Der Journalist und Medienfachmann Ralf Wurzbacher hat aus Anlass der Beratung des Digitalpaktes ein Interview mit der Neurobiologin Dr. Teuchert-Noodt geführt. Der Digitalpakt ist am 20.2.2019 im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat beraten und verabschiedet worden und liegt heute dem Parlament zur Beschlussfassung vor. Dessen und die Zustimmung durch den Bundesrat am 15. März gilt nur noch als Formsache – NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser kennen die interviewte Professorin vom Bericht über das Pleisweiler Gespräch am 21. Oktober 2018 oder vom Pleisweiler Gespräch selbst. Siehe hier: Video mit dem 30. Pleisweiler Gespräch. Thema: „Verbaut die digitale Revolution unseren Kindern die Zukunft? – Erkenntnisse aus der Evolutions- und Hirnforschung“. Albrecht Müller.
Ralf Wurzbacher:
Bund und Länder haben sich am Mittwochabend im Vermittlungsausschuss auf die Umsetzung des „Digitalpakts“ geeinigt. In dessen Rahmen sollen Deutschlands Schulen aus Bundesmitteln in Höhe von fünf Milliarden Euro in den kommenden fünf Jahren flächendeckend mit Breitbandanschluss und digitalen Endgeräten wie Tablets, Smartphones und Whiteboards ausgestattet werden. Wie nehmen Sie die Botschaft auf?
Dr. Teuchert-Noodt:
Überlassen wir Konfuzius die richtigen Worte: „Der Mensch hat drei Wege, klug zu handeln. Erstens durch Nachdenken – das ist der edelste. Zweitens durch Nachahmen – das ist der leichteste. Drittens durch Erfahrung – das ist der bitterste.“ Letzteren Weg zu gehen, ist unsere Politik also wild entschlossen? Will sie wirklich die langjährigen Erfahrungen anderer Länder nicht zur Kenntnis nehmen, die inzwischen zu klassischen Lernkonzepten zurückkehren – als da wären Südkorea, Australien, einzelne US-Bundesstaaten, Holland? Führen auch die immer wieder mit viel Sachverstand im eigenen Land vorgetragenen Warnungen aus Pädagogik, Kinderpsychologie, Medizin und Neurowissenschaft unsere Politiker nicht zum Nachdenken? Die routinierte Wegwischbewegung auf dem Tablet könnte ihnen sehr bald das Genick brechen. Denn die digitalisierten Kinder von heute geben morgen ihre Wählerstimme ab und deren virtualisierte Ansichten fängt man nicht mehr wenige Monate vor den Wahlen ein.
Ihnen schwant also nichts Gutes?
So ist es. Natürlich, auch Politiker sind Menschen, die den negativen Folgen der medialen Überschleunigung unserer Zeit ausgesetzt sind. Das führt nicht nur bei Schulkindern zu schweren Konzentrationsschwächen und Denkproblemen. Vor neuronalem Hintergrund möchte die Uneinsichtigkeit von Politikern ein klares Indiz dafür sein, dass spezifische Stirnhirnkompetenzen – was Antizipation und Denken in historischen Kategorien einbezieht – bereits ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen sind und den Weg des Nachdenkens blockieren. Politiker selbst befinden sich offensichtlich bereits auf dem Opferweg der digitalen Entmündigung. Anders ist diese synchrone Fehlhaltung sämtlicher Parteien bezüglich der Digitalisierung von Schulen und Unterricht nicht zu verstehen.
Zu der Frage, was der ungezügelte Gebrauch von Smartphones, Tablets und Computerspielen in den Köpfen von Heranwachsenden anrichtet, ist von Ihnen folgender Satz überliefert: „Wenn wir den Karren so weiter laufen lassen, wird das eine ganze Generation von digitalisierten Kindern in die Steinzeit zurückwerfen.“ Haben Sie einen Hang zum Alarmismus?
Wenn in der immer schriller werdenden medialen Zeit nur Pro-Alarm fürs Digitale geschlagen wird, – erinnert sei an Christian Lindners „Digital first, Bedenken second“ –, und wenn keine andere politische Partei – nicht einmal die Linke – dagegen hält, vielleicht hört man dann besser mal hin, wenn sogar der Vergleich zwischen Künstlicher Intelligenz und der Atombombe fällt. Tesla-Chef Elon Musk nämlich hält die KI tatsächlich für gefährlicher. Und eine alarmierende Formulierung ist grundsätzlich nicht falsch, sofern denn wissenschaftliche Argumente folgen. Aber die werden einfach nicht gehört.
Man mag mich mit meiner Formulierung vom „Rückfall in die Steinzeit“ spontan in den Reigen der Alarmisten stellen, aber mein Forschungslabor hat über 30 Jahre hinweg viele Fakten zusammengetragen, die das begründen. Zunächst sage ich: Hut ab vor den Steinzeitmenschen, die waren prächtige Kerle. Hätten sie ihren Kindern das Schreiben und Lesen beigebracht, dann wären sie uns im Denken ebenbürtig gewesen. Andererseits, hätten wir Kriegskinder seinerzeit gar nicht in die Schule gehen können, würden wir jetzt wohl auch nur Steine klopfen können. Eben das steht den digitalisierten Kindern bevor.
Über den Fernsehapparat hat der US-Medienwissenschaftler Neil Postman einmal geschrieben, „wir amüsieren uns zu Tode“. 34 Jahre später gibt es die Menschheit immer noch. Warum sollte es mit dem Smartphone anders kommen?
Ganz unrecht hatte Postman nicht. Ich möchte nicht wissen, wie viele Dauerglotzer von „Dschungelcamp“ und „Schwiegertochter gesucht“ sich längst totgelacht und der Gesellschaft mit ihrer Geistlosigkeit Schaden zugefügt haben. Für den Hirnforscher spricht vieles dafür, dass der Fernseher die körperliche Existenz zwar nicht verkürzt, aber die geistige vorzeitig beendet.
In jüngerer Zeit ist eine pharmakologische Forschung in Gang gekommen, die sich mit dem „leaky Brain Syndrom“ – dem löchrigen Gehirn – befasst, dem ein zunächst unmerklicher Abbau von zarten Nervenfäserchen im Großhirn zugrunde liegt. Die Forschung vermutet dahinter Entzündungsprozesse, für die Darmerkrankungen verantwortlich sein könnten. Mutmaßlich stecken aber auch noch andere Ursachen dahinter, alles ist multifaktoriell. Auch eine durch das Smartphone verursachte Unterforderung der Nervenverknüpfungen könnte ein Grund sein.
Da wären wir bei Ihrem Thema: Was läuft aus Sicht der Forschung im Gehirn von Kindern schief, wenn sie schon in jungen Jahren mit digitalen Techniken in Berührung kommen?
Anschaulich gesagt, passiert das gleiche, wie wenn ein Kleinkind an der Milchflasche nuckelt, in die Mama eine Portion Mohn eingemischt hat. Das haben manche Bäuerinnen früher gern getan, um ihr Kind während der schweren Feldarbeit ruhigzustellen. Derart verdummte Kinder liefen dann als Dorftrottel durch ihr Leben. In früheren Zeiten hat es in den Dörfern viele derart behinderte Kinder gegeben, bis man endlich die Ursachen erkannte und es vermied, Kleinkinder mit Mohn zu füttern.
Mütter, die mit ihrem Baby digital unterwegs sind, machen entsprechend schwere Fehler. Natürlicherweise schaut der Säugling beim Stillen die Mutter sehr wach an. In diesen Momenten vollzieht sich eine Mutter-Kind-Prägung und eine erste Sozialisation. Wird das Smartphone dazwischen geschoben, depriviert das die jungen Nervenzellen in höchsten Regionen des Gehirns. Kinderpsychologen haben in den 1980er Jahren bereits gezeigt, dass ein mangelnder Mutter-Kind-Blickkontakt im 4. bis 6. Entwicklungsmonat in eine sogenannte Blickkontakt-Verweigerung des Kindes einmündet. „Es mag dich schon nicht mehr“, wurde unwissend kommentiert, sobald das Kind sein Köpfchen wegdrehte. Diese Verhaltensauffälligkeit verfestigte sich zu Lernschwächen im schulpflichtigen Alter und dann zum Drogenkonsum. Warum hat man daraus nichts gelernt?
Das Smartphone in der Hand der Mutter nimmt das Kind unaufhaltsam mit in die digitale Abhängigkeit. Kleinkinder lernen durch Nachahmung. Natürlich wollen die kleinen Händchen auch surfen. Und weil das so einfach ist, unterstützen das die verzückten Eltern. Sie merken nicht, dass die Farben und Formen wie ein D-Zug durch das Köpfchen rasen und sie ihr Kind auf das Gleis der Lernbehinderung und Suchentstehung stellen. Was einst der Mohn-Trottel war, ist heute der postmoderne Digi-Trottel.
An anderer Stelle haben Sie die Vorgänge als „Cyberattacke“ auf die Nervennetze bezeichnet. Die Schäden, die ein Computervirus auslöst, lassen sich ja mithin beheben. Die im kindlichen Kopf nicht?
Lassen wir durch eine Cyberattacke ein Chemiewerk, etwa von Bayer in Leverkusen, zu Schaden kommen, worauf giftige Chemikalien austreten. Genau so wirkt sich eine Attacke auf die Chemieküche im Gehirn des Kindes aus, wenn es sich in die digitale Welt begibt. Es merkt zunächst nichts davon, weil der Sog in die digitale Welt und die Verlockungen, aus Raum und Zeit herauszutreten, einfach zu gewaltig sind. Nervenzellen und Nervenbahnen bedienen sich einer Palette von Chemikalien, die man Transmitter nennt. Diese versorgen alle Hirnregionen und übertragen die Erregungsabläufe, die das Gehirn ständig beleben. Man stelle sich vor, eine für bestimmte Leistungen zuständige Leitungsbahn wird attackiert und verliert ihren Auftrag, den sie in einer anderen Hirnregion durchzuführen hat. Dann bewirkt der Mangel dieser chemischen Substanz eine Unterversorgung der Nervennetze, eine gewünschte Funktion kann nicht zustande kommen.
Was wäre solch eine Substanz?
Nehmen wir zum Beispiel Dopamin, einen Botenstoff, der für die Versorgung des Stirnhirns verantwortlich ist, also für höchste Hirnleistungen. Dieses stellt unter anderem das Arbeitsgedächtnis zur Verfügung, um Informationen in den vielen Windungen des Großhirns zu speichern. Die Attacke erfolgt in einer frühen Reifungsphase und überfordert die Produktionsstätte von Dopamin im Hirnstamm. Das Stirnhirn wird unterversorgt, das Arbeitsgedächtnis versagt, womit auch Aufmerksamkeit und Gedächtnisbildung versagen. Das Kind wird aggressiv, schläfrig, lernbehindert. Angst und Stress können nicht kontrolliert werden. Es genügt schon, wenn einzelne dieser Leistungen außer Kraft gesetzt werden.
Was folgt daraus? Eine Cyberattacke auf Hirnfunktionen hat eine um vieles tragischere Auswirkung als die auf technische Einrichtungen. Sie kann nie mehr wirklich repariert werden. Der Umgang mit digitalen Medien im Kindesalter macht reifende Nervenzellen oder Netze nicht kaputt, sondern führt sie einer pathologischen Nervennetzbildung zu. Das kann – je nach Intensität und Dauer der Attacke – eine psychotische Entwicklung anstoßen.
Bei Ihren Vorträgen bebildern Sie diese Vorgänge mit krummwachsenden Buchen an einer Steilküste, während die windgeschützten Bäume in hinterer Reihe schnurgerade gen Himmel streben …
Stellen wir uns statt der kleinen Buchen zarte junge Nervenzellen im höchsten Hirnzentrum, dem Stirnhirn, vor. Dort reifen die Nervenzellen extrem langsam heran. Sie erreichen erst zwischen dem 18. und 20. Lebensjahr ihre volle Entfaltung. Erst dann leisten sie wirklich etwas fürs Leben. Unter stürmischen Einflüssen aus der digitalen Welt unterliegen sie einer Art „Notreifung“. Tatsächlich hatten mich die verkürzten und krummen Verästelungen der Zellen von stressexponierten Tieren beim Anblick unter dem Mikroskop seinerzeit an obiges Bild aus der Natur erinnert. Aber wie kommt es überhaupt dazu, dass der Sturm bis zur Chefetage des Gehirns vordringt?
Vorgeschaltet ist der limbische Hippocampus. Er liegt im Zentrum des Geschehens, fängt sämtliche Informationen, auch Stürme, ab, filtert sie und behält sie im Kurzzeitgedächtnis. Unter dem digitalen Einfluss bekommen die vorgeschalteten Nervennetze von Seh- und Hörbahn bereits keine reale Chance, sich normal zu vernetzen. Aber das ist nicht das Schlimmste. Den Hippocampus trifft es noch viel härter. Er enthält ein langsam arbeitendes Triebwerk, getragen von Thetawellen im Frequenzbereich von vier bis acht Hertz. Und er unterhält einen Bypass, das „Belohnungssystem“, ausgestattet mit einer sich selbst verstärkenden Funktion, die über Opioid- und Dopaminrezeptoren verfügt. Sie ahnen jetzt, was dem Baby zustößt, wenn ihm Mohnmilch zugefüttert wird?
Verraten Sie es …
Die Rezeptordichten für Opioide und Dopamin werden hochreguliert und der Aktivspiegel der Thetawellen des Hippocampus wird pathologisch verändert. Aber warum löst auch ein harmloses Tablet im Kinderzimmer in diesem limbischen Bypass eine Sucht aus? Eine Hauptfunktion des Hippocampus ist die Raumorientierung. In jeder Körperposition – ob wir stehen, gehen, sitzen oder Auto fahren – muss die hippocampale Schaltzentrale aktiv sein. Eine überhöhte Fahrgeschwindigkeit zeigt uns, dass dieser Raumverrechner an Grenzen stößt. Deswegen kann man den Führerschein erst machen, wenn der Rechner ausgereift ist.
Tablet und Smartphone wirken auf den hippocampalen Rechner des Kindes wie eine Autobeschleunigung ein. Die Augen leisten das zwar, aber die Zubringernerven sind dafür nicht ausgestattet, die kann man nicht hochrüsten, wie man Straßen teert. Folglich wird der hippocampale Bypass zusehends hochgetourt, die Rezeptoren irreversibel verstärkt und auf Abhängigkeit eingestellt. Das Fazit: Das Stirnhirn wird in seiner Reifung vom Hippocampus abgehängt. Deswegen unterliegt es der „Notreifung“.
Sie postulieren, dass es kein digitales Lernen geben kann. Warum bleibt im Kopf nichts hängen, wenn man mit dem Finger über einen Display wischt?
Das trifft den Kern des Problems. Das Gehirn ist ein Konstrukt, das während der Entwicklung nach ganz einfachen Regeln von einem klugen Baumeister, der Selbstorganisation, aufgebaut wird. Der Aufbau startet im Embryo und ist den Reifungssequenzen des gesamten Körpers unterstellt. Jedes Organ und alle Sinne entwickeln im neuronalen Substrat des Gehirns eine „Repräsentation“, eine Punkt-zu-Punktverbindung. Die nervösen Verbindungen zu den körperlichen Ursprüngen bleiben lebenslang bestehen und Aktivitäten garantieren den Dialog zwischen Körper und Hirn. Ähnlich der Blutversorgung durch Gefäße sind Nervenbahnen unsere Lebensadern. Digitale Medien schneiden das reifende Gehirn des Kindes von diesen Lebensadern ab und lassen nicht zu, dass sich in der Hirnrinde sinnbezogene Repräsentationen anlegen.
Wie also müssten Kinder aufwachsen, um gegen die Gefahren der neuen Techniken gewappnet zu sein?
Das Tablet im Kinderzimmer versetzt das Kind in eine digitale Zwangsjacke. Elementare Bedürfnisse wie Krabbeln, Laufen, Klettern werden unterdrückt. Diese Bedürfnisse dienen dazu, die Sinne zu schärfen, die Muskeln zu stärken, den Geist und die Freude an körperlicher Ertüchtigung zu wecken. Nur wenn die Nervenzellen der einzelnen Hirnfelder sehr viele Kontakte mit sehr vielen anderen Zellen ausbilden, kann ein intelligentes Gehirn heranreifen.
Dagegen setzt eine Kaskade von Behinderungen ein, wenn Schaltkreise des Großhirns von den Lebensadern durch digitale Spielsachen abgeschnitten sind: Das Sprechenlernen verzögert sich, die Händchen können ihre Fähigkeit nicht entfalten, einen Mal- oder Schreibstift zu halten. Kürzlich erreichte uns eine Alarmmeldung aus London, weil Sechsjährige den Stift nur mit dem Fäustchen halten konnten und die Einschulung gefährdet war.
Woraus für Sie folgen muss: Finger weg vom Smartphone!
Und das nicht nur in den Schulstunden, sondern komplett. Denken wir an die Suchtgefahr. Denken wir an die reifenden Lebensadern, die aus analoger Aktivität gespeist werden. Denken wir an die Neuroplastizität der Hirnrinde, die nur über gezielte Aktivitäten angespornt wird. Das Smartphone ist verschenktes Menschenleben.
Was ist mit den Erwachsenen? Wie und wann ist man gegen die Risiken der digitalen Überschleunigung gerüstet?
Anknüpfend an die bekannte Formulierung des Volkswirts und Journalisten Ingo Leipner, dass „eine Kindheit ohne Medien der beste Start ins digitale Zeitalter ist“, will ich darauf so antworten: Eine Kindheit mit digitalen Medien ist der beste Start in einen Burnout – im Erwachsenenalter. Natürlich ist auch der Erwachsene lernfähig, denn er erhält sich eine Reserve an Plastizität bis ins hohe Alter, wenn er vernünftig lebt und im Gehirn flexibel bleibt. Beide Eigenschaften, Vernunft und Flexibilität, lassen sich bewahren und der alternde Mensch mag seinen Körper und Geist durch tägliche Lesestündchen, Bewegung in Haus und Garten fit halten.
In unseren medialen Zeiten ist es indes zu einer ernsten Lebensaufgabe geworden, sich die digitale Überschleunigung vom Leib zu halten. Wie viele Menschen fühlen sich heute aufgrund der Beschleunigung im Beruf und Alltag überfordert! Was bleibt, ist die Privatsphäre möglichst digitalfrei zu gestalten. Natürlich könnte jeder es schaffen, privat ausschließlich analog unterwegs zu sein: Ohne Navi bringt man den Orientierungssinn wieder in Gang und stärkt die Raumverrechnung im hippocampalen Schaltkreis. Ohne Handy und Homebutler der Sorte Alexa wird der Geist für Ideen und Kreativität neu erweckt. Das Leben bekommt dann erst seinen Sinn zurück.
Und wer nicht so auf sich achtet, der schlittert unweigerlich in die „digitale Demenz“, wie es der streitbare Psychologe Manfred Spitzer in einem Buchtitel formuliert hat?
Auf Herrn Spitzer halte ich ganz große Stücke. Er hat ja als Erster von uns mit Aufklärungsarbeit gegen die Digitalisierung begonnen. Er hat durch klinische Praxiserfahrungen für das Problem eine sehr zutreffende intuitive Schau entwickelt.
Der Begriff der „digitalen Demenz“ erscheint mir jedoch verfehlt, ja sogar für untertrieben. Das habe ich ihm auch gesagt, weil die Schäden, die digitale Medien im Gehirn von Kindern und Jugendlichen anrichten, viel schwerwiegender sind als eine Demenz. Zynisch gesagt: Mit Dementen kann die Gesellschaft noch irgendwie klarkommen. Dagegen entspricht der übermäßige Gebrauch von Medien einer für unser Gemeinwesen hochgefährlichen Virtualisierung. Heutzutage sind 90 Prozent der Jugendlichen täglich über sechs Stunden mit dem Smartphone zugange. Wenn bald nur noch Psychopathen rumlaufen, führt das zur Abschaffung der Demokratie.
Spitzers Buch ist ein Bestseller, was seinen Kritikern schon genügt, ihn zum Effekthascher zu stempeln. Ist die verbreitete Blindheit für die Gefahren der Digitalisierung schon Teil der schleichenden Verblödung oder diktiert hier einfach nur die Industrie, was der Bürger zu denken hat?
Schleichende Verblödung und Diktathörigkeit gehören zusammen. Zur Abnahme der natürlichen Intelligenz des Menschen habe ich schon manches gesagt. Dass die Industrie mit dem Bürger so leichtes Spiel hat, hat noch tiefere Gründe: Eine immanente Sehnsucht, nach neuen Horizonten aufzubrechen und alle Nischen dieser Welt zu erobern, ist dem Menschen wie die Sprache in die Wiege gelegt. Bloß sind wir offenbar blind dafür zu erkennen, dass Algorithmen und Big Data längst auf dem besten Weg sind, uns zu erobern.
Der Mensch verdankt seine Intelligenz dem Fakt, dass er im Gehirn das biologische Merkmal verankert hat, sein Leben in Raum und Zeit analog zu gestalten. Wenn er sich den digitalen Medien verschreibt, läuft er Gefahr, sich zu verlieren. Verschreibt er bereits sein Kind den Medien, so ist dieses verloren. Denn Raum und Zeit reifen in der Entwicklung eines Menschenkindes sehr langsam heran und bilden eine Repräsentation aus, um als Werkzeug für das Denken zu dienen. Das war einmal der sensationelle Erfolg der Menschwerdung.
Zurück zum „Digitalpakt”: Gibt es eigentlich irgendwelche belastbaren Untersuchungen dafür, dass die Digitalisierung der Schule eine erfolgversprechende Unternehmung sein kann?
Im Gegenteil, stattdessen häufen sich lastenschwere Erkenntnisse zu den Misserfolgen der Digitalisierung von Schulen. Digital hochgerüstete Länder mit technischem Vorlauf wie Australien, Südkorea und Thailand mussten bereits Niederlagen einstecken und die Schulen von den technischen Geräten wieder entsorgen. Aber ihre digitalisierten Schulkinder werden zeitlebens als Brillenträger – 90 Prozent in Südkorea –, suchtgefährdete Personen und psychosozial Behinderte gekennzeichnet sein. Dem nunmehr mit Handyverboten entgegenzutreten, kann den bereits angerichteten Schaden kaum wieder gutmachen. Wenn auch bei uns bereits Sechs- bis Zehnjährige mit Handy und Tablets ausgestattet werden, kann eine sich flächenhaft ausbreitende Vulnerabilisierung der kindlichen Nervennetze für Digitalängste, Depressionen, soziale Deprivationen und Lernbehinderungen kaum noch verhindert werden.
Sogar Bildungsverbände wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) oder der Verband Bildung und Erziehung (VBE), die sonst eigentlich im besten Sinne fortschrittliche Positionen vertreten, sind vom Grundsatz her einverstanden mit der Zielrichtung des „Digitalpakts”. Ihre Kritik erschöpft sich darin, pädagogische Konzepte zu vermissen …
Seit Jahrzehnten ist der chronische Mangel an durchdachten pädagogischen Konzepten und das unreflektierte Rumprobieren auf Kosten ganzer Schülergenerationen Schuld daran, dass selbst Verbände wie GEW und VBE im “Digitalpakt” zunächst einen Rettungsanker für die schwelende Schulmisere in unserem Land sehen möchten. Ein wesentlicher Grund für diese allseitige Orientierungslosigkeit liegt sicher daran, dass über das vergangene halbe Jahrhundert hin an deutschen Hochschulen die notwendige und viel beschworene Interdisziplinarität und Vernetzung von Geistes- und Naturwissenschaft real nie stattgefunden hat. Woher sollten und sollen brauchbare Konzepte erwachsen, wenn nicht aus integrativer Zusammenarbeit?
Verantwortungsträger in Führungspositionen verstanden nicht, welches enorme Wissen die universitären Basiswissenschaften, speziell die Kinderpsychologie, Verhaltens- und Neurowissenschaft, in Bezug auf das Lernen im Kindes- und Jugendalter angereichert haben. Naturgemäß unzureichende Presseinformationen mussten automatisch zu grobfahrlässigen Missverständnissen und fehlgesteuerten praktischen Umsetzungen führen. Man denke an die G8/G9-Kontroversen, missglückte Konzepte des Erlernens einer Zweitsprache in der Grundschule und des Schreibens nach Gehör. Auch Informatiker konnten sich ohne allgemeine naturwissenschaftliche und neurophilosophisch-ethische Bildung nur zu nackten Profit-Algorithmikern entwickeln. Es ist eine Ironie der KI-Geschichte, dass selbst die Silicon-Valley-Manager neuerdings zu peinlichen Lösungen im Privatleben greifen müssen: Sie versuchen den Familienfrieden zu retten, indem sie ihre sucht- und lerngefährdeten Digi-Kids dem analog arbeitenden Lehrpersonal von Waldorfschulen anvertrauen.
Die Verfechter der Digitalisierung versichern ja gerne wortreich, dass es bei all dem darum gehe, Kindern einen „vernünftigen”, „verantwortungsvollen” und „kompetenten” Umgang mit den Geräten zu vermitteln. Ist das für Sie gar nicht denkbar?
Der „Digitalpakt” wird in die Geschichte als „digitaler Unmöglichkeitspakt” eingehen. Die Jahrtausendwende war auch eine Offenbarungswende für die Dekade der Hirnforschung. Seitdem liegen die Karten auf dem Tisch: Das kindliche Gehirn kann nicht digital. Erst Studenten können es schaffen, „verantwortungsvoll“ mit Medien umzugehen, wenn sie zuvor einen analogen Schulabschluss hingelegt haben. Gleichwohl vermisst man hinreichende „Kompetenz“ bei Eltern und Lehrpersonal. Das Tippen und Wischen verhindert jegliches Lernen. Rechnen, Lesen, Schreiben bleiben nun einmal Grundkompetenzen, die in Nervennetze real eingeschrieben werden müssen. Zudem ist der schulische und private Umgang mit digitalen Geräten generell für das Kind und den Jugendlichen äußerst suchtgefährdend. „Vernunft, Verantwortung und Medienkompetenz“ erfordern geistige Qualitäten, die zu allerletzt und sehr langsam im Oberstübchen des menschlichen Gehirns zur Reifung kommen und für die über die ersten 16 Lebensjahre hin überwiegend analoge Bauelemente angeliefert werden müssen.
Es ist unmöglich, auf dem Tablet spielerisch über einen Baumstamm zu balancieren, um den Gleichgewichtssinn und die nachgeschalteten Hirnzentren zu trainieren. Unumgänglich ist diese Sinnesqualität das Eintrittstor für kognitive Funktionen. Ebenso wird es dem auf Smartphone und Computer geprägten Jugendlichen in jeder Hinsicht äußerst schwer fallen, den Autoführerschein zu erwerben. Denn die komplexen Anforderungen, denen er sich bei der realen neuronalen Verrechnung von Raum-Zeit stellen muss, sind in seinem Gehirn nur ganz unzulänglich entwickelt. Außerdem ist das digitale Suchtpotential im Straßenverkehr ebenso gefährlich wie eine Drogen- und Alkoholabhängigkeit.
Unsere Politiker wären gut beraten, umgehend von der digitalen Hochrüstung der Schulen Abstand zu nehmen. Verzichten Sie auf den konfuzianischen „bitteren Weg“, Milliarden für technische Geräte an die IT-Industrie zu verschwenden und eine ganze heranwachsende Generation von Kindern krank zu machen. Beschreiten Sie den „edlen Weg“, mehr Gelder für die Sanierung von Schulgebäuden und kindgerechte Befriedung von Schulhöfen, für Musik-, Kunst-, Theater-Projekte, gut ausgebildete Lehrer und Schulpsychologen auszugeben. Sie sägen sich anderenfalls den Ast ab, auf dem Sie sitzen!
Sie sprachen es an: Es gibt weltweit noch keinen Fall, in dem der Versuch einer großangelegten Digitalisierung der Schulen nicht gescheitert wäre. Ist das nicht eine hoffnungsvolle Perspektive für Deutschland? Man fährt den Karren vor die Wand und findet dann auf den Weg der Vernunft zurück.
Es fragt sich nur, wer den kaputten Karren dann noch reparieren kann und wie viele dann noch den Weg zurück zur Vernunft kennen. Jedenfalls bedarf es derer einige und der Weg wird sehr schwer sein. Besser wäre es, wir nehmen jetzt die ernsten Mahnungen an, die von den vielen Experten ausgesprochen werden. Selbst der PISA-Koordinator der OECD, Andreas Schleicher, hat klar formuliert: „Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt”. Wo bleibt der politische Verstand?
Zur Person: Professor Dr. Gertraud Teuchert-Noodt ist Neurobiologin und Hirnforscherin und war bis zu ihrer Emeritierung Leiterin des Bereichs Neuroanatomie der Fakultät für Biologie an der Universität Bielefeld. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit Entwicklungsbiologie, Lern- und Psychoseforschung sowie den Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien auf die Kindesentwicklung. 2016 erschien dazu von ihr der vielbeachtete Aufsatz „Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach. Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft.“ Teuchert-Noodt hat außerdem das „Bündnis für humane Bildung – aufwach(s)en in einer digitalen Welt“ mitbegründet. Infos im Internet: www.aufwach-s-en.de
P.S.: Das hier wiedergegebene Interview mit Frau Teuchert-Noodt war in einer kürzeren Fassung am 19./20. Januar 2019 in der Wochenendbeilage der Tageszeitung junge Welt erschienen.
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