70 Jahre Bundesrepublik. Auf und ab. Und wie gehts weiter?

70 Jahre Bundesrepublik. Auf und ab. Und wie gehts weiter?

70 Jahre Bundesrepublik. Auf und ab. Und wie gehts weiter?

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Am 23. Mai 1949 wurde in Bonn das Grundgesetz verkündet und verabschiedet. Wahrscheinlich wird in den nächsten Tagen noch einiges darüber und über die vergangenen 70 Jahre zu lesen sein. Da ich relativ früh politisiert war, habe ich fast die gesamten 70 Jahre bewusst miterlebt und mir jetzt ein paar Gedanken dazu gemacht. Albrecht Müller.

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Wir leben in einer verrückten Welt. Unsere Straßen sind voll von dicken protzigen Autos, gleichzeitig suchen alte Menschen verschüchtert nach Pfandflaschen in den Abfalleimern unserer Städte. Die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rente, von der die Mehrheit der Menschen im Alter abhängt, wurde absichtlich beschnitten, um den Versicherungen das Geschäftsfeld der Privatvorsorge zu öffnen. Altersarmut wird hingenommen und produziert, damit andere Geschäfte machen. Im Namen von Demokratie und Freiheit werden Kriege in aller Welt geführt, die Millionen Tote und Verletzte fordern. Der Westen produziert so Terroristen und wundert sich dann, dass es Terrorismus gibt.

Die öffentliche Propaganda verkündet: Es geht uns so gut wie nie. Gleichzeitig stecken Hunderttausende in Leiharbeit und anderen prekären Arbeitsverhältnissen. In vielen Familien reicht ein Job allein nicht für das Leben, weil der Lohn zu niedrig ist und die Mieten zu hoch sind. Ein leibhaftiger Bundeskanzler hat sich dieses Zustands gerühmt; er verkündete stolz, den besten Niedriglohnsektor geschaffen zu haben. Der mächtigste Staat der Welt wird von einem Präsidenten geführt, der mit Twitter regiert. Seine „Demokratische“ Konkurrenz ist auch nicht besser. Oft weiß die Weltöffentlichkeit nicht, wer in den USA regiert. Eine verrückte Welt!

Das Durcheinander, die Enttäuschungen, die unverständlichen Entscheidungen und gefährlichen Entwicklungen sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind von Menschen gemacht. Und sie ließen sich korrigieren. Wenn wir ein bisschen aus Erfahrungen lernen würden. Wenn wir ein bisschen fragen, was vernünftig wäre. Das ist die Hoffnung trotz Verrücktheit.

Wir könnten schon viel weiter sein: Wir könnten in Frieden leben, wenn wir wie 1990 vereinbart Konflikte friedlich zu lösen versuchen würden, statt uns in eine neue Konfrontation hinein treiben zu lassen. Wir könnten in viel humaneren und gerechteren Verhältnissen leben als heute, wenn wir uns dafür entschieden hätten, der neoliberalen Ideologie zu widersprechen und zu trotzen. Aber viele, viel zu viele sind der Propaganda erlegen und haben in entscheidenden Phasen der jüngeren Geschichte jenen die Verantwortung überlassen bzw. übertragen, die ihr eigenes Wohl und nicht das unsere verfolgt haben. Die Mehrheit hat zum Beispiel jenen die Verantwortung überlassen, die den Konflikt zwischen West und Ost neu entfachen wollten. „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen.“ Das hatte der neugewählte Bundeskanzler Willy Brandt 1969 versprochen und dann entsprechend dieser Devise versucht zu regieren. Aber dieses Versprechen wurde inzwischen entsorgt.

Das Versprechen hielt bis 1990. Wir haben seitdem gegen andere Völker, wie etwa gegen Russland, aufgerüstet. Wo „Gemeinsame Sicherheit“ geplant war und einander versprochen war, haben wir getrennt; wir haben das Feindbild gepflegt, und unsere wichtigsten Medien arbeiten eifrig am Aufbau des Feindbildes Russland weiter, statt wie verabredet die Nachbarschaft und Freundschaft zu pflegen. Eine wirklich verrückte Welt.

Mich erinnert der aggressive Feindbildaufbau gegenüber Russland, den wir heute erleben, an eine frühe Zeit der Bundesrepublik, an die ersten Jahre. Damals hätte es die Chance gegeben, sich mit unseren „Brüdern und Schwestern“ in der DDR, wie es zugleich feierlich und verlogen hieß, zusammenzutun. Die erste große Aufwärtsbewegung jener Zeit lautete nämlich „Nie wieder Krieg“. Dieses Bekenntnis wurde zugleich von fortschrittlichen und konservativen Kräften in den ersten Jahren nach 1945 laut und deutlich formuliert. Das hängt mir aus Kindeszeit noch in den Ohren und es hat gut geklungen. Dann kam Adenauer im Auftrag oder ohne Auftrag der Westalliierten mit dem Vorschlag und der Entscheidung zur „Wiederbewaffnung“, wie man damals sagte. Gemeint war die Gründung der Bundeswehr und ihre Integration in die NATO. Dagegen gab es eine ziemlich breite Bewegung. Selbst in meinem Dorf im Kraichgau haben wir damals eine Demonstration, einen Fackelzug, gegen die Wiederbewaffnung organisiert. Parallel dazu ist der Mitgründer der rheinischen CDU, Gustav Heinemann, aus Protest gegen die Wiederbewaffnung aus dieser Partei ausgeschieden und hat sein Amt als Bundesinnenminister niedergelegt. Er gründete eine Partei, die Gesamtdeutsche Volkspartei, GVP. Deren Hauptforderung war, die damaligen Angebote der Sowjetunion und des Warschauer Paktes wenigstens zu prüfen. Sie liefen darauf hinaus, Deutschland zu vereinigen unter der Bedingung, dass Deutschland zwischen Ost und West neutral bliebe und nicht bewaffnet würde. Das war eine angenehme Bedingung. Diese Idee fand auch ich damals einleuchtend. Aber die Gesamtdeutsche Partei und unsere Ideen wurden damals in einem großen Propagandafeldzug niedergemacht. Und der Kalte Krieg wurde gepflegt und propagandistisch aufgerüstet.

Über die Möglichkeit von damals, nämlich das ganze Elend der Teilung mit all dem Leid und Tod zu vermeiden, spricht heute niemand mehr, auch nicht bei den 70-Jahr-Feiern. Darauf würde ich Wetten abschließen.

Wir sind nicht da, wo wir sein könnten, wir sind nicht einmal da, wo wir schon waren, weil wir nicht Herr im eigenen Haus sind. Ich hatte 2014 in einem Text auf den Nachdenkseiten vom Kolonie-Status unseres Landes geschrieben. Darüber haben sich einige Leser furchtbar aufgeregt. Meines Erachtens zu Unrecht. Unsere Freiheit zur Gestaltung unserer Gesellschaft und unserer Beziehungen mit anderen Völkern ist beschränkt. Die USA mischen sich über die NATO, über ihnen dienstbare Staaten in Europa, über ihren massenhaften Einfluss auf große deutsche Unternehmen sowie auf Politiker und Medien und mithilfe von einseitig verkündeten Sanktionen und Strafen in unsere ureigenen Entscheidungen ein. Das ist ein großes Problem. Darüber wird nachzudenken sein.

Die 81 Jahre meines Lebens fallen mit einer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung zusammen, die man treffend als Kurve darstellen kann, als Auf und Ab: Es begann im Krieg und endet möglicherweise in einem neuen großen Krieg. Ein Horror für unsere Kinder und Enkel. Zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den heute wieder aufgebrochenen neuen Konflikten und Kriegen lag eine Phase der Entspannung und des Sich-Vertragens, der Versöhnung zwischen verfeindeten Völkern – zumindest in Europa.

Ähnlich verlief die innere Entwicklung. Totaler staatlicher Terror in der Nazizeit, dann ein bisschen Hoffnung in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, aber noch unter dem Einfluss von Nationalsozialisten und von der Regierung Adenauer aus vermischt mit dem Drang zur Restauration und angefüllt vom Kalten Krieg. Dann die Öffnung in den sechziger und siebziger Jahren. Mehr Demokratie wagen – lautete die Parole der Politik. Die Entdeckung lebendigen demokratischen Streits und der Lust auf Reformen zugunsten der Mehrheit und der Benachteiligten: die Reform des Rechts zugunsten von Frauen und Familien, die Öffnung der weiterführenden Schulen und Hochschulen für die Kinder der Arbeiterschaft, getragen vom Geist der Solidarität und der Erkenntnis, dass Sozialstaatlichkeit eine gute gesellschaftliche Erfindung und die soziale Sicherung ein wichtiger Baustein und Bindemittel unseres Zusammenlebens ist. Getrübt von Erscheinungen wie dem Radikalenerlass. Wahrlich nicht perfekt. Keineswegs. Aber besser als alles andere.

Namhafte Politiker hatten damals den Mut, ein Stück geistige Führung zu übernehmen, so könnte man sagen. Despektierlich würde man sagen: Moral zu predigen. Brandt tat das bei einem Auftritt mitten im Wahlkampf im Oktober 1972. Da regte er an, mehr Mitgefühl zu zeigen und notfalls auch mit anderen Menschen mitzuleiden. Er sprach von Compassion. Das war das Kontrastprogramm zum zuvor gepflegten Wirtschaftswunder-Egoismus wie auch zur nachfolgenden neoliberalen Ideologie mit dem dann verbreiteten Glaubenssatz, Jeder sei seines Glückes Schmied. Dieser Unterschied ist übrigens von großer Bedeutung bei der Beantwortung der Frage, wie wir unsere Gesellschaft künftig gestalten wollen. Auf der gängigen Formel „Jeder ist seines Glückes Schmied“ können wir unsere Zukunft nicht aufbauen. Auf der Basis eines solchen Glaubens lässt sich die Zerstörung der Artenvielfalt und der Umwelt nicht stoppen und auch nicht der Rüstungswahnsinn und auch nicht solche Ideologien wie „America first“. Mit der Behauptung, Jeder sei seines Glückes Schmied, können wir auch die Armut in der Welt und den Hunger nicht bekämpfen.

Nie haben sich zuvor und danach so viele Menschen an politischen Debatten und Entscheidungen und an der Entwicklung von Programmen zur Reform unserer Gesellschaft beteiligt wie in den sechziger und siebziger Jahren. Die Wahlbeteiligung erreichte mit 91,1 % im Jahr 1972 einen Spitzenwert, genauso die Mitarbeit und Mitgliedschaft in Parteien. Die Vor-Achtundsechziger, zu denen ich gehörte, und die Achtundsechziger lockerten die Verkrustungen auf, mischten unser Land auf, entsorgten den „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“ – jedenfalls versuchten sie es. Sie brachten neuen Wind an die Universitäten, an die Schulen und ins ganze Land.

„Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten“ – das war die Überschrift eines Flugblatts, das die SPD 1971 verbreitete und dessen Urheber ich war. Damals ist es gelungen, Mehrheiten für die Einsicht zu gewinnen, dass die Versorgung mit öffentlichen Gütern des Grundbedarfs, also mit Wasser, öffentlichem Nahverkehr, Schulen und Universitäten, Energie, Telekom und auch das Fernsehen und der Hörfunk in öffentliche Verantwortung gehört. An der Huldigung für die „Schwarze Null“ und ihre Vertreter kann man inzwischen erkennen, welchen geistigen und faktischen Verfall wir inzwischen erlebt haben.

Ich bin überzeugt, dass sich Mehrheiten auch heute für eine vernünftige und soziale Politik gewinnen ließen. Das ist die kleine Hoffnung – die Hoffnung, dass es nach dem Auf und dem Ab wieder ein Aufwärts geben könnte. Die Hoffnung beruht darauf, dass irgendwann Personen an die Hebel der politischen Gestaltung kommen, die den Mut haben, die Menschen bei ihren guten Tugenden zu packen: bei ihrer Bereitschaft zur Solidarität statt des heute mobilisierten Egoismus, bei ihrer Neigung, mit Nachbarn, auch mit anderen Völkern, und mit allen gut auszukommen, Freundschaften zu pflegen, statt gegeneinander aufzurüsten. Bei der Mehrheit der Menschen können die positiven Seiten des menschlichen Wesens angesprochen werden. Diese sind zurzeit verschüttet. Aber sie sind da. Ähnlich wie vor 50 Jahren, als schon einmal versucht wurde, das bessere Deutschland, das anständigere Deutschland, wie damals einer etwas vorwitzig formuliert hatte, zu mobilisieren.

Titelbild: nitpicker /