„Kein schöner Land“, aber ein schönes Buch. Heribert Prantl plädiert für den Sozialstaat. Eine antizipierte Antwort auf den Bundespräsidenten.

Ein Artikel von:

Heribert Prantl, der Ressortleiter Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung, sonst eher bekannt als das liberale rechtspolitische Gewissen in der Medienlandschaft und als Verursacher zahlreicher Wutausbrüche bei Otto Schily, hat es offenbar auch nicht mehr länger ausgehalten, dass Deutschland „katastrophalisiert“ wird, um die „Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens“ durchzusetzen und um eine „marktgöttliche Weltordnung“ zur uniformen, „allein herrschenden Lehre“ zu machen.
Man brauche den „Ausnahmezustand“, das „Stahlgewitter“ à la Ernst Jünger, um das Land in eine „Flucht vor der Krise“ zu jagen und es bereit zu machen, „fast alles wegzuwerfen was beim Laufen hindert: den sozialen Frieden, das Verhältniswahlrecht, den gewohnten Gesetzgebungsgang“. Der frühere Staatsanwalt Prantl hält ein geistreiches, emphatisches und einfach schön zu lesendes Plädoyer für die Reaktivierung des Sozialstaates. „Sozialpolitik ist die Basispolitik der Demokratie“, sie müsse den Kapitalismus so „zähmen, dass er die Demokratie nicht frisst.“

Dass Heribert Prantl gut und geistreich schreiben kann, weiß jeder, der seine rechtspolitischen Beiträge in der Süddeutschen Zeitung verfolgt. Es drängte einen, statt sein Buch zu rezensieren, eine kluge und treffende Formulierung nach der anderen zu zitieren. Etwa wenn er den Neoliberalismus als den „Midas-Kult der Moderne“ karikiert, der sich daran berausche alles zu Gold zu machen, aber nicht erkenne, dass man „am eigenen Erfolg auch krepieren“ könne. Die Shareholder schöpften den „gesellschaftlichen Reichtum wie Rahm von der Milch ab, ohne darauf zu achten, unter welchen Bedingungen die Milch produziert wird“, sie gingen offenbar davon aus: „Wenn eine Kuh verendet, dann gibt es noch viele andere Kühe“.

Prantl ist unverkennbar Jurist, aber einer, der Rechtskategorien historisch und gesellschaftspolitisch verorten kann. Es hätte beispielsweise Bundespräsident Köhler gut getan, wenn er, bevor er vor dem Arbeitgeberforum seine „Ordnung der Freiheit“ postulierte, bei Prantl nachgelesen hätte, was unter „Privateigentum“ oder „Vertragsfreiheit“ rechtsgeschichtlich und verfassungspolitisch zu verstehen ist, statt diese Rechtsverhältnisse – ausschließlich aus dem Blickwinkel der Ökonomie als einer „Hilfswissenschaft“ – ins „sozial blinde“ neunzehnte Jahrhundert zurück zu versetzen.

Zur „Freiheit des Privateigentums“ gehöre nach der Ordnung unseres Grundgesetzes eben auch der Nachsatz, dass „Eigentum verpflichtet“. Es stehe im Grundgesetz eben nicht der Satz, dass der Gebrauch des Eigentums zur Eigentumsvermehrung und zur Gewinnmaximierung verpflichte, sondern dass er „dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ sollte und dass der „Staat als Vertreter des Gemeinwohlinteresses die Aufgabe hat, den knappen Satz des Grundgesetzes“ zu konkretisieren. Es stimme eben gerade nicht, „dass der Staat sich immer noch leichter machen muss, damit die Wirtschaft mit ihren Gewichten wuchern kann.“

Ähnliches hätte Köhler bei Prantl über die „Vertragsfreiheit“ lernen können. Vom Bundespräsidenten als Kampfbegriff gegen kollektive tarifvertragliche Vereinbarungen gebraucht, setzte ihm der Autor sozusagen in einer antizipierten Gegenrede den Vortrag des Rechtsgelehrten Otto von Gierke aus dem Jahr 1889 über die „soziale Aufgabe des Privatrechts“ entgegen: „Schrankenlose Vertragsfreiheit zerstört sich selbst. Eine furchtbare Waffe in der Hand des Starken, ein stumpfes Schwert in der Hand des Schwachen, wird sie zum Mittel der Unterdrückung des einen durch den anderen, der schonungslosen Ausbeutung geistiger und wirtschaftlicher Übermacht.“

So weit war das Denken also schon im 19. Jahrhundert fortgeschritten. Mit seiner „Ordnung der Freiheit“ fällt Köhler zurück auf einen Freiheitsbegriff, der es – wie Prantl schreibt – „den Armen und den Reichen gleichermaßen (erlaube), unter der Brücke zu schlafen.“ Bei den Reformideen der Neoliberalen „wachsen einem sehr lange, sehr graue Bärte entgegen“, meint der Autor.

Die von Köhler ausgegebene „Vorfahrtsregel für Arbeit“ ließe sich, wenn man sie im Sinne Prantls interpretiert, als „Recht auf ungestörte Investitionsausübung“ konkretisieren. Art. 1 hieße dann: „Der Standort Deutschland ist unantastbar. Ihn zu schützen und zu fördern ist oberste Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Und Absatz 2 wäre: „Die ungestörte Investitionsausübung ist gewährleistet. Niemand darf gegen sein Gewissen zum Umweltschutz, zum Datenschutz, zum Kündigungsschutz oder zu sonst beeinträchtigenden Maßnahmen verpflichtet werden.“

Aber nicht nur gegen den „Marktfundamentalismus“ zieht Prantl zu Gericht. Auch die großen Parteien klagt er an und wirft ihnen vor, dass sie „ein Viertel der Gesellschaft abgeschrieben haben und dass sie dabei sind, ein weiteres Viertel abzuschreiben.“ Die politische Kommunikation konzentriere sich nur noch auf den Rest der Bevölkerung. Wahlabende seien Resteabende geworden, Parlamente zu Resteparlamente. Es erkläre sich am Wahlabend einfach diejenige Partei zum Sieger, die weniger Stimmen verloren habe als die andere.
Die großen Parteien verhielten sich zu dieser zunehmenden Wahlabstinenz „wie der Autofahrer, der erklärt, ihm seien die steigenden Benzinpreise egal, er tanke eh immer nur für dreißig Euro.“
Prantl bleibt mit seiner Streitschrift nicht bei der Anklage stehen, er macht auch Vorschläge wie wirklich notwendige und fortschrittliche Reformen gemacht werden könnten, bei denen es eben nicht wie bei dem derzeitigen Reformgerede ausreichte, „wenn Reform drauf steht“. Bei seinem Vorschlag zu einer Steuerreform etwa, würden solche Unternehmensgewinne steuerlich privilegiert, „die in Arbeitsplätze reinvestiert werden und jene höher besteuert, mit denen Geld sich selbst vermehren soll.“ Bei der „Creatio ex nihilo“ der Bodenspekulationen läge nichts näher, „als unverdiente Wertsteigerungen abzuschöpfen“. Hier – und nicht bei der Durchsetzung neoliberaler Rezepte – gebe es ein „Umsetzungsproblem“. Statt des bestehenden „Familienbelastungsausgleichs“ plädiert er für einen wirklichen Familienlastenausgleich und einer Anerkennung der „Eigeninitiative“, die in den Familien längst praktiziert werde. Wer ein Schwein aufziehe, sei in dieser Gesellschaft ein produktives, wer einen Menschen erziehe ein unproduktives Mitglied geworden, zitiert er den liberalen Nationalökonomen Friedrich List aus dem Jahre 1841. Der Autor mahnt die Wiedereinführung der gestrichenen Lehrstühle mit volkswirtschaftlicher, staatwissenschaftlicher und empirischer Orientierung an, um wieder Anschluss an die internationale Ökonomie zu bekommen. Oder er fordert, dass sich der Staat wieder selbst in die Pflicht nehme und soziale Verantwortung nicht länger privatisiere, sondern dem Sozialstaat wieder eine „Heimat“ gebe.

Vor allem in einem Punkt geht leider auch Prantl der gängigen „Katastrophalisierung“ auf den Leim, und zwar bei der Übernahme der Vorstellung durch das Schrumpfen der Bevölkerung würde „auf der Deutschlandkarte ein Ort nach dem anderen ausradiert“. Man will dem Autor gerne nachsehen, dass er mit der Bedrohung durch den „Bevölkerungspilz“ Argumente für eine vernünftige Einwanderungspolitik gewinnen will, aber beim Thema demographischen Entwicklung hätte er sich besser z.B. einmal auf den NachDenkSeiten schlau gemacht.
Eine vernünftige Zuwanderungspolitik ließe sich auch ohne solche Schreckbilder ziemlich rational begründen.

Heribert Prantl, Kein schöner Land, Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit, Droemer Verlag, München2005, 208 Seiten. 12.90 Euro.