Julian Assange – Sechseinhalb Jahre nicht an der frischen Luft

Julian Assange – Sechseinhalb Jahre nicht an der frischen Luft

Julian Assange – Sechseinhalb Jahre nicht an der frischen Luft

Ein Artikel von Moritz Müller

Mehrere Leserbriefe (Vielen Dank!) zur Situation, in der sich der Wikileaks-Gründer Julian Assange immer noch befindet, haben mich bewogen, mir letzte Woche, soweit es geht, selbst ein Bild von der Lage in London zu machen. Dort hält sich Julian Assange seit Juli 2012 in zwei Räumen der Botschaft von Ecuador in London auf. Einige Personen halten vor der Botschaft eine Mahnwache ab. Julian Assange ist also nicht ganz vergessen, obwohl man angesichts des bequemen Schweigens des größten Teils seiner Journalisten-Kollegen diesen Eindruck bekommen könnte. Nachfolgend eine Chronologie der Ereignisse und was zu tun wäre. Von Moritz Müller.

Rund 100 Meter von Londons teuerstem und exklusivstem Kaufhaus Harrods weist ein Schild an einem Häusereck auf die Botschaft von Ecuador hin. Hinter diesem Schild sieht man einen kleinen Balkon, die Tür, die nach innen führt, ist angelehnt und die schweren Vorhänge sind zugezogen. Dahinter befindet sich vermutlich Julian Assange. “Vermutlich”, weil man ihn weder sieht noch hört. Die neue Regierung von Ecuador hat Julian Assanges Kommunikation stark eingeschränkt. Wenn er gegen diese Regeln verstößt, droht ihm der Rauswurf aus der Botschaft. Unter dem Schild liegen einige schwarze Müllsäcke. Auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse findet man ein kleines Protestcamp, das Julian Assanges Freund Ciaron O’Reilly hier seit Anfang Dezember rund um die Uhr betreibt. Auch hier einige Müllsäcke, hinter denen Ciaron sein Schlaflager hat. Er selbst ist eine imposante Person mit tiefer Stimme und Rastalocken und festen Überzeugungen, was seine Mahnwache für die Freilassung seines Freundes Julian Assange angeht. Ihm zufolge kennen sie sich aus Australien, wo sie beide aufgewachsen sind.

Erfreulich, dass so ein Protestcamp im Herzen Londons möglich ist, obwohl man sich fragt, ob es sich hier um ein demokratisches Feigenblatt handelt. Ansonsten herrscht ein reger Verkehr von sehr teuren Luxuslimousinen, eigentlich durchgehend mit Chauffeur und betucht aussehenden Insassen. Insgesamt eine sehr surreale Situation, wenn man bedenkt, dass inmitten des ganzen Luxus und Konsums ein Mensch seit Juli 2012 de facto eingesperrt ist.

Auch wenn viele Leser sich wahrscheinlich mit den Fakten auskennen, hier nun einige der Ereignisse, die zu diesem Zustand geführt haben:

3. Juli 1971 Julian Assange wird in Townsville, Australien geboren.
11. September 2001 Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA, bis heute nicht restlos aufgeklärt.
7. Oktober 2001 Angriff einer US-geführten Koalition auf Afghanistan, wo die USA offiziell die Drahtzieher der Anschläge vom 11. September vermuten.
20. März 2003 Angriff einer “Koalition der Willigen” unter Führung der USA und Großbritanniens auf den Irak, mit der Begründung, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen. Diese erweist sich später als nicht zutreffend. Diese Kriege fordern hunderttausende von Todesopfern, hauptsächlich auf Seiten der angegriffenen Staaten. Rund die Hälfte der über 6.000 getöteten US-Soldaten sind unter 25 Jahre alt.
2010 Die von Julian Assange mit gegründete Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlicht tausende von Dokumenten, die sich mit den Kriegen in Afghanistan und Irak und dem US-Gefangenenlager in Guantanamo befassen und die USA und ihre Verbündeten in keinem guten Licht erscheinen lassen.
August 2010 Die schwedische Staatsanwaltschaft erhebt im zweiten Anlauf, nachdem die erste Staatsanwältin keine Untersuchung einleiten wollte, den Vorwurf der sexuellen Nötigung in zwei Fällen gegen Julian Assange und stellt einen internationalen Haftbefehl gegen ihn aus, da er sich mittlerweile in Großbritannien befindet. Julian Assange streitet die Vorwürfe bis heute ab und vermutet ein Komplott der US-Regierung und befürchtet die Auslieferung in die USA, falls er sich nach Schweden begibt.
Juli 2012 Nachdem alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft sind und seine Auslieferung nach Schweden droht, flüchtet sich Julian Assange in die ecuadorianische Botschaft in London und beantragt dort Asyl, das ihm gewährt wird.
Mai 2017 Die Ermittlungen in Schweden werden wegen Verjährung und fehlender neuer Erkenntnisse eingestellt. Da Julian Assange mit seiner Flucht in die Botschaft gegen britische Kautionsauflagen verstoßen hat, droht ihm beim Verlassen der Botschaft weiterhin die Festnahme durch die Londoner Polizei.
März 2018 Die neue Regierung von Ecuador beschränkt Julian Assanges Internet-Zugang sowie Besucherzugang, nachdem er sich öffentlich über die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens und die Inhaftierung des katalanischen Separatisten Carles Puigdemont in Deutschland äußert. Es entsteht der Eindruck, dass Ecuador Julian Assange loswerden möchte und dies durch weitere Auflagen gegen ihn erreichen will.
November 2018 Durch einen Fehler im Justizministerium wird eine geheime Anklage in den USA gegen Julian Assange bekannt. Die englische Zeitung The Guardian berichtet über Treffen von Assange und Donald Trumps Wahlkampfmanager Paul Manafort sowie “Russen” in der Botschaft, kann diese aber nicht beweisen.

Insgesamt ist es sehr schwer, in dieser Geschichte den Überblick zu behalten und es könnte leicht der Eindruck entstehen, dass es sich bei Julian Assange um einen Unsympathen handelt, der sich seine Lage selbst zuzuschreiben hat. Wenn man dann tiefer gräbt, kann man aber auch merken, dass viele der negativen Dinge, die über Julian Assange verbreitet werden, dazu dienen, ihn zu diffamieren. Das sollte aber jeder für sich entscheiden und die in diesem Text genannten Links sollen eine erste Hilfe zur Meinungsbildung sein.

Sicher haben sich Julian Assange und Wikileaks teilweise ungeschickt benommen und auch teils schwerwiegende Fehler gemacht. Richtig und wichtiger ist aber, dass Wikileaks unschätzbare Dienste bei der Aufdeckung von Verbrechen geleistet hat, die von Regierungen begangen wurden. Es ist gegen Julian Assange bis jetzt offiziell keine Anklage erhoben worden und trotzdem lebt er seit achteinhalb Jahren als Gefangener. Dass jetzt eine geheime Anklage der US-Regierung gegen ihn zu existieren scheint, lässt Julian Assanges Behauptung, dass eine Auslieferung an die USA von Anfang an geplant war, plausibel erscheinen.

Wenn Julian Assange nicht freikommt und es den beteiligten Regierungen gelänge, an ihm ein Exempel zu statuieren, würde dies schwerwiegende Auswirkungen auf die Pressefreiheit haben. Denn dann überlegen sich die verbleibenden Enthüllungsjournalisten noch mehr, ob sie Vorgänge untersuchen und ihre Ergebnisse veröffentlichen wollen.

Es ist erstaunlich, dass dies nur sehr wenige Journalisten zu kümmern scheint, wie John Pilger, Chris Hedges oder Glenn Greenwald und einige weitere. Vielleicht haben manche andere, schlechte Erfahrungen mit Wikileaks oder Assange gemacht oder die politische Richtung von Wikileaks ist ihnen ungenehm. Trotzdem sollte sich jeder Journalist, der seinen Beruf ernst nimmt, und nach einer Form von Wahrheit sucht, überlegen, ob er sich in einer vergleichbaren Situation nicht auch die Solidarität seiner Kollegen wünschen würde – egal ob sie mit diesen einer Meinung sind oder nicht. Sechseinhalb Jahre ohne Sonne und einer frischen Brise und eine drohende Auslieferung an die US-Justiz sind kein Pappenstiel.

Im Internet zirkulieren diverse Petitionen für die Freilassung von Julian Assange, aber die sind nicht wirklich empfehlenswert, wenn man sich die Datenschutzrichtlinien der Plattformen wie change.org, oder Diem25 genauer durchliest. Außerdem ist die Wirksamkeit von solchen Internetpetitionen auch eher fragwürdig.

Lieber sollte man individuell seine Solidarität bekunden, indem man an seine Zeitung oder seinen Abgeordneten schreibt oder bei einer eventuellen Reise nach London ein Grußwort bei Ciaron O’Reilly vor der Botschaft von Ecuador, 3 Hans Crescent, London SW1X OLS, UK hinterlässt.

Am letzten Mittwoch gab es dort einige interessierte Passanten, die dies taten. Ein quirliger älterer Herr aus Ecuador begehrt erfolglos Einlass in die Botschaft, um mit Julian Assange zu sprechen. Nachdem er ein sehr freundliches Grußwort geschrieben hat, verabschiedet er sich von uns mit den Worten, dass es ihm peinlich sei, in welchem Zustand er die Welt seinen Nachkommen hinterlasse, während er sie selber als Paradies vorgefunden habe. Ein Iraker klagt vom Fluch des Ressourcenreichtums seines Landes und wünschte Julian Assange die baldige Freiheit, während Vater und Sohn aus Australien zutiefst erstaunt sind, dass er schon seit sechseinhalb Jahren in der Botschaft einsitzt, anstatt der von ihnen geschätzten zwei Jahre. Dies ist wohl auch ein Anzeichen des allgemeinen Vergessens. Zu guter Letzt, kurz vor meiner Abreise, erscheinen auf der anderen Straßenseite vier Personen zu einer Mahnwache, die sie hier an drei Tagen in der Woche abhalten. Ich freue mich, dass sie sich hierfür Zeit nehmen.

Vielleicht gibt es ja eine Lösung, bei der alle Seiten einigermaßen ihr Gesicht wahren können und die Julian Assange endlich einmal wieder die Sonne auf sein Gesicht scheinen lässt. Wir werden weiter berichten. Die Zeit drängt.

Hier noch einige weiterführende Links, teilweise auf Englisch: