrechtlich nicht anerkannt. Eine Resolution der UN-Generalversammlung von 2005 lässt zwar derartige Interventionen zu, bindet sie aber an die Zustimmung des Sicherheitsrates.

    7. George W. Bush kündigt Ende 2001 den ABM-Vertrag von 1972, um das Raketenabwehrsystem NMD installieren zu können. Der Anti-Ballistic-Missile-Vertrag von 1972 hatte die Funktion, Defensiv-Waffen zu begrenzen, damit kein Land einen nuklearen Erstschlag führen kann, wenn es sich gegen den unweigerlich folgenden Gegenschlag, den Zweitschlag, nicht ausreichend schützen kann. Der ABM-Vertrag war von George H. Bush und Michail Gorbatschow im Jahr 1991 als Teil des START-I-Vertragssystems ausgehandelt worden, nachdem er ursprünglich 1982 von US-Präsident Ronald Reagan initiiert worden war.
    8. Dritter Irak-Krieg: 2003 begann Präsident George W. Bush den Dritten Golf-Krieg; mit der Begründung, Saddam Hussein entwickle Massenvernichtungswaffen. Das stellte sich als Lüge heraus. Der Krieg endete mit der Ermordung Saddam Husseins. Er wird als klar völkerrechtswidrig eingestuft, weil er kein Verteidigungs-, sondern ein Angriffskrieg war und keine zum Krieg ermächtigende Resolution des Sicherheitsrates vorlag.
    9. Spekulation als Massenvernichtungswaffe: Schon 1994 warnte Horst Köhler, damals Präsident des Deutschen Sparkassenverbandes, vor dem Derivat-Handel, der einen GAU auslösen könne.
      Nachdem Bill Clinton mit der Aufhebung des ‚Glass-Steagall Act‘ das Trennbankensystem abgeschafft hatte, kam es zunächst zu einer Fusionswelle, dann zur Internetblase und 2008 zum Zusammenbruch des US-Finanzsystems: Die Bank Lehman Brothers und der größte Versicherungskonzern AIG brachen zusammen; AIG wurde mit Steuergeldern gerettet. In Deutschland ging die IKB, Tochter der KfW, pleite. Sie hatte – wie andere – Zweckgesellschaften in Steuer- und Finanzparadiesen gegründet, deren Ergebnisse in den Bilanzen nicht auftauchten. So wurde die Regulierung umgangen. Mit Goldman Sachs wurde eine der mächtigsten Investmentbanken in den USA verklagt, mit „finanziellen Massenvernichtungswaffen“ gehandelt zu haben (Horst Köhler am 29.04.2010 in München). Sehr interessant: Hans-Peter Martin/Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle (1996), Harald Schumann/Christiane Grefe: Der globale Countdown (2008).
  4. Leitende Merkmale der US-Politik
    1. US-Politik und Völkerrecht: Die USA können durchaus als einer der Begründer des modernen Völkerrechts angesehen werden. Beispiele: Der Völkerbund, die UNO, die Nürnberger Prinzipien. Es gibt aber zahlreiche Beispiele, bei denen es die USA nicht nur ablehnen, neugeschaffenen völkerrechtlichen Regelwerken beizutreten, sondern sie kommen auch ihren rechtlichen Verpflichtungen aus ratifizierten völkerrechtlichen Vereinbarungen nicht nach.

      Beispielsweise verpflichtet der Atomwaffensperrvertrag auch die USA in Artikel VI, „in redlicher Absicht Verhandlungen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung zu führen“. Aber in ihrem Grundsatzdokument zur militärischen Nuklearstrategie vom Januar 2002 legen die USA fest, dass sie für unbegrenzte Zeit über eine schlagkräftige und modernisierte Nuklearstreitmacht verfügen wollen. Seither werden viele Milliarden Dollar in die Modernisierung der US-Atomwaffen gesteckt. Die Beispiele:

      Der Atomwaffensperrvertrag: Mit der Nuclear Posture Review von 2002 ist ein Präventivschlag möglich. Es werden nukleare Gefechtsköpfe entwickelt, die u.a. tief in die Erdoberfläche eindringen können. Die Planungen umfassen nicht nur die Modernisierung der Atomwaffen, sondern auch der Nuklearraketen und Atombomber für die nächsten 50 Jahre.

      Der Vertrag über einen umfassenden Atomteststopp, der ‚Comprehensive Test Ban Treaty‘ (CTBT) wurde zwar von Russland, Frankreich und Großbritannien ratifiziert, von den USA und China aber nicht.

      Der Raketenabwehrvertrag (ABM-Treaty, 1972) wurde von den USA 2003 gekündigt.

      Die Chemiewaffenkonvention wurde zwar von den USA maßgeblich mitentwickelt. Die USA verbanden aber mit der Ratifizierung die Weigerung, sich den Inspektionsbestimmungen der Konvention zu unterziehen. Verdachtsinspektionen sind unmöglich.

      Die Konvention über biologische und toxische Waffen von 1972 wurde von den USA nicht ratifiziert. Sie wenden sich gegen ein rechtsverbindliches Vertragsregime zur Herstellung von Transparenz, haben bereits einen Prototyp für eine Bio-Bombe gebaut und waffenfähigen Anthrax hergestellt.

      Die Konvention über das Verbot von Anti-Personen-Minen von 1997 wurde von den USA nicht ratifiziert (wie auch von Russland u.a.).

      Die UN-Klimarahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll wurden von den USA abgelehnt.

      Die Pariser Klimarahmenkonvention von 2015 wurde von den USA unter Barack Obama zwar unterzeichnet, von Präsident Trump aber gekündigt.

      Dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 traten die USA nicht bei.
      Fazit: Die amerikanischen Politiker stehen der Idee eines Völkerrechtssystems auf vertraglicher Grundlage ablehnend gegenüber. Näheres: Denner/Makhijani/Burroughs (Hrsg.): US-Politik und Völkerrecht, in deutscher Sprache 2004 ediert von IALANA.

    2. „Krieg ist ihr Geschäftsmodell“: Das ist die Überschrift über einem Artikel in Spiegel online vom 12.09.2015 zum Buch von James Risen „Krieg um jeden Preis“ (2015). Risen sagt in dem Interview:

      „Es gibt eine beeindruckend große Gruppe von Leuten, deren Einkommen ausschließlich vom Krieg abhängt. Der Krieg ist ihr einziges Geschäftsmodell.“ 2.000 Privatfirmen lebten inzwischen vom Geschäft mit dem Krieg (vgl. dazu Herbert Wulf: Internationalisierung und Privatisierung von Krieg und Frieden, 2005; „Der Staat nimmt in Kauf, dass sich die Söldner-Unternehmen und ihre Akteure vor Ort weitgehend der öffentlichen Kontrolle entziehen“, Wikipedia).

    3. Die Geheimdienste: Die wichtigsten sind: Central Intelligence Agency (CIA), Auslandsgeheimdienst; Federal Bureau of Investigation (FBI), Spionageabwehr Inland; National Security Agency (NSA), weltweite technische Aufklärung; National Reconnaissance Office (NRO), Satellitenaufklärung; National Geospatial-Intelligence Agency (NGA), geografische Aufklärung. Das sind die wichtigsten von insgesamt 16 US-Geheimdiensten. Die beschäftigen 107.000 Spione. Dafür entstehen jährlich Kosten von 52,6 Milliarden Dollar (2013, Quelle: Washington Post).

      Im weltweiten Spionagenetz Echelon arbeiten die „Five Eyes“ zusammen, Geheimdienste der USA, Großbritanniens, Kanadas, Australiens, Neuseelands. Das System dient zum Abhören und Überwachen von über Satellit geleiteten privaten und geschäftlichen Telefon- und Faxverbindungen und Internetdaten. Zielsetzung: In Deutschland bestanden schon 2007 bis 2013 die Hauptaufgaben der NSA in Wirtschaftsspionage und Überwachung der politischen Führungspersonen (so der Echelon-Ausschuss des Europäischen Parlaments). Im deutschen Bad Aibling stand bis 2004 eine Überwachungsstation. Die Kooperation von NSA und Bundesnachrichtendienst (BND) hieß Eikonal. Frank-Walter Steinmeier, seinerzeit Geheimdienstkoordinator, sagte im Deutschlandfunk: „Es hat zu meiner Zeit keine Kenntnisse gegeben über […] eine derartig umfangreiche Abhörpraxis.“ Gert R. Polli, von 2002 bis 2008 Leiter des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, kommt in seinem Buch Deutschland zwischen den Fronten (2017) zu dem Schluss, „amerikanische Dienste in Europa, allen voran die NSA und die CIA, agierten als Akteure einer Gleichschaltung“, mit dem Ziel, „die politischen Eliten Europas unkritisch transatlantisch und neoliberal auszurichten“: „Eine der langfristigen geopolitischen Zielsetzungen der USA ist die Verhinderung einer Allianz zwischen Europa und Russland“ (Stratfor).

      Polli zeigt in seinem Buch, wie Spionage eingesetzt wird, um die US-Regierung wirtschaftlich und politisch über die Entwicklungen in Europa informiert zu halten. Die damit verbundene Wirtschaftsspionage hat einen für die USA erfreulichen Nebenaspekt: Sie liefert Kenntnisse über verbotene oder gar korrupte Vorgehensweisen europäischer Unternehmen in den USA, die dann zu Milliardenstrafen – etwa gegen die Deutsche Bank – führen können.

    4. Die amerikanische Verfassung ist überholt: Nur die Unabhängigkeitserklärung von 1776 bekennt sich zu den Menschenrechten. Die amerikanische Verfassung von 1787 regelt vor allem die Staatsorganisation mit einem starken Präsidenten und dem Wahlmännersystem, das von Misstrauen gegenüber dem Wahlbürger, aber auch gegenüber der Verwaltung der noch jungen Mitgliedstaaten geprägt war. „Die USA waren und sind kein Kind der Aufklärung, sie sind ein Kind des Kompromisses zwischen Vormoderne und Moderne“ (so der Historiker Michael Hochgeschwender, FAZ vom 12.11.2016).

      Meine These: Die amerikanische Verfassung ist untauglich, die Konflikte der Gegenwart angemessen zu regulieren. Beispiel ist das Wahlmännersystem, das die Einzelstaaten und die Rechtsprechung so pervertiert haben, dass ein nach Stimmen eigentlich unterlegener Kandidat trotzdem Präsident werden kann (Beispiele: George W. Bush, Donald Trump). Auch Richter und Staatsanwälte werden gewählt, mit dem Pferdefuß, dass die Superreichen nicht nur auf den Gesetzgeber und die Exekutive, sondern auch auf die Rechtsprechung irregulären Einfluss nehmen können.

    5. Die USA werden von einer Oligarchie von Superreichen regiert: Der Journalist Markus Feldenkirchen hat in seinem Essay Vereinigte Oligarchen von Amerika (SPIEGEL 36/2015) die folgende These aufgestellt: „Das politische System der USA weist heute in vielem die Wesensmerkmale einer Oligarchie auf, weil eine kleine Zahl an Milliardären nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern auch die Politik bestimmt.“ Auch für den früheren US-Präsidenten Jimmy Carter sind die USA „nur noch eine Oligarchie“; „unbegrenzte Summen an Bestechungsgeldern“ seien Voraussetzung, um in politische Ämter zu gelangen. Beispiele: Trumps Vizepräsident Mike Pence wird seit 2012 von den Koch-Brothers (Vermögen: 149 Milliarden Dollar) unterstützt. Die Kochs nutzen ihr Vermögen, um eine radikale freie Marktwirtschaft in den USA zu verankern. Selbst in die Supreme-Court-Besetzung mischen sie sich ein (Die Zeit, 9. Juli 2018). Näheres Tom Schimmeck: Was kostet die Demokratie? Die Koch-Brüder und der Wahlkampf in den USA, DLF 16.02.2016, Manuskript.
    6. Fazit: Die USA sind keine Demokratie. Ämter sind käuflich. Die Vermögensverteilung ist grotesk ungleich. Der Rechtsstaat funktioniert nur eingeschränkt. Anwälte vertreten Geschädigte vor allem dann, wenn sie mit völlig überhöhten Quoten am Schadensersatz beteiligt werden.

      Außenpolitisch halten sich die USA nicht an das Völkerrecht, sondern vertreten ein opportunistisches Völkerrechtsverständnis. Das war auch unter Obama so, wie sein Drohnenkrieg zeigt. Die Wünsche des militärisch-industriellen Komplexes bestimmten die Rüstung, so Eisenhower. Er brachte folgendes Beispiel: Der National Security Council steigerte den Militäretat um 350 Prozent mit der Behauptung, die Sowjetunion könne die USA mit Atomwaffen in einem Überraschungsangriff in Schutt und Asche legen. Das war reine Spekulation. Dasselbe gilt noch heute: Russland hat einen Militäretat von 66 Milliarden Dollar, allein die USA das Zehnfache davon, alle NATO-Staaten zusammen das Zwanzigfache. Trotzdem simuliert die NATO in riesigen Manövern die Verteidigung gegen einen Angriff Russlands, obwohl der reiner Irrsinn wäre.

  5. Die friedenspolitische Rolle Russlands und der Sowjetunion
    1. Die Haager Friedenskonferenzen wurden aufgrund der Anregung des russischen Zaren Nikolaus II. und auf Einladung der niederländischen Königin Wilhelmina 1899 und 1907 in Den Haag einberufen und sollten der Abrüstung und der Entwicklung von Grundsätzen für die friedliche Regelung internationaler Konflikte dienen. Vorgesehen war eine obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit, die aber zunächst an Deutschland scheiterte. Dennoch kam es zur Errichtung des Schiedsgerichtshofs in Den Haag. Fortsetzungskonferenzen scheiterten wegen des Ersten Weltkriegs. Erst der Völkerbund brachte die gerichtliche Lösung internationaler Streitfragen voran. Sein Rat wurde mit dem Entwurf eines Planes zur Errichtung eines ständigen internationalen Gerichtshofs betraut, der auch Gutachten erstatten können sollte.
    2. Russland hat nicht den Ersten Weltkrieg ausgelöst: Deutschland und Österreich/Ungarn standen 1914 der ‚Entente Cordiale‘ gegenüber, die vor allem durch deutsche Aufrüstungsmaßnahmen wie das Flottenprogramm zustande gekommen war, das als Bedrohung der englischen Seeherrschaft verstanden wurde. Dazu kamen eindeutige Verabredungen wie französische Kriegskredite an Russland oder der russisch-serbische Beistandspakt.
      Am Ende der Juli-Krise 1914, ausgelöst durch den Mord am österreichischen Thronfolger in Sarajevo, stand die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien vom 28. Juli 1914. Unmittelbar danach begannen österreichische Kanonenboote ab 1 Uhr nachts von der Donau aus die Bombardierung Belgrads. Russland ordnete die Teilmobilmachung an. Aber zugleicht erreichte den deutschen Kaiser ein Telegramm des Zaren mit dem folgenden Vorschlag: „Es wäre gut, das österreich-serbische Problem der Haager Konferenz zu übermitteln“; sie war durch die Zweite Haager Konferenz von 1907 eingerichtet worden, der sowohl die Staaten der Entente Cordiale als auch Russland und Preußen zugestimmt hatten. Der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg lehnte ab. Auch zwei weitere Versuche des Zaren gegenüber Kaiser Wilhelm II, einen Krieg zu vermeiden, blieben ohne Erfolg.

      Aber die deutsche Propaganda, die die wahren Abläufe verschwieg, schob Russland die Kriegsschuld zu. Darauf fiel sogar die SPD-Fraktion im Reichstag herein, die die Kriegskredite mit bewilligte, obwohl sie wenige Tage vorher noch das „verbrecherische Treiben der Kriegshetzer“ in Deutschland und Österreich-Ungarn angeprangert hatte.

      Denn am 3. August 1914 legte der Reichskanzler dem Reichstag eine Denkschrift vor, in der fälschlich behauptet wurde, russische Truppen hätten am Nachmittag des 1. August die Grenzen überschritten: die Kriegsschuldlüge. Es war daher kein Wunder, dass viele Sozialdemokraten die Kriegskredite mit bewilligten, auf Basis der Auffassung, der Krieg gegen Russland sei der ‚Heilige Krieg‘ der deutschen Sozialdemokratie. Aber es bildete sich eine kriegskritische Abgeordnetengruppe, die im April 1917 die USPD gründete. Zu ihr gehörte Karl Kautsky. Er veröffentlichte im Jahr 1919 sein Buch Wie der Weltkrieg entstand. Da kann man die richtigen Abläufe nachlesen.

    3. Brest-Litowsk: Trotz gewaltiger russischer Opferzahlen diktierte das Deutsche Reich Russland im Jahr 1918 in Brest-Litowsk einen Gewaltfrieden ohne Kompromisse, setzte seinen Eroberungszug im Osten unvermindert fort – und verlor den Krieg trotzdem.
    4. Besetzung Russlands durch die USA 1918-1920: Im Sommer des Jahres 1918 befanden sich etwa 13.000 amerikanische Soldaten auf dem Gebiet der neu gegründeten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). Zwei Jahre und tausende von Todesopfern später zogen die amerikanischen Truppen ab, nachdem sie ihre Mission, den bolschewistischen Staat schon „bei der Geburt zu erwürgen“ (Winston Churchill, The Second World War, Band IV, 1951), verfehlt hatten.

      In den USA begann ein antikommunistischer Propagandafeldzug. Im Februar und März 1919 hielt der Rechtsausschuss des US-Senats Anhörungen ab, in denen viele Bolschewisten-Schauergeschichten vorgestellt wurden:

      „Unter dem Strich war das Ergebnis dieser Anhörungen […] ein Bild von Sowjetrussland, wonach dieses eine Art von Tollhaus war, das von elenden Sklaven bewohnt war, welche auf Gedeih und Verderb einer Organisation von Amokläufern ausgeliefert waren, deren Absicht es war, alle Spuren der Zivilisation zu beseitigen und das Land in die Barbarei zu führen“ (Frederick L. Schuman: American Policy Toward Russia Since 1917, 1928).

    5. Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt 1939: Der Krieg gegen die Sowjetunion gehörte zu den festen Absichten Adolf Hitlers („Lebensraum im Osten“). Die Sowjetunion versuchte daher, Bündnisse mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien zustande zu bringen, aber erfolglos. Auch der Franco-Putsch in Spanien, den die faschistische Legion Condor unterstützte, fand keinen Widerstand durch westliche Mächte. Stalin ist aber vorzuwerfen, dass er auf das Angebot Hitlers in einem geheimen Zusatzvertrag einging, Polen aufzuteilen. Schon vor Beginn des ‚Blitzkrieges‘ ordnete Hitler am 18. Dezember 1940 an: „Die deutsche Wehrmacht muss darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“ (Fall Barbarossa). Der Ausgang des Krieges ist bekannt.
    6. KSZE: Schon vor ihrer eigentlichen Gründung beschloss der Warschauer Pakt in Bukarest 1966 in der ‚Deklaration über die Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa‘ den Vorschlag der Einberufung einer ‚Konferenz über Fragen der europäischen Sicherheit‘. Sie sollte zur Auflösung der bestehenden Allianzen beitragen und die USA – als nicht-europäischen Staat – aus Europa verdrängen. 1967 wurde in der ‚Karlsbader Erklärung‘ die Errichtung eines Systems zur kollektiven Sicherheit beschlossen.

      Am 1. August 1975 wurde die KSZE-Schlussakte in Helsinki unterschrieben. In ihr verpflichteten sich die Staaten

      • zur Unverletzlichkeit der Grenzen,
      • zur friedlichen Regelung von Streitfällen,
      • zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten,
      • zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

      Die USA bestanden auf der Mitwirkung, obwohl es um „Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ ging.

    7. Charta von Paris: Auf dem KSZE-Gipfeltreffen vom November 1990 wurde der Ost-West-Konflikt auf der normativen Ebene beendet. Mit der Charta von Paris wurde ein grundlegendes internationales Abkommen über die Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Einstellung der Ost-West-Konfrontation geschaffen. Sie wurde am 21.11.1990 beschlossen, auch hier wieder unter Einschluss der USA und Kanadas. In Paris wurde auch der ‚Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa‘ (KSE-Vertrag) von 22 Regierungschefs der NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten unterzeichnet. „Einer der stärksten Befürworter dieser neuen Weltordnung war Michail Gorbatschow“ (OSZE-Magazin 4/2010).
    8. Die polnische ‚Schocktherapie‘, Vorläufer der russischen, wurde ausgedacht in den USA: Die polnische Gewerkschaft Solidarność entstand 1980 aus einem Streik heraus. Lech Wałęsa übernahm 1981 den Vorsitz. Der aus Polen stammende Papst Johannes Paul II. unterstützte Solidarność. Wałęsa erhielt 1983 den Friedensnobelpreis. Da die USA Polen als den ‚weichsten‘ Staat im Ostblock ansahen, erhielt Solidarność vom größten amerikanischen Gewerkschaftsbund AFL-CIO, der CIA und der NED großzügige staatliche Zuwendungen, die die Anwerbung von zehn Millionen Mitgliedern möglich machte. Die US-Nähe zeigte sich daran, dass 1985 von Senator Kennedy die Solidarność-Foundation in den USA gegründet wurde. Wałęsa beauftragte die beiden Juristen Jarosław und Lech Kaczyński, mit den Vorsitzenden der polnischen Blockparteien über die Bildung einer nichtkommunistischen Koalitionsregierung zu verhandeln. Das Vorhaben gelang mit der Wahl von Tadeusz Mazowiecki zum Ministerpräsidenten Polens. Ende 1990 wurde Wałęsa zum Staatspräsidenten gewählt.

      Polen hatte sich bereits seit den 1970-er Jahren bei westlichen Banken verschuldet, die bis Mitte der 1980-er Jahre 50 Milliarden Dollar ausmachten, beinahe zwei Drittel des polnischen BIP. Als dann die jahrzehntelange staatliche Preiskontrolle aufgehoben wurde, schnellte die Inflation 1989 auf 250 und 1990 auf 585 Prozent, während das gesamtwirtschaftliche Einkommen gleichzeitig absank. Polen stand wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand. Dem 34-jährigen Harvard-Ökonomen Professor Jeffrey David Sachs und dem mit ihm kooperierenden Spekulanten George Soros gelang es unter Übernahme der von Milton Friedman und den ‚Chicago-Boys‘ entwickelten ‚Schocktherapie‘ – 1973 in Chile angewandt –, Ministerpräsident Mazowiecki und seinen Finanzminister Leszek Balcerowicz für einen direkten Übergang in den freien Markt zu gewinnen (‚Balcerowicz-Plan‘).

      Aber unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer entstand dadurch eine wirtschaftliche Katastrophe: Der Regierung war es untersagt, bei der polnischen Nationalbank Geld drucken zu lassen, um Haushaltslöcher zu stopfen. Das erzwang radikale Einsparungen, die zu Arbeitslosigkeit führten. Zugleich wurden 90 Prozent der staatlichen Preiskontrollen beendet, so dass die Preise explodierten. Das führte zu einer katastrophalen Senkung des Lebensstandards der Bevölkerung. Die polnische Regierung war gezwungen, die staatseigenen Kronjuwelen zu privatisieren. Die riesige Stahlfabrik Huta Warszawa im Wert von drei bis vier Milliarden US-Dollar wurde für 30 Millionen Dollar an den italienischen Konzern Lucini verkauft. Die polnische Industrieproduktion brach weitgehend zusammen, an ihre Stelle trat allmählich eine Dienstleistungswirtschaft. Rückwirkend wurde der ‚Balcerowicz-Plan‘ daher als Erfolg eingestuft, allerdings auch wegen zahlreicher ausländischer Investitionen.

    9. Gorbatschow, Jelzin und die russische Staatspleite: Der russische Präsident Michail Gorbatschow hatte zwar außenpolitische Erfolge, als er 1987 mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan den INF-Vertrag zur Abrüstung der in Europa aufgestellten nuklearen Mittelstreckenraketen abschließen konnte. Gorbatschow beendete den Kalten Krieg und ermöglichte die deutsche Wiedervereinigung, die zum Zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 führte. Gorbatschow erhielt dafür 1990 den Friedensnobelpreis.

      Sein politisches und wirtschaftliches Reformprogramm Perestroika, das den Unternehmen finanzielle Selbstverantwortung gab und ausländischen Unternehmen die Beteiligung an sowjetischen mit höchstens 49 Prozent erlaubte, führte aber zu großen Schwierigkeiten. Vor allem hatte Gorbatschow den Sowjetbürgern 1987 den Besitz von Dollars erlaubt. Praktisch über Nacht wuchs ein riesiger Schwarzmarkt für Dollars heran, während der Rubel in der Sowjetunion de facto wertlos wurde.

      Die Wirren nutzte der KGB-General Philipp Bobkov, der sich selbst als Erfinder der Perestroika gerierte, und unterstützte den Aufstieg von Michail Chodorkowski, Roman Abramowitsch, Boris Beresowski und Alexander Kunanykhin zu Oligarchen. Typisch ist der Aufstieg von Chodorkowski: Er gründete nach einem Chemiestudium mit 24 Jahren das Zentrum für wissenschaftlich-technisches Schöpfertum der Jugend-Stiftung für Jugendinitiative (NTTM), eines auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhenden Komsomol-Unternehmens. 1989 übernahm Chodorkowski den Vorsitz der Kommerziellen Innovationsbank für wissenschaftlich-technischen Fortschritt, die eine der ersten Privatbanken Russlands war. Die Bank kaufte 1990 die Firma NTTM und benannte sie in Menatep-Invest um, die als Bank agierte und rasch größer wurde. Die anderen ‚Oligarchen‘ hatten ähnliche Aufstiege.

      Am 14.03.1990 wurde Gorbatschow zum Staatspräsidenten der UdSSR gewählt. Im August 1991 kam es zu einem Putsch gegen ihn. Aber dem im Juni 1991 neugewählten Präsidenten der russischen Sowjetrepublik (RSFSR), Boris Jelzin, gelang es, die Putschisten auszuschalten und damit die Staatsgewalt zu übernehmen. Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion zurück.

      Jelzins Finanzminister Jegor Gaidar und seine Berater Anatoli Tschubais, Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs, George Soros und vor allem Wladimir Potanin entwickelten das System der ‚Coupon-Privatisierung‘: Gaidar und Potanin orientierten sich an dem polnischen ‚Schocktherapie‘-Modell. Als Leiter des staatlichen Komitees zur Verwaltung des Staatsvermögens gab Tschubais 150 Millionen
      ‚Vouchers‘ (Privatisierungsschecks oder -Coupons) heraus, für jeden einzelnen russischen Bürger. Jeder konnte dann seinen ‚Voucher‘ in die Aktien eines russischen privatisierten Staatsbetriebes oder Warenhauses investieren. Da die meisten Russen aber über keinerlei Bargeld verfügten, verkauften sie ihre ‚Vouchers‘ gegen Bargeld – und vor allem an die Oligarchen. So wurden der weltgrößte Nickelbetrieb, einige der weltgrößten Öl- und Gaskonzerne wie Sibneft und Gazprom und RUSAL, der weltweit größte Aluminiumhersteller, privatisiert. Michail Chodorkowskis Menatep-Bank konnte für 310 Millionen Dollar 78 Prozent Anteile an der Ölfirma Jukos erwerben, die aber einen wahren Wert von etwa fünf Milliarden Dollar hatte. In ähnlicher Weise ersteigerte Boris Beresowski den Ölgiganten Sibneft, dessen Wert bei drei Milliarden US-Dollar lag, für nur 100 Millionen.

      1995 wurde der Voucher-Aufkauf von staatlichen Unternehmen durch ausländische Investoren verboten. Ausnahme: Der Harvard-Fonds, die Harvard-Management-Company (HMC) und George Soros, der Harvard-Professor Sachs als Berater von Tschubais ins Spiel gebracht hatte, konnten als ‚Belohnung‘ für ihre Beratung die Aktienmehrheit bei MLMK, Russlands zweitgrößtem Stahlwerk, und bei der Ölfirma Sidanko erwerben, deren geschätzte Ölreserven die von Mobil Oil überstiegen.

      1993 wurde eine Volksabstimmung mit Fragen zu Jelzins Wirtschaftspolitik durchgeführt. Die Oligarchen und Soros unterstützten die Volksabstimmungskampagne zu Jelzins Gunsten. Sie ging in seinem Sinne aus. Auch die Wiederwahl von Jelzin im Jahr 1996, die zunächst aussichtslos schien, wurde von Soros und den Oligarchen unterstützt. Jelzin gewann mit 54 Prozent.

      Der IWF hatte 1995 einen Kredit über 10,2 Milliarden Dollar an die Regierung Jelzin gegeben. Im Jahr 1998 flossen Milliarden von Dollars nach Russland; ein Vorgang, der zu einer Rubelkrise führte. Die russische Industrieproduktion war fast auf die Hälfte abgesunken, und die Armut der Bevölkerung von zwei auf über 40 Prozent geklettert. Ein Gastkommentar von Soros in der Londoner Financial Times löste einen panischen Ausstieg aus rubelbasierten Anleihen und russischen Aktien aus. Der Rubel war nichts mehr wert. Die kurzfristigen Schulden beliefen sich auf 20 Milliarden Dollar, mit einem ausländischen Anteil von 6,5 Milliarden.

      Die russische Regierung wollte den Rubel abwerten. Dessen Anbindung an den US-Dollar war kurz zuvor aufgehoben worden. Die Freigabe des Wechselkurses führte zu einem Wertverlust des Rubel von 60 Prozent. Der Schuldendienst der Geschäftsbanken konnte nicht mehr bedient werden. Ein Großteil musste Insolvenz anmelden. Das wieder spielte den Oligarchen in die Hände, die die wichtigsten Banken des Landes übernahmen.

    10. ‚Schocktherapie‘ in Russland misslungen: Zwischen 1991 und 1997 schrumpfte das russische BIP um 83 Prozent. Allein die Agrarproduktion brach um 63 Prozent ein, die wirtschaftlichen Investitionen ließen um 92 Prozent nach. Über 70.000 Fabriken wurden geschlossen; 13 Millionen Menschen verloren ihre Arbeit.

      An dieser Entwicklung hatten die USA mitgewirkt. Näheres: F. William Engdahl: Geheimakte NGOs, 2017.

    11. Putin kommt an die Macht: Am 10. August 1999 entließ Jelzin Ministerpräsident Sergei Stepaschin und ersetzte ihn durch Wladimir Putin, einen unbekannten KGB-Offizier, der die Zeit des Kalten Krieges in Dresden verbracht hatte. Für ihn sprach, dass er am Tag nach dem Putsch gegen Gorbatschow mit Blick darauf, dass der KGB-Vorsitzende am Putsch beteiligt war, aus dem KGB ausschied.

      Jelzin trat am 31.12.1999 zurück und ernannte Putin bis zu den Wahlen im März 2000 zum amtierenden Präsidenten.

    12. Putin arrangiert sich mit den Oligarchen: Nach seinem Wahlsieg im Juni 2000 berief Putin die 18 mächtigsten Oligarchen in den Kreml ein. Er machte ihnen klar, dass er Loyalität zum Staat erwartete. Chodorkowski, der zuvor den Ölkonzern Jukos gekauft hatte, hielt sich nicht daran. Daraufhin wurde in 2003 ein Steuerstrafverfahren gegen ihn eingeleitet und er wurde verurteilt. Jukos wurde zerschlagen und stellte den Betrieb ein.
    13. Putin spricht 2001 im Bundestag: Putin hielt am 25. September 2001 vor dem Deutschen Bundestag eine Rede, in der er bekräftigte, Russland verstehe sich als europäisches Land, und warb für Gorbatschows Vision vom „Aufbau des europäischen Hauses“. Ein Hauptziel sei „der stabile Frieden auf dem Kontinent […] Wie bekannt, haben wir den Vertrag über das allgemeine Verbot von Atomtests, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, die Konvention über das Verbot von biologischen Waffen sowie das START II-Abkommen ratifiziert. Leider folgten nicht alle NATO-Länder unserem Beispiel.“ Am Schluss der Rede bekannte er: „Wir sind natürlich am Anfang des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft und einer Marktwirtschaft. […] Aber abgesehen von den objektiven Problemen und trotz mancher – ganz aufrichtig und ehrlich gesagt – Ungeschicktheit schlägt unter allem das starke und lebendige Herz Russlands, welches für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet ist.“ Das Protokoll vermerkt: „Die Abgeordneten erheben sich.
    14. Die NATO-Umzingelungsstrategie: Gorbatschow schenkte Deutschland im Jahre 1990 die Einheit. Er stimmte sogar zu, dass das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein könne. Die Bedingung war, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehne, was beispielsweise von dem damaligen deutschen NATO-Generalsekretär Wörner, von US-Außenminister James Baker und seinem deutschen Kollegen Hans-Dietrich Genscher auch versprochen wurde (Der Spiegel 48/2014). Ein Teil dieser Abmachung war, dass „ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger“ im Beitrittsgebiet „weder stationiert noch dorthin verlegt“ werden dürften, wie es in Artikel 5 Abs. 3 des 2+4-Vertrages 1990 heißt.

      Aber: Die NATO hielt sich nicht daran. Sie löste sich nicht nur nicht auf wie der Warschauer Pakt, sondern dehnte sich nach Osten aus. Bereits auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurde auf Betreiben der USA den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn die Mitgliedschaft angeboten, die am 12. März 1999 der NATO beitraten, wenige Tage vor Beginn der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO, unter deutscher Beteiligung.

      Im November 2002 erhielten auf dem NATO-Gipfel in Prag Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien die Einladung zu Verhandlungen über einen NATO-Beitritt, und am 29. März 2004 traten diese neuen Länder der NATO bei. Beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 wurde der Beitritt Albaniens und Kroatiens beschlossen und am 1. April 2009 vollzogen. Der Ukraine und Georgien wurde der Beitritt in Aussicht gestellt, nachdem der ukrainische Außenminister Arsenij Jazenjuk im Januar 2008 in Bukarest um die Aufnahme in die NATO ersucht hatte. Angela Merkel verhinderte das im letzten Moment. Aber die Umzingelung Russlands war damit weitgehend gelungen.

    15. Putin-Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007: In seiner Rede prangerte Putin das zweierlei Maß des Westens an: „Ich habe jedenfalls verstanden, dass die Anwendung von Gewalt nur dann als legitim gilt, wenn sie auf der Grundlage einer Entscheidung der NATO, der EU oder der UNO basiert.“ Er zählte die mit den USA vereinbarten Abrüstungsverträge auf, machte aber darauf aufmerksam, dass beispielsweise der INF-Vertrag keinen „universellen Charakter“ erhalten habe: „Die Koreanische Volksdemokratische Republik, die Republik Korea, Indien, Iran, Pakistan, Israel“ hätten solche Waffen. Und vor allem sagte er: „Die NATO-Erweiterung ist ein provozierender Faktor.“ Er erinnerte an die Zusagen, die der Sowjetunion anlässlich des Zwei-Plus-Vier-Vertrages gegeben wurden, und sprach die Zusammenarbeit in WTO und OSZE an. Aber seine Analyse ist in ihrer Offenheit schonungslos. Im Westen überwogen die kritischen Kommentare.
    16. Die Rolle Polens: Eine besondere Rolle in der NATO-Umzingelungsstrategie spielt Polen und dabei Radosław Sikorski. 1992 wurde Sikorski stellvertretender Verteidigungsminister. Von 1998 bis 2001 war er stellvertretender Außenminister. Nachdem die USA nach 9/11 um Beteiligung an der Operation Enduring Freedom (OEF) baten, befürwortete Sikorski die Beteiligung, die im März 2002 auch begann. Ab 2002 arbeitete Sikorski als Direktor der New Atlantic Initiative im konservativen American Enterprise Institute (AEI) in Washington. Das AEI finanziert sich durch Spenden. Unter seinen 50 sogenannten Fellows befinden sich auch zahlreiche Vordenker des amerikanischen Neokonservatismus, wie etwa Richard Perle, Cheney und Irving Kristol.

      Nachdem Sikorski im November 2007 Außenminister im Kabinett Tusk wurde, unterstützte er die Stationierung von NATO-Truppen in Polen und anderen Staaten Mittel-Ost-Europas sowie die Positionierung von US-Raketenabwehrsystemen in seinem Land. Am 20.8.2008 unterzeichneten die US-Außenministerin Condoleezza Rice und Sikorski das Abkommen über die Stationierung von US-Luftabwehrraketen in Polen. Im Februar 2010 wurde bekanntgegeben, dass die amerikanischen Patriot-Raketen nur etwa 100 Kilometer von der Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad entfernt aufgebaut werden sollten. Ferner wurde bekanntgegeben, dass das Raketenabwehrsystem „zum Schutz Europas“ auf Rumänien ausgedehnt werde.

      Sikorski engagierte sich auch für den Umsturz in der Ukraine. Nach einem Artikel in der polnischen linken Wochenzeitung Nie (Neun) vom 18. April 2014 hatte Sikorski im September 2013 86 Mitglieder des Rechten Sektors nach Warschau eingeladen, angeblich als Teil eines Programms zur Zusammenarbeit zwischen Universitäten. Tatsächlich erhielt der Rechte Sektor vier Wochen intensives Training in der Technik des Putsches, einschließlich des Einsatzes von Scharfschützengewehren.

    17. Der Maidan: Nachdem das ukrainische Parlament am 16. Januar Gesetze zur Eindämmung der Proteste auf dem Maidan erlassen hatte, kam es schon in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar zu Gewalt, an ihrer Spitze der Rechte Sektor. Am Morgen des 20. Februar schossen Scharfschützen wohl aus dem Hotel Ukraine und aus dem Konservatorium, beide in der Hand des Rechten Sektors (Der Freitag, 19.02.2015), sowohl auf Oppositionelle als auch auf Demonstranten. Rund 80 Menschen starben. Auch der estnische Außenminister Urmas Paet äußerte in einem abgehörten Telefongespräch mit der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton den Verdacht, das Maidan-Lager habe selbst Scharfschützen engagiert (t-online vom 07.03.2014). Die Journalistin Ann-Dorit Boy schilderte diese Abläufe in der FAZ vom 24.2.2014 unter der Überschrift „Die Extremisten vom Maidan“, die nach Aussage ihres Anführers Dmytro Jarosch schon Ende Januar „die Verantwortung für den ‚revolutionären Prozess‘ übernommen“ hatten.

      Am 21. Februar schlug eine Vermittlungsmission der EU unter der Führung des deutschen, französischen und polnischen Außenministers unter Teilnahme eines Abgesandten der russischen Regierung ein Abkommen vor, nach dem die alte Verfassung von 2004 wiederhergestellt, eine
      Regierung der nationalen Einheit gebildet, die Polizei und die bewaffneten Demonstranten zurückgezogen und vorgezogene Neuwahlen durchgeführt werden sollten.

      22. Aber einen Tag nach der Unterzeichnung dieses Kompromissabkommens kam alles anders. Am 22. Februar wurde in Kiew ein Putsch durchgeführt. Der Rechte Sektor besetzte das Parlament und übernahm die Kontrolle in Kiew. Bei der Abstimmung wurde Präsident Wiktor Janukowytsch abgesetzt. Der Abgeordnete Olexander Turtschinow wurde zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Das Parlament wählte den Vorsitzenden der ‚Vaterlandspartei‘, Jazenjuk, zum Ministerpräsidenten. Diese Machtübernahme war illegal, weil die für die Neuwahl eines Staatspräsidenten in der Verfassung vorgeschriebene Dreiviertelmehrheit nicht erreicht wurde. Ludger Volmer, ehemaliger Staatssekretär im AA, bezeichnete diesen Regierungswechsel als „klaren Putsch” (Deutschlandfunk, 25.06.2015).

      Der Putsch bewirkte nicht nur den Machtwechsel in Kiew. Er bewirkte auch, dass das Abkommen vom 21. Februar Makulatur wurde. Das kommentiert der Journalist Uwe Klußmann in SPIEGEL-online vom 3.3.2014 wie folgt:

      „Die Folge: Die russische Bevölkerung der Krim erhob sich gegen die Zentralregierung, noch bevor Putin Truppen in Marsch setzte. Die drei westlichen Unterzeichner Steinmeier, Sikorski und Fabius hätten, wenn sie wollten, für ihre Beschwerden wegen Vertragsverletzung einen Adressaten in Kiew: Das Abkommen trägt auch die Unterschrift des jetzigen Premierministers Arsenij Jazenjuk.“

    18. Die Annexion der Krim: Vor diesem Hintergrund erscheint die Annexion der Krim im März 2014 in einem neuen Licht. Russland musste damit rechnen, dass rund um seine in Sewastopol stationierte Flotte NATO-Stützpunkte errichtet würden – machtpolitisch gesehen intolerabel und eine handgreifliche Zuspitzung der Einkreisungspolitik durch die NATO.
      Üblicherweise heißt es, Russland habe in völkerrechtswidriger Weise die Krim annektiert. Der Hamburger Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel kommt zu einem anderen Ergebnis (FAZ vom 08.04.2014):

      „Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte aber Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein; die ukrainische Verfassung bindet Russland nicht. War dessen Handeln also völkerrechtsgemäß? Nein; jedenfalls seine militärische Präsenz auf der Krim außerhalb seiner Pachtgebiete dort war völkerrechtswidrig. Folgt daraus nicht, dass die von dieser Militärpräsenz erst möglich gemachte Abspaltung der Krim null und nichtig war und somit deren nachfolgender Beitritt zu Russland doch nichts anderes als eine maskierte Annexion? Nein.

      […] Was auf der Krim stattgefunden hat, war etwas Anderes: eine Sezession, die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit, bestätigt von einem Referendum, das die Abspaltung von der Ukraine billigte. Ihm folgte der Antrag auf Beitritt zur Russischen Föderation, den Moskau annahm. Sezession, Referendum und Beitritt schließen eine Annexion aus, und zwar selbst dann, wenn alle drei völkerrechtswidrig gewesen sein sollten. Der Unterschied zur Annexion, den sie markieren, ist ungefähr der zwischen Wegnehmen und Annehmen. Auch wenn ein Geber, hier die De-facto-Regierung der Krim, rechtswidrig handelt, macht er den Annehmenden nicht zum Wegnehmer. Man mag ja die ganze Transaktion aus Rechtsgründen für nichtig halten. Das macht sie dennoch nicht zur Annexion, zur räuberischen Landnahme mittels Gewalt, einem völkerrechtlichen Titel zum Krieg.“[…]

    19. Georgien, Moldawien, Ost-Ukraine: Für Polen, Balten und Tschechen war klar, dass Russland den Krieg 2008 gegen Georgien begonnen hat. Aber eine Untersuchung der EU hat klargestellt, dass der Krieg von Georgien begonnen wurde (FAZ vom 30.09.2009). Allerdings war auch das Verhalten Russlands angreifbar, dass den Bewohnern der abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien russische Pässe ausgehändigt hatte. Russland hat an der Aufrechterhaltung des Status der abtrünnigen Gebiete Abchasien und Ossetien ein Interesse. Er sei der eines „frozen conflict“, der Beitritt Georgiens zur NATO sei daher unwahrscheinlich, weil sich die NATO andernfalls das Risiko eines kriegerischen Konflikts mit Russland einhandeln würde (FAZ vom 15.10.2018). Ähnlich ist das mit dem Status von Transnistrien, einem abtrünnigen Landesteil der Republik Moldawien, der unter russischem Einfluss steht (zu allem Egbert Jahn: Politische Streitfragen, Band I 2008: Jahn ist Prof. em. für Politikwissenschaft in Frankfurt/Main).

      Hier liegt auch der Grund, warum Russland den Konflikt in der Ost-Ukraine am Köcheln hält. Denn ein NATO-Beitritt der Ukraine würde auch hier die Gefahr eines Krieges herbeiführen. Alle Konflikte wären lösbar, wenn die Beitrittsabsichten zur NATO aufgegeben würden.

    20. Russland als ‚gelenkte Demokratie‘: Schon Jelzin verteidigte den Status Russlands, eines Landes, „das an Zaren und Führer gewöhnt ist“, als „gelenkte Demokratie“. Das sei auch Putins Ansatz, der sich dem Verdacht ausgesetzt sieht, die Opposition zu gängeln (Alexei Nawalny) und für politische Morde verantwortlich zu sein (Litwinenko, Skripal). Auch wenn Kritik berechtigt ist (vgl. etwa die Berichterstattung des Journalisten Julian Hans für die Süddeutsche Zeitung aus Moskau), muss man bei der Würdigung dieser Zustände das geschilderte fragile innen- und außenpolitische Kräfteverhältnis berücksichtigen. Viele deutsche Politiker und Wirtschaftsbosse sind an der Wiederherstellung eines guten Verhältnisses zu Russland interessiert; was auch gelingen kann, wenn man einen realistischen Blick auf die Entwicklung hat.
  6. Fazit
    1. Europa und vor allem Deutschland muss seine Einstellung zu Russland überdenken. Nicht erst seit Trump handeln die USA in großem Umfang völkerrechtswidrig, während Russland sich klar völkerrechtsfreundlicher aufgestellt hat. Trump handelt sowohl wirtschaftlich wie außenpolitisch in hohem Maße aggressiv. Russland kann sich demgegenüber Aggressionen – etwa gegen die baltischen Staaten – gar nicht leisten: Es ist militärisch der NATO auch nicht annähernd ebenbürtig, was am Verhältnis der Militärausgaben deutlich wird.

      Deutschland sollte daher im Sinne des Friedensgebotes des Grundgesetzes als Vermittler zwischen Europa und Russland wirken, was allerdings voraussetzt, dass es seine Rolle grundlegend revidiert. Das sollen diese Ausführungen klarmachen.