Wohnungsnot und Mietexplosion – wir müssen die Verteilungsfrage diskutierten

Wohnungsnot und Mietexplosion – wir müssen die Verteilungsfrage diskutierten

Wohnungsnot und Mietexplosion – wir müssen die Verteilungsfrage diskutierten

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Wenn sich nicht nur Gering-, sondern mittlerweile sogar Normalverdiener in den Ballungsräumen keine Wohnung mehr leisten können, ist dies ein Alarmsignal und es ist gut, dass dieses Problem im Kielwasser des Berliner Volksbegehrens wieder öffentlich diskutiert wird. Leider fehlt es der Debatte jedoch häufig an Substanz und sowohl von der liberalen als auch von der linken Seite wird mit Idealvorstellungen gearbeitet, die so nicht haltbar sind. Bevor man in die Detailfragen der Wohnungspolitik geht, sollte man erst einmal eine sehr grundsätzliche Frage ernsthaft diskutieren: Wie will unsere Gesellschaft knappe Güter der Daseinsvorsorge verteilen? Denn wenn wir dies nicht diskutieren, ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die gerechte Verteilung von Grund und Boden und dem darauf geschaffenen Wohnraum ist eines der interessantesten Problemfelder der politischen Ökonomie. Denn Grund und Boden sind nun einmal zweifelsohne knappe Ressourcen, die sich auch nicht vermehren lassen und selbst beim Wohnraum gibt es abseits von Ästhetik und politischem Gestaltungswillen Grenzen, wie beispielsweise ein Blick auf die Hochhausschluchten von Hong Kong trefflich demonstriert. Wenn die Nachfrage nach Wohnraum größer ist als das Angebot, muss es einen Verteilungsmechanismus geben, der festlegt, wer zum Zuge kommt und wessen Wunsch nicht in Erfüllung geht. Wie könnte man beispielsweise die Vergabe von Wohnraum in einer attraktiven Gegend wie dem Hamburger Schanzenviertel gesellschaftlich regeln? Wer soll nach welchen Kriterien festlegen, wessen Wunsch auf Wohnraum in Erfüllung geht und wessen Wunsch nicht?

Möglichkeiten gibt es viele …

Vertreter des Naturrechts, wie beispielsweise der libertäre Ökonom Murray Rothbard, würden die Verteilung knapper Güter der Natur überlassen. Konkret hieße dies dann, dass der Stärkste oder besser durchsetzungsfähigste Bewerber zum Zuge käme, der seine Konkurrenten um den begehrten Wohnraum mit Gewalt vertreibt. Zum Glück haben Rothbard und seine Anhänger, wie der deutsche Ökonom Hans-Hermann Hoppe, abseits radikaler Zirkel der Tea-Party-Bewegung in den USA kaum eine politische Bedeutung, so dass eine Kündigung des Gesellschaftsvertrags und eine Rückkehr zum Naturzustand eigentlich nicht weiter diskutiert werden muss.

Ersetzt man physische durch finanzielle Stärke kommt man über kurz oder lang zum heute global weitverbreitetsten Verteilungsmechanismus für knappe Güter – den Markt. Wie bei einer Versteigerung erhält hier derjenige den Zuschlag, der bereit ist, für Grund und Boden beziehungsweise dem darauf errichteten Wohnraum am meisten zu zahlen. Dieses Verteilungssystem hat den großen Vorteil, dass es größtmöglich transparent und ungemein flexibel ist. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Problematisch ist jedoch, dass bei diesem Verteilungsmechanismus Menschen im Vorteil sind, die finanziell über größere Mittel verfügen. Die Verteilung von Wohnraum über den Markt ist also sehr effizient, aber auch sehr ungerecht.

Es gibt jedoch auch noch das andere Extrem. Das Gegenteil von Rothbards „Entstaatlichung“ ist die alleinige Zuteilung von Wohnraum durch den Staat. Und auch hier gibt es zahlreiche Mischformen und vor allem zahlreiche unterschiedliche Kriterien, anhand derer der Staat – also die Gemeinschaft – knappe Güter wie Wohnraum zuteilen kann. So genossen in der DDR beispielsweise verheiratete Paare mit Kindern bessere Chancen bei der Zuteilung einer der begehrten Neubauwohnungen und im kommunistischen China der 80er und 90er Jahre war die Mitgliedschaft in der Partei eine Grundvoraussetzung, um eine attraktive Neubauwohnung zu beziehen. Mittlerweile ist China jedoch dabei, sein Auswahlverfahren für die Verteilung von Wohnraum gewissermaßen zu perfektionieren. Regional wird bei der Zuteilung von Wohnungen bereits heute das umstrittene „Social-Credit-System“ als Verteilungsschlüssel verwendet – in einigen Jahren soll dieses System landesweit umgesetzt werden. Die Idee: Wer sich im Sinne der Gesellschaft positiv verhält, hat bessere Chancen bei der Zuteilung als diejenigen, die nach den Maßstäben dieses Punktesystems destruktiv agieren – dazu gehört dann beispielsweise auch die öffentliche Kritik am Staat und am chinesischen System in Onlineforen. Am Ende hat also derjenige die besten Chancen, der stets opportunistisch agiert und seine Individualität radikal der Gemeinschaft unterordnet. Dies ist die totalitaristische Alternative zum unregulierten Markt oder zum Naturrecht, die jedoch kaum auf europäische Verhältnisse übertragbar ist, da in unserer Gesellschaft individuelle Freiheiten einen hohen Stellenwert genießen.

Der regulierte Markt ist die einzig denkbare Alternative für Deutschland

Auch wenn im Zusammenhang der Debatte um bezahlbaren Wohnraum viel vom „Markt“ gesprochen wird, wird dieser Begriff nur selten korrekt verwendet. So heißt es beispielsweise oft ausgerechnet von linker Seite, der „Wohnungsmarkt in Berlin, Hamburg oder München funktioniere nicht mehr richtig“. Doch das ist komplett falsch und zeigt, wie marktgläubig viele „Kritiker“ schon sind, ohne dass es ihnen wirklich bewusst ist. Selbstverständlich sind Märkte kein per se gerechter Verteilungsmechanismus, solange das Budget der Marktteilnehmer derart ungleich verteilt ist. Ein Wohnungsmarkt, der auf Knappheit mit Preissteigerungen reagiert, funktioniert genau so, wie ein Markt funktionieren muss. Wenn es im Hamburger Schanzenviertel 5.000 Wohnungen gibt, aber gleichzeitig bei aktuellen Preisen eine Nachfrage nach 15.000 Wohnungen besteht, wird in einer nicht regulierten Marktwirtschaft die Vergabe wie bei einer Auktion über die Zahlungsbereitschaft oder in der Realität wohl eher über die Zahlungskraft der Interessenten ausgefochten, was naturgemäß zu massiven Preissteigerungen führt. Die Preise steigen so lange, bis Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht sind. Genau so funktionieren Märkte. Ob dieses Gleichgewicht gerecht oder gesellschaftlich tolerierbar ist, ist keine Frage, die der Markt zu beantworten hat. Das ist Aufgabe der Gesellschaft. Daher ist es auch sehr kritisch, die Daseinsvorsorge den Märkten zu überlassen.

Wenn wir dies als Gesellschaft so nicht akzeptieren wollen – und dafür gibt es ja zahlreiche gute Gründe – dann müssen wir den Markt oder den Zugang zum Markt teilweise oder komplett regulieren. Dafür gibt es zahlreiche Möglichkeiten und eigentlich muss die Gesellschaft nur definieren, welche Kriterien sie ansetzen will. Ein freies Recht auf Wohnen am Ort der Wahl kann es jedoch nicht geben – Wohnraum ist nun einmal eine begrenzte Ressource und wenn es regional oder lokal mehr Nachfrage als Angebot gibt, kann die Nachfrage nun einmal nicht vollständig bedient werden. Man darf den Menschen keinen Sand in die Augen streuen, sondern sollte lieber machbare Alternativen diskutieren, die das Problem wenn auch nicht beseitigen, dann doch zumindest lindern können.

Denkbar wäre beispielsweise eine „Zwangsvergabequote“ an Interessenten mit begrenztem Budget, also beispielsweise Arbeitnehmer mit geringeren Einkommen, Erwerbslose, Rentner oder Studenten mit Bafög-Anspruch. Ähnlich funktioniert(e) ja die heute in Deutschland leider kaum noch vorkommende Mietpreisbindung im sozialen Wohnungsbau. Aber man muss sich natürlich auch im Klaren darüber sein, dass auch diese Lösung keine Patentlösung für die Verteilungsfrage ist. Wenn es eine Nachfrage nach 15.000 Wohnungen in einem Stadtteil gibt, aber nur 5.000 Wohnungen zur Verfügung stehen, wird immer nur ein Drittel der Interessenten bei der Zuteilung zum Zuge kommen. Eine Regulierung des Marktes kann jedoch dazu führen, dass diese Zuteilung nicht „ausschließlich“ auf Basis der finanziellen Möglichkeiten erfolgt. Auch andere Verteilungskriterien sind durchaus denkbar. Das fängt beim DDR-Modell der Priorisierung von Familien mit Kindern an und geht bis zu ökologisch fundierten Varianten, die Arbeitnehmer bevorzugen, deren Arbeitsplatz in der unmittelbaren Nachbarschaft liegt. Der Möglichkeiten gibt es viele, man müsste sie aber erst einmal debattierten und dann ausloten, was überhaupt politisch umsetzbar ist.

Ähnliches trifft auch auf die Regulierung des Marktes selbst zu. Albrecht Müller hatte dazu erst gestern an das Konzept einer Bodenwertzuwachssteuer erinnert und auch eine verschärfende Reform der Mietpreisbremse wäre längst überfällig. Last but not least könnte der Staat natürlich auf verschiedene Arten selbst als Akteur auf der Angebotsseite in das Marktgeschehen eingreifen und um dies zu ermöglichen, dürfen Enteignungen – oder präziser „Vergesellschaftungen“ – kein Tabu sein.

Am Grundproblem der Knappheit ändert die Verteilung aber zunächst einmal nichts, wenn das Angebot im weitesten Sinne unflexibel ist. Und wer aus der Schanze, Kreuzberg oder dem Glockenbachviertel kein zweites Hong Kong machen will, der kann ehrlicherweise auch nicht den Eindruck erwecken, es gäbe einen gerechten Verteilungsschlüssel, der alle Seiten befriedigen könnte. Das hat dann auch nichts mit dem Wirtschaftssystem zu tun. Weder Marx, noch Friedman, Hayek, Keynes, Schumpeter, Pareto oder Sen haben eine Antwort darauf, wie man eine knappe Ressource so verteilen kann, dass jeder zufrieden ist. Wenn das Angebot nicht erweitert werden kann, muss die Nachfrage reduziert werden. Auch wenn man aus der Schanze keine Hochhaussiedlung machen kann, kann man sehr wohl andere Stadtteile so attraktiv machen, dass die regionale Nachfrage sich verschiebt. Dies sollte die Grundlage der Debatte sein, auf deren Basis weitere Überlegungen aufbauen können.

Wichtig ist auch, dass wir uns von dem Gedanken verabschieden, der Markt könne derlei Probleme mit ein wenig regulierenden Eingriffen schon mehr oder weniger gerecht lösen. Das ist leider nicht möglich. Wir müssen Kriterien definieren, wie wir künftig dort knappen Wohnraum verteilen wollen, wo der Markt diese Funktion nicht im Sinne der Gesellschaft wahrnehmen kann. Wenn uns dies gelingt, wären wir schon mal einen großen Schritt weiter. Doch diese Debatte wird leider nicht geführt.

Titelbild: ArTono/shutterstock.com

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