Steuert die Welt auf den großen Crash zu? Russische Überlegungen zur Krise des Multilateralismus

Steuert die Welt auf den großen Crash zu? Russische Überlegungen zur Krise des Multilateralismus

Steuert die Welt auf den großen Crash zu? Russische Überlegungen zur Krise des Multilateralismus

Hannes Hofbauer
Ein Artikel von Hannes Hofbauer

Zum sechsten Mal lud der Valdai-Diskussionsklub, der seit 15 Jahren regelmäßig die Größen nicht nur der russischen Politik und Diplomatie in Kasan, Rostow, Sankt Petersburg und zuletzt in Sotchi versammelt, zu einer europäischen Konferenz. Sie fand am 21. Mai 2019 in Wien statt. Es begann mehr als holprig. Von Hannes Hofbauer.

“Abgesagt”, vermerkt der diensthabende Wachposten der Österreichischen Landesverteidigungsakademie trocken und schickt den Teilnehmer der Valdai-Konferenz wieder auf die Straße hinaus. Die Türen zum angekündigten Konferenzort in der Wiener Stiftskaserne bleiben verschlossen. Nur wenige Stunden zuvor hatte das österreichische Verteidigungsministerium seine Zusammenarbeit mit den Organisatoren des russischen Diskussionsklubs aufgekündigt. “So etwas ist uns noch nie passiert”, meint Andrej Bistritskij vom Valdai-Klub später im Ausweichquartier des “Grand Hotel” am Wiener Ring und schüttelt verständnislos den Kopf. Der Hinauswurf der hochrangig besetzten Runde, zu der unter anderem auch der russische Vizeaußenminister Alexander Gruschko gehört, mag etwas mit den innenpolitischen Turbulenzen in Österreich zu tun haben, die in diesen Tagen schnurstracks in eine Staatskrise führen, von russischer Seite wird er allerdings als internationaler Affront interpretiert, den es so nicht bedurft hätte.

Fjodor Lukjanow, langjähriger Journalist und einer der besten Kenner der russischen Außenpolitik, erinnert in seiner Anmoderation daran, dass sich ziemlich genau vor 100 Jahren hier in Wien ein Mann auf die Revolution in Russland vorbereitet hat, es war “der Herr Bronstein aus dem Café Central”, besser bekannt als Leo Trotzki. Auch heute wieder, so Lukjanow, leben wir in turbulenten Zeiten und die Welt steht am Scheideweg. “Gemeinsam oder Me first” lautet dementsprechend das Motto der Valdai-Konferenz, die darüber diskutiert, wie es in Zukunft mit der multilateralen Diplomatie aussehen und ob es eine solche noch geben wird.

Den Anfang macht Thomas Greminger, seines Zeichens Generalsekretär der OSZE und Schweizer Diplomat. Optimismus kann und will er nicht verstreuen. “Wir beobachten ein starkes Ansteigen des Misstrauens”, meint er, “gegenüber Regierungen, multilateralen Institutionen und auch gegenüber Medien”. Die Ursache dafür sieht Greminger in ungelösten Problemen wie der Migration, steigender internationaler Gewaltbereitschaft und einer “Me first”-Haltung, die in die obersten politischen Ränge Einzug gehalten habe. Die Hauptverursacher der weltpolitischen Schieflage nennt er, ganz Diplomat, nicht beim Namen.

Der stellvertretende russische Außenminister Alexander Gruschko ist da schon wesentlich direkter. Sein Referat gerät zur großen Anklage gegen Washington und insbesondere das Pentagon. Kriege und Sanktionen sind keine Mittel, mit denen Politik gemacht werden sollte, meint er gleich zu Beginn. Doch die USA würden genau darauf setzen. Penibel zählt Gruschko auf, wo die USA in der Welt für Destabilisierung sorgen, wobei der den Bogen vom NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 bis zur aktuellen Politik gegen Venezuela spannt; dann nennt er Nikaragua und Kuba, die seinen Informationen zufolge bald ins Visier von US-Interventionen geraten könnten. Besonders beunruhigend findet Gruschko, wie Washington in den vergangenen Jahren “illegitime unilaterale Sanktionen” gegen eine Vielzahl von Ländern verhängt: “Diese heute zur Routine der US-Außenpolitik gewordene Vorgangsweise ist sehr gefährlich.” Und die Europäische Union sieht dem Treiben zu. Alles Gerede über die Notwendigkeit multilateralen Austausches, so der stellvertretende russische Außenminister, findet keinerlei Niederschlag in der konkreten Politik. Die Epoche des Multilateralismus, in den Russland viel Energie gesteckt habe, scheint dem Ende zuzugehen, so jedenfalls hört sich die Analyse aus Moskau an.

Unterstrichen wird diese Einsicht dann von Konstantin Kosachev, Vorsitzender des Ausschusses für internationale Beziehungen im russischen Föderationsrat, dem parlamentarischen Oberhaus. Er spricht Klartext: “Die US-Idee eines Multilateralismus fußt darauf, jeweils willige Koalitionen zu schaffen, um eine Übermacht zu bekommen, während die Europäische Union in der multilateralen Diplomatie ein Konzept von Solidarität aufbaut, das sie selbst in eine Falle geführt hat.” Als Beispiel nennt Kosachev den Umgang mit der Ukraine-Krise innerhalb der EU. Da zwingt die “Solidarität” alle Mitglieder zum Schweigen, wenn sie den Positionen führender Staaten nicht folgen wollen. Auch im Falle Kosovos sieht der hochrangige russische Abgeordnete politischen Druck statt Diplomatie am Werk. “Wie die USA sich da gerieren, hat nichts mit Diplomatie zu tun”, sagt er und meint damit, dass es keine offenen, multilateralen Gespräche mit den betroffenen Staaten gibt.

Einen Kontrapunkt zur russischen Sicht auf die Weltlage setzt dann Thomas Gomart, Direktor des Instituts für internationale Beziehungen (IFRI) in Paris. Seiner Meinung nach ist die Welt bereits ins “dritte nukleare Zeitalter” – nach dem Ende des Kalten Krieges und der Verbreitung von Atomwaffen – eingetreten. Damit umschreibt er die neue konfrontative Phase zwischen dem Westen und Russland, die manche westlichen Historiker im Jahr 2014 mit, wie sie es nennen, der Annexion der Krim beginnen lassen. “Uns steht eine multipolare Welt ohne Multilateralismus bevor”, resümiert er und ist sich bewusst, wie brandgefährlich eine solche wäre.

Zum Abschluss der Konferenz gibt es dann noch ein paar entspannende Worte von Sergej Oznobischev vom Institut für Weltwirtschaft und internationale Entwicklung der Akademie der Wissenschaften (IMEMO) in Moskau. Der betagte Diplomat, der schon bei den Verhandlungen über den von den USA nie ratifizierten SALT-II-Vertrag 1979 in Wien dabei war, zitiert den “großen russischen Präsidenten Tschernenko”, wie er ihn ironisch nennt, mit dessen Stehsatz: “So etwas wie heute hatten wir früher nie, und jetzt haben wir es schon wieder”. Da schwang durchaus Selbstkritik mit.

Titelbild: © Valdai Club