Die angebliche „Destabilisierung des Westens“ ist Doppeldenk in Reinkultur

Die angebliche „Destabilisierung des Westens“ ist Doppeldenk in Reinkultur

Die angebliche „Destabilisierung des Westens“ ist Doppeldenk in Reinkultur

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Clintons Wahlniederlage, der Brexit und der Aufstieg der Rechten im gesamten Westen … glaubt man den Spin-Doktoren, haben all diese Phänomene eines gemein: Sie sind Folgen einer weitreichenden Strategie Russlands, deren Ziel die „Destabilisierung“ des Westens sein soll. Wer dies „nur“ als fadenscheinige Taktik abtut, um Russland zu dämonisieren, erkennt die perfide Genialität dieser PR-Strategie nicht: Gemäß dieser Logik stünde dann nämlich vor allem jegliche Kritik an der Außen- und Sicherheitspolitik des Westens im Verdacht der Interessensteuerung durch Moskau. Auch andere potentiell destabilisierende Kritik wäre dann als „fremdgesteuert“ gebrandmarkt. Ein Rückfall in die längst überwundene McCarthy-Ära, dem wir uns mit aller Macht entgegenstellen müssen. Von Jens Berger.

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Wenn man Artikel wie den jüngsten SPON-Bericht über Russlands vermeintliche Taktik der Wahlbeeinflussung bei den kommenden Europawahlen liest, braucht man entweder gute Nerven oder eine gesunde Portion Zynismus. Einer Nachrichtenagentur werden von nicht näher spezifizierten „Geheimdienstkreisen“ angebliche „Erkenntnisse“ über „russische Kampagnen zur Wahlbeeinflussung“ mitgeteilt, die dann in einem Artikel als Tatsachen weitergegeben werden. Das gipfelt in der Feststellung, dass „die politische Führung in Moskau strategische Ziele ausgegeben“ habe, die „zum Beispiel lauten [könnten], russlandfreundliche Kräfte zu fördern oder Streit innerhalb der EU oder NATO zu schüren“. Russlands Instrumente bei dieser Strategie sollen demnach nicht näher genannte Akteure in den „sozialen Netzwerken und Medien“, nicht näher genannte „russlandfreundliche Parteien“ und natürlich der russische Nachrichtensender RT sein. Belege oder gar Beweise? Fehlanzeige. Willkommen im Zeitalter des postfaktischen Qualitätsjournalismus.

Hat Putin Griechenland hungern lassen?

Es ist erstaunlich, dass dieser irreale Narrativ derartige Verbreitung findet und Redakteure ihn pausenlos gebetsmühlenartig wiederholen. Dabei muss man doch seinen Verstand nur im Leerlauf laufen lassen, um zu erkennen, dass derartige Aussagen komplett absurd sind.

Warum hat Hillary Clinton denn die Wahl verloren? Die NachDenkSeiten hatten schon nach Trumps Wahlerfolg bei den Vorwahlen eine kritische Analyse erstellt, die die Gründe für Trumps Erfolg beim Namen nennt. War es Moskau, das dafür gesorgt hat, dass sich ein großer Teil der amerikanischen Mittelschicht abgehängt fühlt und Angehörigen des politischen Establishments nicht mehr über den Weg traut? Waren es die Russen, die es versäumt haben, im „Rostgürtel“ der USA neue Jobs zu schaffen, nachdem die produzierende Industrie in Billiglohnländer abgezogen ist? War es Putin, der der Wall Street den Schlüssel zum Weißen Haus auf dem Silbertablett gereicht hat? Wer Trumps Wahlerfolg monokausal mit den geleakten Mails seiner Konkurrentin erklärt, ist dumm – und wer dafür dann auch noch Russland verantwortlich macht, ist dummdreist.

Und der Brexit? Haben russische Trolle aus Facebook den Briten die Märchen von Milliardensummen aufgetischt, die nach dem Verlassen der EU in das nationale Gesundheitssystem investiert werden könnten? Haben RT-Redakteure über Jahrzehnte hinweg die Schlagzeilen der britischen Presse geschrieben, mit denen die Ablehnung der EU in den Köpfen der Briten verwurzelt wurde? War es Putin, der erst osteuropäische Arbeitsmigranten ohne Auflagen ins Königreich ließ, um tags darauf Stimmung gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu machen? Gehören Sun, Mirror und Mail auch zu den russischen Staatsmedien?

Und wie schafft es Putin genau, die EU zu destabilisieren? Ist das Bekenntnis zur Marktkonformität der EU eine Folge des Einflusses russlandfreundlicher Parteien? Hat Putin Griechenland in der Schuldenkrise dazu gezwungen, seine Menschen hungern zu lassen? Sind die schwarze Null, die Maastricht-Kriterien, die Schuldenbremse und die aus all dem resultierende Austeritätspolitik eine Idee russischer Ökonomen? Sind es Moskaus Vorfeldorganisationen, die jegliche soziale Komponente aus den Verträgen von Nizza und Lissabon herausstrichen und dafür sorgen, dass die EU dramatische Demokratiedefizite hat?

Ironisch könnte man nun anmerken: Wenn die Russen derartige Teufelskerle sind, die es schaffen, nicht nur die US-Wahlen zu manipulieren, sondern dem gesamten Westen klammheimlich eine selbstzerstörerische Doktrin aufzuzwingen, die das Zeug hat, die „beste aller möglichen Welten“ von innen zu zersetzen und zu destabilisieren, dann sollte man ihnen dieses Husarenstück in Sachen PR hoch anerkennen. Aber – Ironie beiseite – die eigentliche Frage ist doch eher: Glaubt irgendwer tatsächlich diesen Unsinn?

Haltet den Dieb!

Wer sich ernsthaft mit der Thematik auseinandersetzt, müsste dabei zudem erst einmal die Grundannahme überprüfen, die im „Narrativ“ von Russlands vermeintlicher „Destabilisierungskampagne“ steckt. Warum sollte Russland eigentlich ein Interesse daran haben, dass Deutschland oder die EU destabilisiert werden? Russlands Wirtschaft hat ein großes Interesse an einem Zugang zu den westlichen Märkten. Denn langfristig als bloßer Rohstofflieferant und Absatzmarkt für China zu fungieren, wäre für Russland ein Albtraum. Selbstverständlich hat Russland auch außen- und sicherheitspolitische Interessen – nicht nur in Europa. Spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geht es für Russland jedoch primär darum, regionale Hegemonialansprüche zu verteidigen und Sicherheitsgarantien des in die eigene Interessensphäre expandierenden US-Imperiums zu bekommen. Alleine schon deshalb hat Russland ein großes Interesse an Kontinuität und Stabilität.

Ein großes Interesse an Destabilisierung haben vielmehr die USA und ihre Juniorpartner des „Wertewestens“. Wer hat denn seit dem Zusammenbruch des bipolaren Systems in allen Gegenden der Welt Regimewechsel betrieben und mit seiner Außen-, Sicherheits- und Geheimdienstpolitik ehemals stabile Staaten ins Chaos gestürzt? Waren es die Russen, die im Nahen und Mittleren Osten den Geist des islamistischen Fundamentalismus aus der Flasche gelassen haben? Hat Russland ohne UN-Mandat aus dem ehemals stabilen Irak ein machtpolitisches Vakuum gemacht? Hat Russland die Balkankriege angefeuert und eine europäische Hauptstadt bombardiert? Waren es die Russen, die den arabischen Frühling angezettelt und in Syrien mit Waffengewalt die Regierung stürzen wollten?

Der Westen wirft Russland paradoxerweise genau das vor, was er selbst vorexerziert. Geradezu gespenstisch ist jedoch, dass die angeblich ach so freien und unabhängigen Medien sich dafür einspannen lassen. Das „unkommentierte“ Abdrucken von Agenturmeldungen gehört genauso dazu wie der Verzicht auf jedwedes kritische Nachfragen. Stattdessen wird immer wieder die gleiche Geschichte wie ein Mantra gebetsmühlenartig wiederholt – direkt oder indirekt durch Politiker, verteilt über das gesamte klassische publizistische Spektrum.

Moskaus rote Knechte

Wenn Kritik an den Missständen potentiell destabilisierend ist und die Destabilisierung des Westens das „strategische Ziel Russlands“ ist, das von der „politischen Führung Moskaus“ vorgegeben wurde, läuft jeder Kritiker natürlich auch Gefahr, als „Handlanger Moskaus“ dargestellt zu werden – dann sind wir „Moskaus rote Knechte, jedes Wort von uns ein Schuss in das Herz der freien Welt gezielt“. Dies gilt besonders für die „Populisten von links und rechts“, deren Parteien ja ohnehin unter Generalverdacht stehen, Russlands Marionetten zu sein.

Diese Wiederauferstehung der McCarthy-Ära ist dann auch der eigentlich geniale Kern der „Destabilisierungskampagne“. Vor allem im linksliberalen Lager herrscht schon seit längerem die panische Angst vor, einer wie auch immer gearteten „Querfront“ zugerechnet zu werden. Wer heute die Missstände des Westens – vor allem im außen- und sicherheitspolitischen Spektrum – kritisiert, läuft sogar sehr schnell real Gefahr, als „Stimme Moskaus“ gebrandmarkt und damit – was für die Beteiligten noch schlimmer ist – in die Schubladen „rechtsoffen“ und „Querfront“ einsortiert zu werden. Für linksliberale Intellektuelle und Journalisten kann dies nicht nur das Karriereende, sondern auch den materiellen Absturz mit sich bringen. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Und bevor man materiell auf Zwangsdiät gesetzt wird, verordnet man sich lieber selbst eine intellektuelle Diät und überlegt sich das mit der „destabilisierenden Kritik“ noch einmal.

Und wenn man sich einmal die lange Liste der Tatbestände anschaut, die de facto dazu beigetragen haben, dass Clinton nicht gewählt wurde, die Briten ihr Kreuzchen bei „leave“ gemacht haben und viele EU-Bürger die EU mittlerweile kritisch sehen, beginnt man die Tragweite des Ganzen zu erfassen. Hier werden Debatten mit äußerster Energie und großem Erfolg kanalisiert. Wann haben Sie zuletzt etwas von den Fehlern der etablierten Politik gehört oder gelesen, die den Wahlerfolg Trumps erst möglich gemacht haben? Wann ging es zuletzt um die Ursachen der Gelbwestenproteste? Wann um die Gründe für die Unzufriedenheit mit der EU? Stattdessen hört und liest man nur noch was von Russen und Populisten von rechts und links, die manipulieren und destabilisieren wollen. So langsam fühlt man sich, als sei man in einer orwellschen Dystopie aufgewacht, in der Neusprech und Doppeldenk die Regie übernommen haben. Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke! Kritik ist Destabilisierung!

Titelbild: Keith Gentry/shutterstock.com