Der Brexit soll ein fortschrittliches Projekt sein? Und die ärmeren Schichten in GB sollen davon profitieren? Der Glaube muss auch hier wohl Berge versetzen.

Der Brexit soll ein fortschrittliches Projekt sein? Und die ärmeren Schichten in GB sollen davon profitieren? Der Glaube muss auch hier wohl Berge versetzen.

Der Brexit soll ein fortschrittliches Projekt sein? Und die ärmeren Schichten in GB sollen davon profitieren? Der Glaube muss auch hier wohl Berge versetzen.

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Die NachDenkSeiten haben heute einen Beitrag von Winfried Wolf veröffentlicht – mit großen Bauchschmerzen. Autor Wolf hat schon viele gute Sachen geschrieben. Aber der Artikel von heute stimmt hinten und vorne nicht. Er wirft jedenfalls viele Fragen auf. Albrecht Müller.

Gleich am Anfang des Textes steht eine Art Zusammenfassung, die ich hier der Einfachheit halber wiedergebe.

Winfried Wolf schreibt:

„Derweil wächst die Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien einfach austritt – ohne Austrittsvertrag.
Und das erscheint mir in der gegebenen Situation und im Sinne einer fortschrittlichen Politik die beste Lösung. Dies aus den folgenden vier Gründen: Erstens wäre ein Austritts Großbritanniens aus der EU schlicht demokratisch. Es gab dazu in Großbritannien eine lange Debatte; das Brexit-Votum ist in erster Linie das Votum der Arbeitenden und der sozial Schwachen gegen die EU, die sie zu Recht als mitverantwortlich für die brutale Austeritätspolitik wahrnehmen. Zweitens widerspricht der zwischen der May-Regierung und der EU ausgehandelte Brexit-Vertrag dem Brexit-Votum. Mit ihm bleibt Großbritannien an die EU gefesselt. Der Vertrag enthält Vereinbarungen, die für ein souveränes Land nicht akzeptabel sind. Drittens wäre eine solche klare Entscheidung nachvollziehbar, weil sich die EU in den vergangenen 25 Jahren auf den Gebieten Soziales, Demokratie und Militarisierung derart negativ verändert hat, dass sie nicht (mehr) reformierbar ist. Und viertens wäre ein harter Brexit gut, weil es in Großbritannien die Chance für eine linke Regierung gibt. Deren fortschrittliches Programm würde dann, wenn das Land (z.B. in Folge eines zweiten Referendums) EU-Mitglied bleibt oder wenn der ausgehandelte Vertrag Gültigkeit erlangt und damit Großbritannien an die EU gefesselt bleibt, von dieser weit besser als im Fall eines vollzogenen klaren Austritts gnadenlos bekämpft.“

Dazu und zum gesamten Text in Kürze ein paar Fragen und Kommentare:

  1. Ein Austritt ohne Austrittsvertrag soll im Sinne einer fortschrittlichen Politik die beste Lösung sein? Hat Wolf schon einmal bedacht, was das für die Industriearbeiterschaft Großbritanniens bedeuten kann und wahrscheinlich bedeuten wird? Schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Mehr Druck von oben.
  2. Das Brexit-Votum sei „in erster Linie das Votum der Arbeitenden und der sozial Schwachen gegen die EU“ gewesen. Erstens haben ganz andere und zwar teilweise reaktionäre Kräfte in Großbritannien für den Austritt geworben. Das schreibt Wolf sogar selbst im vierten Absatz seines Textes.
  3. Zweitens ist die „brutale Austeritätspolitik“, der die britischen Arbeitnehmer und breiten Schichten genauso ausgesetzt sind wie jene auf dem Kontinent, ja nicht die Erfindung der EU. Wolf macht aus Margret Thatcher und Tony Blair, den Rammböcken der neoliberalen Entwicklung und damit auch der Austeritätspolitik, so eine Art Vertreter der Europäischen Union. Das ist ein ziemlich starkes Stück. Alles Unheil kommt aus Brüssel, alles Heil aus London – eine beachtliche Beobachtung! – An einer Stelle im Text beklagt der Autor auch noch, dass es aus der EU oder seitens Brüssels keine Kritik an der vom Vereinigten Königreich durchgezogenen brutalen Austeritätspolitik gegeben habe. Donnerwetter: Die anderen sind also schuld, weil sie die Urheber des Elends nicht vor dem Elend gewarnt haben. So kann man‘s natürlich auch sehen.
  4. Die Europäische Union wurde mit dem Lissabon-Vertrag und anderen Regelungen zu einer wirklich reaktionären Vereinigung entwickelt. Aber die Briten haben daran kräftig mitgearbeitet.
  5. Kritik an der Europäischen Union zu üben, ist sehr berechtigt. Es ist auch legitim, die Frage zu stellen, ob die EU überhaupt noch reformierbar ist. Aber: Die EU wird weder durch den Austritt Großbritanniens noch durch andere Austritte im guten Sinne reformiert. Was Wolf nicht versteht: Man kann ein harter Kritiker des Zustandes der EU sein und dennoch keinen Sinn darin sehen, diese Wirtschafts- und politische Gemeinschaft aufzugeben. Der Glaube, dass aus möglichst vielen Austritten Besseres erwüchse, ist durch Nachdenken und durch Tatsachen nicht gestützt.
  6. Winfried Wolf berichtete an anderer Stelle davon, dass er seine serbischen Freunde davor gewarnt habe, der EU beizutreten. Das kann ich gut verstehen. Ich habe meinen Freunden auf dem Balkan auch gesagt, sie würden falsche Erwartungen mit dem EU-Beitritt verbinden. Da sind wir uns also einig. Aber wenn man drin ist und enttäuscht ist, weil all die Erwartungen nicht eingetreten sind, dann ist die Lage eine ganz andere. Dann ist man nämlich drin und nicht noch draußen. Dann auszutreten, würde wahrscheinlich im Falle vieler Völker die Nachteile noch vermehren. Diese Differenzierung macht Winfried Wolf nicht.
  7. Zu glauben, dass sich durch den Brexit, noch dazu durch einen harten, die Lage für die Lohnabhängigen und die ärmeren Schichten in Großbritannien bessern würde, ist ohne Basis und nicht sehr wahrscheinlich. Das ist ein Traum des Autors Winfried Wolf und vermutlich auch einer Gruppe von Gleichgesinnten. Eher werden wir feststellen müssen, dass die bessergestellten Kreise sich auch mit den Folgen eines Brexit leichter und geschmierter arrangieren werden.
  8. Auch der Glaube, ein ungeregelter Austritt wäre gut, weil es dann in Großbritannien die Chance für eine linke Regierung gäbe, ist gewagt. Die Folgen eines solchen Brexit werden so hart sein, dass davon mit Unterstützung reaktionärer Medien vor allem reaktionäre Kräfte, auch politische Kräfte profitieren werden und nicht Corbyn. Das ist zumindest eine sehr wahrscheinliche Einschätzung.
  9. Wolf stellt fest, der Austritt aus der EU sei schlicht demokratisch. Ja, so kann man auch bei 52 % Zustimmung argumentieren, vor allem dann, wenn man außer acht lässt, welche Kräfte für dieses Votum mobilisiert haben. Es ist komisch, dass beim Autor die sonst übliche medienkritische Haltung in diesem konkreten Fall einfach beiseite tritt.
  10. Winfried Wolf beklagt, der ausgehandelte Brexit-Vertrag widerspreche dem Brexit-Votum. Watt soll dat denn? Sollen die restlichen EU-Partner, also von Irland über Frankreich über Deutschland, dem Balkan bis nach Griechenland und von Rumänien bis nach Spanien und Portugal ihr Verhandlungsangebot den Wünschen der Briten anpassen? Das ist doch wohl eine ausgesprochen groteske Forderung.
  11. Der Vertrag enthalte Vereinbarungen, die für ein souveränes Land nicht akzeptabel seien. Der Austrittsvertrag wurde auf der Basis der vorhandenen rechtlichen Bestimmungen ausgehandelt. Daran war als wesentlicher Verhandlungspartner die britische Regierung beteiligt. Jetzt den europäischen Verhandlungspartnern einschließlich der Republik Irland Vorwürfe zu machen, sie seien den Briten nicht ausreichend entgegengekommen, unfassbar?!
  12. Winfried Wolf geht über das Irland/Nordirland-Problem ziemlich großzügig und wie ich finde leichtfertig hinweg. Er beklagt, dass zwischen Nordirland und der Republik Irland offene Grenzen vorgesehen seien und begründet seine Klage damit, offene Grenzen zwischen der EU und Drittstaaten seien aber eigentlich nicht vorgesehen, „wie man am Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer gut erkennen kann.“
  13. Das eigentlich große Problem im Hintergrund: Sind Vereinigungen wie die Europäische Union vorstellbar und sinnvoll, wenn man das Rein und Raus und das Raus und Rein zu einem wesentlichen Grundprinzip und zu einer Grundforderung macht? Aus meiner Sicht ist eine solche Vereinigung so kompliziert und mit so vielen Folgen für die Gesetzgebung und für die Dispositionen von Millionen Menschen und Unternehmen und auch für finanzielle Verpflichtungen der einzelnen Staaten, zum Beispiel gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gemeinschaft, verbunden, dass eine offensichtlich gewünschte Rein- und Raus-Praxis damit nicht verbunden sein kann. Man muss sich vor dem Beitritt überlegen, ob man so etwas will oder ob man es nicht will. Alle späteren Revisionen sind kompliziert. Und sie werden, das wird gerade der Brexit zeigen – anders als von Winfried Wolf vermutet und erhofft –, vor allem auf dem Rücken der Schwächeren und nicht zu deren Gunsten praktisch vollzogen.

Nachbemerkung 3.4.2019: Schlussbemerkung gestrichen. Sie war unangemessen.

Titelbild: Jason Batterham / Shutterstock

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