Es tut sich was in Ungarn

Es tut sich was in Ungarn

Es tut sich was in Ungarn

Ein Artikel von: Redaktion

Seit zehn Tagen wird Ungarn von einer Protestwelle überzogen. Auslöser war ein von Viktor Orbán eingebrachtes Gesetzespaket, in dem unter anderem die Überstundenregelung dereguliert werden soll. Es ist anzunehmen, dass die großen deutschen Autobauer, die in Ungarn sehr aktiv sind, hier als Ideengeber fungiert haben und Ungarn künftig auch als Druckmittel gegen ihre deutsche Belegschaft ins Feld führen wollen. Marika Varga[*] von der IG Metall hat die Lage für die NachDenkSeiten aus Gewerkschaftssicht zusammengefasst.

Seit dem 8. Dezember gibt es sowohl in der ungarischen Hauptstadt Budapest als auch in mehreren Provinzstädten täglich Demonstrationen oder Autokorsos. Auslöser der Proteste war ein Gesetzesvorschlag zur Flexibilisierung der Arbeitszeit. Ab Januar 2019 sollen pro Jahr bis zu 400 Überstunden pro Jahr möglich sein. Das Problem: Diese Überstunden sind eigentlich keine Mehrarbeitsstunden mit Zuschlägen mehr, die das Einkommen aufbessern, sondern die durchschnittliche Arbeitszeit muss erst im DREI-JAHRES-Zeitraum erreicht werden. Das Argument der Regierung, die Menschen wollen Überstunden machen, um mehr zu verdienen, wird so ad absurdum geführt. Denn die Bezahlung erfolgt – wenn überhaupt – nach drei Jahren. 

Der eigentliche Hintergrund ist ein anderer: In Ungarn wird kräftig investiert, insbesondere von der deutschen Automobilindustrie. Audi produziert dort seit über 20 Jahren, Daimler seit 2012 – ein zweites Daimlerwerk ist im Bau und BMW hat im Sommer 2018 den Bau eines Werkes in Debrecen angekündigt, Opel betreibt ein Komponentenwerk – um nur die bekanntesten zu nennen. Entsprechend siedeln sich Zulieferer und Dienstleister an.

Ungarn ist auch nicht mehr nur verlängerte Werkbank. Die neuen Werke der deutschen Premiumhersteller sollen technisch auf dem neuesten Stand sein und “Maßstäbe der Digitalisierung” setzen (BMW-Homepage). ThyssenKrupp und Bosch zentralisieren Entwicklungsbereiche in Ungarn. Schon lange haben die Menschen die Nase voll davon, für ein Viertel oder ein Drittel des Lohns zu arbeiten, der im Westen bezahlt wird. Entsprechend werden sie inzwischen auch bei ihren Tarifverhandlungen in den Betrieben immer mutiger und erzielen inzwischen in einzelnen Betrieben Lohnerhöhungen bis zu 20 %. 

Indes wählen viele Menschen seit Jahren einen anderen Weg: Sie verlassen das Land oder pendeln nach Österreich, um dort in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft zu arbeiten. Entsprechend herrscht in vielen Bereichen inzwischen ein massiver Mangel an ausgebildeten Arbeitskräften. In einigen Unternehmen der Automobilindustrie hören wir von Fluktuationsraten von bis zu 50 Prozent im Jahr. Das wird nicht nur für die Unternehmen zum Problem, sondern und auch für die Belegschaften, die da bleiben und ständig neue Leute anlernen müssen, und letztlich auch für die gewerkschaftliche Organisierung. Die neu gewonnenen Mitglieder verlassen das Unternehmen oft innerhalb weniger Wochen und gehen meist auch für die Gewerkschaften verloren, weil diese stark auf den betrieblichen Strukturen basieren. In Krankenhäusern, Schulen, Behörden und Dienstleistungsbereichen ist die Lage nicht besser.

Die Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Sie höhlt außerdem die Mindeststandards der EU-Arbeitszeitrichtlinie sowie erkämpfte Tarifstandards in Ländern wie Deutschland aus. Entsprechend vermuten viele Medien und die sogenannte öffentliche Meinung die deutschen Autobauer als Ideengeber für die Änderungen. Sie würden damit in zweierlei Hinsicht profitieren: Eventuell hilft es gegen Arbeitskräftemangel (wobei Zweifel angebracht sind – weil die Arbeitsbedingungen noch weniger attraktiv werden). Mit Sicherheit besteht aber die Möglichkeit, dass über kurz oder lang die EU-Richtlinie an nationale Praxis angepasst wird und dass die Bedingungen in Ungarn als Druckmittel auf Tarifverträge in Deutschland verwendet werden. Schon jetzt lässt sich beobachten, wie Entgeltsysteme, Schichtmodelle, neue Technologien, duale Berufsausbildung in Ungarn eingeführt, weiterentwickelt und getestet werden, ohne dass ein Betriebsrat oder eine Gewerkschaft mitreden könnten. Das sieht das ungarische Arbeitsgesetzbuch nämlich nicht vor. Jegliche Beteiligung müssen sich die Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene Stück für Stück erkämpfen. Die ungarischen Betriebsräte haben keinerlei ernstzunehmende Mitbestimmungsrechte, mit denen sie auch nur eine der Maßnahmen wirksam verhindern könnten. Sie sind mit den deutschen Betriebsräten nicht zu vergleichen. Bereits 2017 hatten FIDESZ-Abgeordnete einen ähnlichen Gesetzentwurf eingebracht, diesen aber nach heftigen Protesten wieder zurückgezogen. Nach der gewonnenen Wahl im April 2018 war damit zu rechnen, dass ein neuer Vorstoß erfolgt.

In Ungarn hat sich viel Wut angestaut. Seit 2015 hält sich Viktor Orbán damit über Wasser, dass er gegen Migration polemisiert – er wurde im April 2018 dafür erfolgreich wieder gewählt. Inzwischen verstehen die Menschen, dass Auswanderung und Migration zwei Seiten derselben Medaille sind und dass die Probleme der Infrastruktur, des Gesundheitswesens, der Schulen, der viel zu niedrigen Löhne nicht dadurch gelöst werden können, dass Zäune an der Grenze gebaut werden.

Ende November wurde der Gesetzesvorschlag erneut eingebracht, die Abstimmung im Parlament sollte am 12. Dezember erfolgen. Bereits am Verlauf der Abstimmung sind erhebliche Zweifel angebracht. Viele Oppositionspolitiker sprechen von technischen Problemen und dass das Gesetz unrechtmäßig zustande gekommen sei. Nun fehlt noch die Unterschrift des Staatspräsidenten. Aber die Regierung verfügt über eine Zweidrittelmehrheit. Die Menschen wissen, dass sie das Gesetz nur über Aktionen verhindern können. Inzwischen hat sich ein breites gesellschaftliches Bündnis gebildet und die Forderungen gehen längst über das sog. Sklavengesetz zur Flexibilisierung der Arbeitszeit hinaus. Es gibt 5 Punkte[**] auf die sich das konzentriert:

  1. Sofortige Rücknahme der so genannten “Sklavengesetze“ (z.B. bis zu 400 Überstunden pro Jahr, die auf drei Jahre gestreckt ausbezahlt werden können)!
  2. Einrichtung einer Obergrenze für die Überstunden für Polizeikräfte in Einklang mit den europäischen Standards!
  3. Wiedereinführung einer unabhängigen Justiz!
  4. Sofortiger Beitritt zur „Europäischen Staatsanwaltschaft“!
  5. Wiedereinführung unabhängiger Medien und ein Stopp des Missbrauchs der staatlichen Medien für Partei-Propaganda!

Die Menschen machen auch die Erfahrung, dass die Medienkonzentration nun dazu führt, dass über ihre eigenen Demonstrationen nicht berichtet wird – Aktionen in der Provinz werden totgeschwiegen. Die Infos verbreiten sich über soziale Medien und über die wenigen unabhängigen Internetportale und Sender, die meist von Budapest aus betrieben werden. Auch wird Oppositionspolitikern der Zugang zum eigentlich öffentlich-rechtlichen TV-Sender verwehrt, damit sie die 5 Punkte nicht öffentlich vortragen können. Sicherheitsdienste im Sender zwingen Parlamentsabgeordnete der Opposition, sich auf den Boden zu legen, als wären sie Terroristen. Die Sicherheitsdienste bekommen ihre Anweisungen aus dem Innenministerium.

Schaut man sich einzelne Videos zu den Demonstrationen an, so lässt sich beispielsweise aus Györ berichten, dass die Menschen sich für Demokratie, Freiheit, europäische Werte aussprechen. Sie fordern auch, dass Polizisten nicht gezwungen werden können, Überstunden zu machen.

Die IG Metall und wichtige Spitzenfunktionär*innen aus Unternehmen, die Standorte in Ungarn haben, haben eine Solidaritätserklärung verfasst. Die Gewerkschaften diskutieren derzeit ihre weitere Strategie in seltener Eintracht. Ein Punkt, der von ungarischen Kollegen derzeit diskutiert wird, ist ein möglicher Generalstreik. Unterdessen tauchen schon Berichte von einzelnen Arbeitnehmern auf, die bereits jetzt ihre Vertragsänderungen im Briefkasten haben. Scheinbar wollen einige Arbeitgeber vollendete Tatsachen schaffen.

Titelbild: Zoltan Galantai/shutterstock


[«*] Marika Varga ist im Bereich Transnationale Gewerkschaftspolitik beim IG-Metall-Vorstand tätig und arbeitet in dieser Tätigkeit auch mit der ungarischen Metallgewerkschaft Vasas zusammen.

[«**] Übersetzung aus dem Englischen:
1. Revoke the ‘so called “slave labour laws” [ie. up to 400 hours of overtime / year paid over 3 years] with immediate effect!
2. Set a cap on overtime for the police forces in line with the European standards!
3. Reinstate the independent judiciary!
4. Join the European Public Prosecutor’s Office immediately!
5. Reinstate independent media and stop using public media for party propaganda!