Großbritannien – die repräsentative Demokratie frisst ihre Kinder

Großbritannien – die repräsentative Demokratie frisst ihre Kinder

Großbritannien – die repräsentative Demokratie frisst ihre Kinder

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Wenn die Briten am nächsten Donnerstag das Parlament wählen, von dem sie eigentlich ja gar nicht vertreten werden wollen, wird aktuellen Prognosen zufolge die nationalistische „Brexit-Partei“ des ehemaligen UKIP-Chefs Nigel Farage mit 34% fast doppelt so viele Stimmen bekommen, wie die Tories und Labour zusammen. Farage ist unpopulär. Sein Beliebtheitswert liegt bei -34. Doch mit diesem katastrophalen Wert ist er zur Zeit gleichzeitig der beliebteste Politiker des Landes – May und Corbyn sind sogar noch unbeliebter. Großbritannien wird vom Brexit-Taumel in den Abgrund gerissen und eine Rettung ist nicht erkennbar. Von Jens Berger.

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Es kam, wie es kommen musste – der Brexit wurde zur Gretchenfrage der britischen Politik und zerreißt dabei nicht nur das Land, sondern auch die beiden ehemals großen Parteien, die dank des Mehrheitswahlrechts die britische Politik seit ziemlich genau 100 Jahren bestimmen. Die mit harten Bandagen geführten innerparteiischen Flügelkämpfe der regierenden konservativen Tories verhindern bis heute eine gemeinsame Linie beim Brexit und bei der oppositionellen Labour Partei gibt es noch nicht einmal eine gemeinsame Antwort auf die Frage, ob das Land denn nun wirklich aus der EU austreten sollte. Man verhandelt zwar zur Zeit zusammen mit den „gemäßigten“ Tories über eine gemeinsame Initiative, die aber Parteiinsidern zufolge ohnehin von mehr als der Hälfte der Labour-Abgeordneten nicht mitgetragen werden dürfte. Vordergründig geben sowohl Theresa May als auch Jeremy Corbyn eine äußerst schlechte Performance in der Brexit-Frage ab und werden dafür – nicht zu Unrecht – mit Popularitätsverlust bestraft. Andererseits stehen beide Parteichefs jedoch auch vor einer „Mission Impossible“, da ihre Parteien und ihre Anhänger in mehrere Lager zerfallen sind, die schlicht inkompatibel sind. Dass Kompromisse nicht mehr möglich sind, zeigen die unzähligen Abstimmungsniederlagen im Unterhaus.

Und wenn sich die zwei großen Parteien selbst derart grundlegend demontieren, freut dies natürlich allen voran die kleineren Parteien, die bei der Brexit-Frage eine klare Position haben. Und dies ist allen voran die – nomen est omen – „Brexit-Partei“, die als Abspaltung der immer stärker im rechtsextremen Sumpf versinkenden UKIP von deren ehemaligem Chef Nigel Farage angeführt wird. Farages Brexit-Partei dürfte nicht nur bei den Europawahlen als mit Abstand stärkste Kraft abschneiden, sondern liegt zur Zeit auch bei den viel wichtigeren Umfragen zu den Unterhauswahlen mit 18% nur noch knapp hinter den beiden großen Parteien, die ihre Anhängerschaft binnen eines Jahres fast halbiert haben.

Dies ist im historischen Kontext ein Treppenwitz, der nur mit tiefschwarzem britischen Humor zu fassen ist. Schließlich waren es die guten Umfragewerte von Farages UKIP und deren Sieg bei den Europawahlen 2014, die den damaligen Premier David Cameron dazu bewegt haben, die unbequeme Opposition von rechtsaußen durch ein Brexit-Referendum zu marginalisieren, bei dem man felsenfest davon überzeugt war, dass es scheitern würde. Es kam anders und es kam knüppelhart.

Cameron wollte den rechten Flügel seiner Partei rund um Boris Johnson und Farages UKIP mit dem Referendum zerstören und heute stehen die Tories selbst vor der Übernahme durch den rechten Parteiflügel und Farages neue Partei ist drauf und dran, stärkste Kraft im Land zu werden. Mays Zeiten sind ohnehin gezählt und ihr wohl aussichtsreicher Nachfolger ist niemand anderes als Boris Johnson – Camerons Erzrivale. In der Geschichte der repräsentativen Demokratie gab es wohl keinen vergleichbaren Fall, bei dem ein politischer Winkelzug derart daneben gegangen ist. Man könnte dies als außenstehender Beobachter natürlich spöttisch bejubeln, schließlich sind Cameron, Johnson und May allesamt anerkannte Unsympathen. Doch dies ist leider kein Grund zur Schadenfreude. Denn die Perspektiven für das Land sind aus progressiver Sicht tiefschwarz.

Nigel Farage ist ein ehemaliger Rohstoffspekulant, der sich zur Zeit seinen prunkvollen Lebensstil (Haus in Chelsea, Bodyguards, Fahrer) von dem dubiosen reaktionären „Geschäftsmann“ Aaron Banks finanzieren lässt, der auch – mit seinem eigenen und fremdem Geld, das wahrscheinlich von reaktionären Kräften aus dem Umfeld der US-Erdölindustrie stammt – zu den Hauptfinanziers der Brexit-Kampagne gehörte. Sozial-, wirtschafts- und finanzpolitisch ist Farage ein neoliberaler Ultra, der den Staat an sich für das Grundübel hält. Boris Johnson ist da nur marginal „besser“. Der Oberklassen-Spross, in dessen Stammbaum sogar ein britischer König auftaucht, ist ebenfalls wirtschaftsliberal bis zum Anschlag und plant zusammen mit seinem Parteifreund, dem millionenschweren Fondsmanager Jacob Rees-Mogg, aus Großbritannien nach dem Brexit ein wirtschaftsliberales Paradies nach dem Vorbild von Singapur machen. Wenn Farage, Johnson und Co. sich durchsetzen, dürfte dieses wirtschaftsliberale Paradies gleichzeitig zur Hölle für die arbeitende Bevölkerung werden – zumal die letzten Reißleinen der EU-Standards dann auch nicht mehr gelten.

Und das Szenario eines Post-Brexit-Britanniens, das durch eine rechte ultra-wirtschaftsliberale Koalition von Brexit Party und den Tories regiert wird, ist alles andere als unrealistisch. Verantwortlich dafür ist das britische Mehrheitswahlrecht und die Zwietracht im „linken“ Lager. Die ohnehin schon zwischen neoliberalen Blairisten und sozialistischen Corbynisten gespaltene Labour-Partei ist durch die Brexit-Frage vollends zerrissen. Parteichef Corbyn hatte zunächst sehr lange gezaudert, überhaupt Stellung zu dem Thema zu beziehen und fährt seitdem eine recht schwammige Linie zwischen „Brexit mit Zollunion“ und „zweitem Referendum als letzter Option“. Wähler und Partei überzeugt das nicht. Der Rest des Remain-Lagers verteilt sich auf mehrere Parteien, die dank des Mehrheitswahlrechts, bei dem nur der Gewinner des Wahlkreises ein Mandat bekommt, schon rechnerisch zu keiner parlamentarischen Mehrheit kommen dürften.

So wurde unter dem Slogan der direkten Demokratie, gesteuert von millionenschweren Geldern steinreicher Reaktionäre, ein Volksentscheid abgehalten, der das traditionelle britische Parteiensystem zersetzt und damit der Grundstein für ein Post-Brexit-Britannien gelegt, das sich irgendwo zwischen Ultra-Neoliberalismus, Nationalismus, Chauvinismus und Populismus bewegt. Antworten oder gar Auswege aus diesem Dilemma sind nicht erkennbar. Vor allem unter den jüngeren Briten macht sich stattdessen Zynismus und Defätismus breit. Waren Jeremy Corbyn und Labour noch vor zwei Jahren die große Alternative zum alltäglichen politischen Irrsinn und eine progressive Wende zum Greifen nah, ist der Himmel über den Inseln heute tiefschwarz.

Titelbild: Alexandros Michailidis/shutterstock.com