Das kranke System meiden und gesund bleiben

Das kranke System meiden und gesund bleiben

Das kranke System meiden und gesund bleiben

Ein Artikel von Sven Böttcher

Eine grundsätzliche Erkenntnis wird bei jedem Arztbesuch ganz automatisch verdeckt, von Reinheit und Autorität signalisierendem Weiß: »In jeder gesellschaftlichen Subgruppe, egal ob man diese nach Schicht, Geschlecht, Ausbildung oder Beruf differenziert, bleiben die Anteile der Intelligenten (20%), der Durchschnittlichen (40%) und der Doofen (40%) konstant. Unter Professoren gibt es genauso viele dumme Menschen wie unter Polizisten, Putzfrauen oder Polsterern, und umgekehrt« (Harald Welzer).[1] Der Fairness halber sei hier alliterierend ergänzt: »sowie unter Patienten«.[2] Aber wir wollen hier nicht erörtern, ob Welzer sich um ein paar optimistische Prozentpunkte vertan hat, grundsätzlich erscheint mir die Einteilung realistisch – und soll hier beileibe nicht zur Volksbeschimpfung dienen, sondern als Leuchtmittel zur Erhellung eines für uns fast unsichtbaren Problems. Ein Auszug aus dem Buch „Rette sich, wer kann!“ von Sven Böttcher.

Wenn wir an einen der acht von zehn durchschnittlichen oder doofen Bäckern geraten, hat das für uns keine dramatischen Folgen, sondern bedeutet nur ein mäßiges oder versautes Frühstück. Geraten wir an einen der acht von zehn mittelmäßigen oder doofen Ärzten, kann das allerdings mit etwas Pech ein mäßiges bis versautes Leben bedeuten. Oder eben ein verkürztes, wie die bummelig 200.000 bis 500.000 iatrogenen Todesopfer pro Jahr in der EU und den USA eindrucksvoll belegen.

Welzers Angebot von 80 Prozent Mittelmäßigen oder Doofen wird betreffend unsere Ärzteschaft indes interessant gestützt, denn »Schätzungen zufolge wollen oder können 80 Prozent der Ärzte in Deutschland keine Artikel auf Englisch lesen«.[3] Was durchaus nicht egal ist, da etwa 95 Prozent der relevanten medizinischen Fachliteratur und Studien ausschließlich auf Englisch publiziert werden. Dieses achtzigprozentige Desinteresse der Behandler an fast allen für sie relevanten Informationen erklärt immerhin, weshalb Deutschland, anders als fast alle anderen europäischen Länder von Spanien bis Dänemark, seinen Ärzten sowie der Bevölkerung den uneingeschränkten freien Zugang zu »einer der besten Quellen für medizinische Forschungsergebnisse«[4] verweigert, nämlich der unabhängigen Cochrane Collaboration.[5] Diese Vereinigung stellt seit 1993 Metastudien an, wertet also die Ergebnisse diverser Studien aus und bewertet dabei auch die Qualität der Studiendesigns, bietet also fraglos eine äußerst wertvolle Entscheidungshilfe für niedergelassene Ärzte wie Patienten.[6] Aber nicht in Deutschland. Denn der freie Zugang würde das Gesundheitsministerium wohl etwa 1 Cent pro Kopf und Jahr kosten, also eine ganze Million Euro.[7] Das ist, bei 345 Milliarden Euro Gesamtumsatz der Branche, natürlich zu viel. Zumal ja 80 Prozent unserer Ärzte das alles sowieso nicht lesen könnten oder wollten. (»Schätzungen zufolge wollen oder können 80 Prozent der Ärzte in Deutschland keine Artikel auf Englisch lesen« (Gerd Reuther).[8]

Geraten wir als Patienten an einen dieser 80 Prozent inkompetenten oder mittelmäßigen Englischverweigerer, haben wir vermutlich ein Problem – ohne es zu wissen. Zu unserer Beruhigung vergegenwärtigen wir uns aber bitte, dass wir selbst die ausgesprochenen Empfehlungen gründlich abwägen können und ihnen nicht folgen müssen, sofern sie mittelmäßig oder dämlich sind. Noch kann unser Arzt uns ja nicht zwingen, uns selbst zu schaden, bis dahin sind noch zwei bis fünf Jahre Zeit. Und bis dahin droht uns selbst von den 80 Prozent keine Gefahr, solange wir ein bisschen vorsichtig sind.

Obendrein bleiben ja noch zwei von zehn Ärzten, die klug sind und informiert, immerhin. Von diesen zweien ist nun einer allerdings nicht nur klug, sondern so intelligent, sich dem System anzupassen, in dem vorwiegend Nieten und Mittelmäßige ihm Konkurrenz machen. Dieser eine operiert dann Privatpatienten die Nasen und verdient sich so eine eigene goldene – oder lässt sich als Leitlinienautor von der Pharmaindustrie zwei Pferde und eine Jacht finanzieren. Man kann es ihm kaum verdenken, denn auch als Arzt lebt man ja nur einmal.

Da war es nur noch einer. Dieser letzte Arzt, der einer von zehn, ist der, den wir uns wünschen. Den sich wohl jeder wünscht. Dieser Arzt folgt aus Überzeugung Hippokrates und dessen Epigonen,[9] er lebt und arbeitet nach der Maxime: erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen (»primum nocere, secundum cavere, tertium sanare«). Er weiß, mit Voltaire, dass die Kunst der Medizin darin besteht, »den Kranken solange bei Laune zu halten, bis die Natur die Krankheit geheilt hat«.

Dieser Arzt lässt uns mit einer Erkältung gar nicht erst in seine Praxis (Ansteckungsgefahr) und verschreibt und erst recht kein Antibiotikum dagegen (auch wenn drei Viertel seiner hartnäckig erkälteten Patienten beziehungsweise »Gesundheitskunden« das sinnloserweise verlangen).[10] Dieser Arzt empfiehlt bei Knieschmerzen keine »harmlose« Kniespülung, weil er weiß, dass die jährlich 413.000 Eingriffe sinnlos, wahlweise gefährlich sind,[11] und weil er weiß, dass Ursache der Knieschmerzen in der Regel schlichter Gelenkverschleiß ist, also Schwund beziehungsweise »Entropie bei der Arbeit«: Gegen die Naturgesetze ist weiterhin kein Kraut gewachsen.

Dieser Arzt trägt, merkwürdig würdelos, einen kurzärmligen Kittel – und keine Manschettenknöpfe. Und er gibt Ihnen, unerhört, nicht zur Begrüßung die Hand.[12]

Dieser fabelhafte Arzt verkauft keine IGEL![13]

Dieser Arzt weiß: Spontan verlaufende Heilungen zu »therapieren« ist das Geschäftsmodell. Denn wird eine schubförmig verlaufende Erkrankung wie Rheuma oder MS im Schub behandelt, stellt sich eine Besserung unabhängig von der Therapie ein.[14] Aber genau diese natürliche Besserung schreibt der Patient fälschlich dem eingenommenen Medikament zu. Deshalb verzichtet unser Arzt auf diese Behandlung.

Natürlich rät dieser Arzt von Operationen bei Bandscheibenvorfällen ab, weil er weiß, was der Körper des Patienten alles kann und dass fast alles, was unter »Rücken« fällt, von selbst wieder verschwindet. Er schickt niemanden ins CT, schon gar kein Kind. Weil er weiß, dass die Strahlenbelastung hundertmal höher ist als beim Röntgen und dass durch überflüssige CT-Untersuchungen allein in den USA jedes Jahr 29.000 Menschen an Krebs erkranken.[15]

Er weiß: »Die meisten Menschen mit positiven Ergebnissen bei Mammogrammen und PSA-Tests oder mit okkultem Blut im Stuhl haben keinen Krebs.«[16] Er weiß: Wenn eine Schwangere sich einem Pränataltest unterzieht und dieser positiv ausfällt (Down-Syndrom), sind fünf von sechs »positiven« Ergebnissen unrichtig, sprich: Fünf von sechs angeblichen »Down-Embryos« sind gesund.[17] Denn dieser Arzt versteht von Statistik mehr als Bahnhof – anders als seine Kollegen, die im Studium nur ein Semester Statistik »mussten« und denen sämtliche Grundlagen zum korrekten Lesen fehlen, nicht nur des Englischen, auch und besonders von Studienergebnissen.

Dieser Arzt weiß sogar, wie die Grenzwerte für »böses« Cholesterin zustande gekommen sind[18] – eine Änderung, die allein in den USA fast 43 Millionen Gesunde über Nacht in behandlungsbedürftige Kranke verwandelte.[19] Dieser Arzt kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass sämtliche Blockbuster-Statine vor allem den Herstellern nützen, und verschreibt diese nicht leichtfertig, jedenfalls nicht »zur Vorsorge«.[20] Zu guten und nicht so guten Fetten hat er allerdings bei Bedarf ein paar nützliche Anmerkungen im Angebot.[21] Denn natürlich weiß dieser Arzt auch mehr als ein paar Binsenweisheiten über Ernährung, empfiehlt keine Kuh-Muttermilch, schon gar nicht als Osteoporose-Prävention,[22] und plappert nicht stumpf DGE-Empfehlungen nach. Überdies weiß er in Sachen »Nahrungsergänzungsmittel« nicht nur »erst messen, dann essen«, sondern sogar Bescheid über alle wichtigen Details und Wechselwirkungen, die im Zusammenspiel zwischen »echten« Medikamenten und verschreibungsfreien Ergänzungen auftreten – weil sein Gröber[23] nicht in der Buchhandlung steht, sondern auf seinem Schreibtisch.

Dieser Arzt weiß, wie die neuen Grenzwerte für Bluthochdruck zustande gekommen sind, beginnend 2017 in den USA, die über Nacht Millionen Gesunde zu Kranken gemacht haben.[24] Und er verschreibt diesen »neuen Kranken« nichts, allenfalls Spaziergänge. Und natürlich weiß dieser Arzt, wie viel Heilendes im Abwarten und Weglassen liegt, dass der Körper gar nichts anderes will, als heil zu werden, und wir ihn dabei lediglich unterstützen müssen – und sei es, indem wir unseren Körper in Ruhe an seiner Wiederherstellung arbeiten lassen. Wer noch nie das Vergnügen hatte, diesem Wunder bewusst beizuwohnen, sehe beim Verheilen seiner nächsten kleineren Fleischwunde aufmerksam und mit etwas Geduld zu.

Natürlich kennt dieser Dr. Einhorn die ungeheure Macht des Placeboeffekts. Kennt alle Studien. Hat (auch) Dr. Bernie Siegel gelesen und die Doktoren Simonton und Joe Dispenza, sogar auf English. Dieser Arzt behält den Überblick – auch wenn das bedeutet, dass er neben seiner eigentlichen Tätigkeit sowie ungeheuer viel Verwaltungsarbeit für Krankenkassen[25] und den nur in Deutschland existierenden, »parastaatlichen« Apparat der Kassenärztlichen Vereinigung[26] obendrein 20.000 Fachartikel pro Jahr lesen muss, die meisten auf Englisch.

Er weiß: »Wie beim Erzieher besteht das Ziel des Arztes darin, seine eigene Funktion nutzlos werden zu lassen.«[27] Er weiß: Oft heißt es, nicht sofort zu handeln, nicht zu schaden, immer heißt es, zuzuhören, vorsichtig zu sein, den Menschen, dem etwas fehlt, reden zu lassen. Herauszuhören, was es ist, das dem Patienten fehlt. – es wird sich hierbei in circa 99 Prozent der Fälle nicht um eine Chemikalie handeln.

Und während die Kollegen unseres Fabelarztes ihren Patienten im Schnitt nach 11 bis 24 Sekunden zum ersten Mal unterbrechen, nach durchschnittlich 8 Minuten wieder verabschieden[28] und dringend hoffen, dass der Patient in diesem Quartal nicht wiederkommt, hört unser Arzt zu. Geduldig. Dabei kann er allerdings schon mal seinen Wecker auf den nahen Zeitpunkt stellen, an dem er pleite sein wird. Denn sein Honorarsatz fürs Zuhören beträgt 22,87 Euro.[29] Nicht pro 8 Minuten, nicht pro Stunde, nicht pro Gespräch – 22,87 Euro pro Quartal, ganz egal ob Sie als Patient nur einmal zu diesem unseren Arzt kommen für 5 Minuten oder ob Sie jeden Wochentag kommen und eine halbe Stunde Fragen haben. Der Mann verdient daran im Quartal insgesamt immer exakt 22,87 Euro.[30] (Deshalb bekommen Sie, sofern Sie Kassenpatient sind, im März, Juni, September oder Dezember praktisch nie einen Termin.[31])

Aber gut, unser Arzt lässt sich davon nicht beeindrucken. Er ist eben ein echter Arzt. Bestimmt hat er geerbt, also kann er sich das leisten: keine Maschine anzuschalten (obwohl das viel besser dotiert als ist bloßes Zuhören), nichts zu verschreiben (oder nur das günstigste Präparat) und den Patienten gegebenenfalls einfach wieder nach Hause zu schicken (mit ein paar guten, gesundheits- oder genesungsförderlichen Hinweisen). Denn er weiß ja, dass 90 Prozent aller effektiven Maßnahmen zur Verkürzung von Krankheitsdauer nur der Patient selbst ergreifen kann. Den Rest erledigt der Körper von selbst – man muss ihm nur ein bisschen Zeit geben.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass unser Arzt tatsächlich großen Respekt vor der Zeit an sich hat, nicht nur als wertvollster Assistentin des Erkrankten. Unser Arzt weiß, dass Zeit alles ist, was wir haben. Deshalb gestaltet er seinen Terminplan so, dass sein Wartezimmer nie voll ist, sondern fast immer leer. Kein Patient muss hier länger als 20 Minuten auf seinen Termin warten.

Das wird allerdings nicht goutiert, aus mehreren Gründen. Denn 80 Prozent seiner Patienten wissen ja nicht, weshalb sie zutreffend Patienten heißen. Von ihnen wird vor allem Geduld verlangt, lateinisch »patientia«, das Erdulden, Ertragen und Aushalten. Nicht das Erdulden eines vollen Wartezimmers, sondern das Erdulden von Krankheit, während der Körper seine Heilungsarbeit verrichtet. Aber der Impatient ist längst Kunde, also König, und weiß ja manches aus Erfahrung, nicht nur, dass alles per Express geliefert werden kann, sondern auch: Ein leeres Kaufhaus oder Restaurant taugen nichts. Also wird wohl auch dieser Arzt nichts taugen, der ist ja offenkundig nicht gefragt. Da nützt es unserem Arzt nichts, dass er eine kleine selbstverfasste Infobroschüre auf dem Lektüretisch platziert hat, in der er in freundlicher Kürze das historische chinesische Prinzip erläutert, wonach natürlich derjenige der beste Arzt ist, dessen Schutzbefohlene gesund sind und bleiben, weil er sie gut aufgeklärt hat über Selbstheilungskräfte und selbst zu treffende Vorsorgemaßnahmen, weshalb sie eben nicht krank sind, sondern gesund. Deshalb ist das Wartezimmer des besten Arztes immer so gut wie leer.

Die Mehrzahl der Patienten empfindet das Denken und Handeln unseres Arztes als absurd. Nicht nur wegen des leeren Wartezimmers, auch weil er ihnen praktisch nie die neusten und hippsten Medikamente verschreibt. Aber auch seine Kollegen schätzen ihn nicht: die mittelmäßigen und doofen nicht, weil er klüger ist als sie, die klugen nicht, weil er naiv handelt, statt seine Intelligenz zu Geld zu machen.

Dennoch wollen wir uns diesen Dr. Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Und wir wollen uns überdies vorstellen, wir hätten diesen einen von zehn gefunden, vielleicht nach einer Google-Suche bei den »Mezis«.[32] Jetzt sitzen Sie also vor ihm, ganz ohne Wartezeit: vor Dr. med. Einhorn, dem Fabelarzt. Aber nun haben Sie irgendwas Ernsteres, keinen Schnupfen, keinen Ausschlag, nicht »Knie«, nicht »Rücken« oder »Burn-out«. Sondern Diabetes, wirklich verkalkte Arterien, Demenz, Parkinson, Krebs, MS oder eine der etlichen sogenannten Autoimmunerkrankungen.

Hiermit verringert sich Ihre Chance auf einen Gewinn von 1 zu 10 auf 1 zu 1.000. Denn jetzt muss dieser wunderbare, kompetente, intelligente, seinen Beruf ernst nehmende Arzt auch noch unfassbar starke Nerven haben und buchstäblich alles riskieren, um Ihnen helfen zu können. Dieser ideale Arzt muss nicht nur ein fabelhafter Altruist sein, sondern obendrein Dangerfreak, unheimlich mutig. Denn für alle »ernsten« Erkrankungen existieren Leitlinien, fachärztliche. Wer sich an die nicht hält, spielt mit seinem Berufsleben. Dass diese Leitlinien mit viel freundlicher Unterstützung der Pharmaindustrie fabriziert werden ist hierbei ganz nebensächlich, denn Leitlinie ist eben Leitlinie, und an die sollte der Behandler sich tunlichst halten. Der ärztliche Ermessensspielraum ist also hier stark eingeschränkt – oft gegen null, denn die Behandlungsoption »Abwarten« findet sich in der Regel nicht in den Vorschriften.

So entsteht die absurde Situation, dass der Arzt, der »Abwarten« insgeheim für die beste Option hält, hoffen muss, dass sein Patient selbst darauf kommt und das vorschlägt. Denn in diesem Fall kann der Arzt dankbar vermerken »Patient lehnt medikamentöse Therapie ab« – und diesen darin unterstützen. Jeden anderen Patienten aber muss der Arzt nach Leitlinie behandeln. Tut er das nicht und der Patient nimmt abwartend weiteren Schaden – ob das nun am Abwarten selbst liegt oder der Schaden auch bei Behandlung genauso oder schwerer eingetreten wäre –, ist der Arzt »dran«. Denn jeder Patient kann ihn in diesem Fall vor Gericht zerren und gut belegen, dass der Arzt ihn nicht richtig behandelt hat, eben nicht der Leitlinie entsprechend, und ihn mutwillig oder fahrlässig geschädigt.

So ist der gute Arzt gefangen. Bei »Watchful-Waiting-Verstößen« gegen die Leitlinien droht ihm nicht nur ein Prozess, ihm droht im Wiederholungsfall sogar der Verlust seiner Approbation, also seines Lebensinhalts. Denn er ist ja mit Leib und Seele Arzt. Aber wenn er diese Berufung ernst nimmt und sich entsprechend verhält, ist er eben keiner mehr. Was würden Sie da machen?

Als Allgemeinmediziner einem MS-Kranken raten, die Empfehlungen der Spezialisten zu ignorieren und stattdessen dem eigenen Körper die Selbstheilung zu erlauben? Einer fünfundsiebzigjährigen Krebspatientin raten, noch mal schön in einen langen Urlaub zu fahren, ordentlich Himbeeren zu essen und Genesung zu »visualisieren«? Einem Diabetiker raten, gar keine Medikamente zu nehmen, sondern jeden Tag fünf Kilometer spazieren zu gehen und den Speiseplan gründlich umzubauen? Würden Sie? Ihrem Patienten raten, nach bestem Wissen, die Empfehlung der Spezialisten links liegen zu lassen? Obwohl Sie die Leitlinie kennen?

Das ist viel verlangt – sogar von einem kompetenten Helden. Selbst der wird spätestens hier, spätestens bei allen schwierigen, ernsten Fällen, die Expertenwissen erfordern, die Waffen strecken – und seinen Patienten zum Spezialisten überweisen. Sofern der Patient nicht sowieso gleich selbst zum Spezialisten gegangen ist, denn die sind ja inzwischen überall.

Und wir machen uns viel zu selten klar, wie gefährlich das für uns ist.

Sven Böttcher: „Rette sich, wer kann! Das Krankensystem meiden und gesund bleiben“, Westend Verlag, 1.2.2019

Titelbild: Sombat Muycheen/shutterstock.com


[«1] »Welzers Theorem«, siehe Harald Welzer, Selbst denken, S. Fischer 2013, S. 223.

[«2] Dr. Bernie Siegel schätze 1986 die Zahl noch etwas niedriger ein, jedenfalls unter den Patienten, wobei Ignoranz und Mittelmaß hier in aufschlussreichem Verhalten vereinten: »60–70 % (aller Patienten) sind wie Schauspieler, die eine Rolle proben. Sie produzieren sich nur, um ihren Arzt zufriedenzustellen […], sie tun, was Ihnen gesagt wird – außer der Arzt schlägt ihnen vor, ihren Lebensstil radikal zu ändern.« (Bernie Siegel, Diagnose Hoffnung, S. 44.) Wir können diese 60, 70 oder 80 Prozent und die 80 Prozent mittelmäßiger Ärzte hier vernachlässigen und (hoffentlich) einander überlassen, daher findet sich diese Anmerkung hier unten, nicht oben.

[«3] Schweizer/Schweitzer, Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker, KiWi 2017, S. 28.

[«4] Gerd Gigerenzer, Risiko, Ullstein 2013 S. 241.

[«5] Vgl. cochrane.org, deutsche Internetpräsenz: cochrane.de.

[«6] Ob meine Einschätzung der Cochrane Collaboration als »wertvoll« Bestand hat, wird sich erst 2019 ff. zeigen. Zwecks Optimismus thematisiere ich hier nicht, dass die Gesundheit der Collaboration auf dem Spiel steht. (Vgl. erzähler.net/?p=2255, bezugnehmend auf Maryanne Demasis Einschätzung im British Medical Journal, 16. September 2018; blogs.bmj.com/bmjebmspotlight/2018/09/16/cochrane-a-sinking-ship.) Hoffen wir also gemeinsam auf die Selbstheilungskräfte der Cochrane, auch wenn es zurzeit nicht gut aussieht.

[«7] Gigerenzer, ebd. S. 241.

[«8] Schweizer/Schweitzer, ebd. S. 28.

[«9] Dass unser idealer Arzt Hippokrates ehrt, ist schon deshalb etwas Besonders, weil in Deutschland weder der Hippokratische Eid noch das Genfer Gelöbnis nach der Approbation verpflichtend geleistet werden müssen.

[«10] Schweitzer/Schweitzer, ebd. S. 22.

[«11] Ebd., S. 25.

[«12] Da unser Paradedoktor »nur« Allgemeinmediziner ist, erscheint diese Vorsichtsmaßnahme fast übertrieben, aber Dr. Einhorn weiß eben, dass mindestens 900.000 Patienten pro Jahr sich in deutschen Krankenhäusern infizieren, circa 30.000 versterben daran (Reuther, ebd., S. 255) und dass dies nicht am nachlässigen Pflegepersonal liegt, sondern am ständischen Stolz der deutschen Ärzte. Denn natürlich begrüßt man den Kollegen Professor per Handschlag, weil man das so macht. Und natürlich trägt man unterm langärmligen Kittel ein schönes Hemd mit Manschettenknöpfen, weil man das schon immer so gemacht hat. Die dringende Empfehlung der WHO, wegen der hohen Keimübertragungsgefahr kurzärmlig zu arbeiten, wird im Ausland gehört (Großbritannien und Holland machen das längst), aber deutsche Ärzte sind eben stolz auf ihre keimgeladenen Manschetten – sehen ja auch gut aus. Sie töten Patienten, aber sie sind fraglos hübsch. Diese Ärzte sind übrigens die Nachfahren deren, die Ignaz Semmelweis für einen Irren hielten. Sie werden sich erinnern, das war jener, der den Wiener Ärzten nachwies, dass ihre mangelnde Handhygiene allzu viele Jungmütter tötete – und den man fürs Überbringen dieser Wahrheit förmlich mit dem Tode bestrafte. Auch das hat unter stolzen Ärzten Tradition. (Vgl. auch Reuther, S. 36, sowie gern Wikipedia zum Thema »Ignaz Semmelweis«.)

[«13] Das Marktvolumen der IGEL (Individuelle GEsundheits-Leistungen) beträgt etwa eine Milliarde Euro (igel-monitor.de/presse/pressemitteilungen/aok-umfrage-igel-markt-waechst-weiter.html), die Angebote nehmen zu (dreieinhalb mal so viele wie noch 2001), die Gesamtkosten sind nach viel Kritik in den letzten Jahren leicht rückläufig, weil im harten IGEL-Markt die Preise für die einzelne Leistung rückläufig sind. Der Nutzen der IGEL ist und bleibt gering, der Schaden überwiegt – laut IGEL-Monitor des Medizinischer Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), denn der bewertete im Februar 2017 nur 3 von 45 getesteten IGEL als »tendenziell positiv«, 4 als negativ, 17 als tendenziell negativ und 15 in Sachen Schaden oder Nutzen als »unklar« (igel-monitor.de/presse/pressemitteilungen/bilanz-nach-fuenf-jahren-igel-monitor.html). Da ist also noch reichlich Luft nach oben in Sachen: »Bringt nichts. Aber bringt ’ne Menge.«

[«14] Beispiel Optikusneuritis, die oft am Anfang einer MS-Karriere liegt: »Die Sehstörung bildet sich in 95 % der Fälle zurück. Die hochdosierte intravenöse Methylprednisolon-Gabe beschleunigt die Besserung, verbessert aber nicht das Endergebnis.« (Reuther, ebd. S. 171.) Die Kortisonkeule ist dennoch obligatorisch, trotz gelegentlich gehöriger Neben- und Wechselwirkungen (Details unter lsms.info/index.php?id=124).

[«15] Es ergeben sich »aus den mehr als 70 Millionen CT-Scans, die in den USA pro Jahr an Kindern und Erwachsenen durchgeführt werden, geschätzte 29.000 Krebserkrankungen«, vgl. Gigerenzer, ebd. S. 85 f. Die Strahlenbelastung ist in der Regel hundertmal so hoch wie beim Röntgen.

[«16] Ebd., S. 212 f: »Gynäkologen verstehen so erschütternd wenig von Statistik, dass sie nicht mal begreifen, was sie da lesen, schon gar nicht »was ein positives Mammogramm bedeutet.« In Gerd Gigerenzers legendären Tests mit Gynäkologen hatte nur 1 von 100 Frauen tatsächlich Krebs, 50 Prozent der Ärzte, verwirrt durch all die Zahlen für Prävalenz, Sensitivität und Falschalarmrate, glaubten jedoch, 90 von 100 positiv getesteten Frauen hätten Krebs. Nach abgeschlossenem Kurs »Risikokommunikation« wussten sie es besser, 87 Prozent machten danach alles richtig. Der Kurs wurde, so Gigerenzer, umgehend aus dem Fortbildungsprogramm gestrichen. Gigerenzers Ausführungen zum »Screening auf Brustkrebs« sind indes generell zur vollständigen Lektüre empfohlen: »Die meisten Menschen mit positiven Ergebnissen bei Mammogrammen und PSA-Tests oder mit okkultem Blut im Stuhl haben keinen Krebs« (S. 273).

[«17] Ebd., S. 225 ff. Testet man 1.000 Frauen im Alter von 40 Jahren auf ein vorliegendes Down-Syndrom ihres ungeborenen Kindes, und ergibt der Test fünfzigmal »falsch positiv«, also falschen Alarm, sowie neunmal korrekt »Alarm«. Somit erwartet tatsächlich nur eine von sechs Frauen mit positivem Ergebnis ein Kind mit Down-Syndrom. Die Mehrzahl dieser gesunden Kinder kommt nicht zur Welt – weil die Frauen, die sich dem Test unterziehen, nicht wissen, wie das Ergebnis zu lesen ist. Und ihre Ärzte auch nicht, offenkundig.

[«18] Bei Interesse ist dringend zur Lektüre empfohlen – ob Sie nun schon vorsorglich Statine abonniert haben oder (noch) nicht: Jörg Blech, »Der Mythos vom bösen Cholesterin«, Die Krankheitserfinder, S. Fischer 2003, S. 78 ff.

[«19] Vgl. Gilbert Welch, Die Diagnosefalle, S. 55 ff.

[«20] Cholesterin ist Fett. Gehirne bestehen zu 10 bis 20 Prozent aus Cholesterin; der Fettanteil der Trockenmasse liegt eher bei 80 Prozent. Eine Senkung des Fettenteils in Blut (und Hirn) erhöht Studien zufolge die Sterblichkeit (vgl. Blech, ebd., S. 81), macht aber anderen Studien zufolge eben doch nicht die Birne weich, erzeugt also keinen Demenz-Nachfolgemarkt. Eine Erörterung des Themas entfällt hier, weil sie mehrere hundert Seiten füllte; die Frage, ob Lipidsenker (nicht nur Statine) generell die Gedächtnisfunktion beeinträchtigen oder ob solche Schlussfolgerungen nur auf einem »Bias«, also verzerrter Wahrnehmung, beruht, bleibt einstweilen offen. (Vgl. Bettina Krieg, »Das Risiko der Statine – Nutzen-Risiko-Verhältnis ist nicht endgültig geklärt«, Deutsche Apotheker Zeitung, Mai 2015, deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2015/daz-37-2015/das-risiko-der-statine.)

[«21] Siehe Böttcher, Diagnose unheilbar, S. 193 ff.

[«22] Ebd., S. 51, S. 175 ff.

[«23] Uwe Gröbers Kompendium Arzneimittel und Mikronährstoffe – Medikationsorientierte Supplementierung erklärt eben nicht Ärzten, dass Raucher von ACE die Finger lassen sollten (das weiß ja inzwischen sogar jeder Patient oder Arzt, der nur die Wartezimmerlektüre liest), sondern klärt den Behandler über biochemische Wirkungen und Wechselwirkungen auf, die im Körper des Patienten ein- oder auftreten, wenn man ihm bestimmte Medikamente respektive Wirkstoffe verabreicht. Der Gröber weiß dann auch, wie man hier supplementieren respektive gegensteuern muss, um nicht mit dem verabreichten Medikament mehr Schaden als Nutzen anzurichten. In meinen Laienaugen ist daher Gröbers Buch essenziell für jeden »Verschreiber«, aber entdeckt habe es noch bei keinem meiner (von 2005 bis 2009 zahlreichen) Ärzte – obwohl ich immer sehr genau Buchrücken studiere. Hätte ich nicht selbst nachgeschlagen, wann und ich meine Alphaliponsäure – Vorsicht, keine Leitlinienempfehlung bei MS! –) einnehmen muss und weshalb dringend mit Biotin, hätte ich wohl längst keine Fingernägel mehr und auch nicht mehr so schöne Haare. Wer schwerere Geschütze einnimmt und vielleicht sogar mehrere von denen, sollte entweder seinen Arzt oder Apotheker auf den Gröber ansprechen oder sich selbst mal ein Buch kaufen. Es gibt inzwischen mehrere vom Herrn G., auch spezifischere für den etwas kleineren Geldbeutel.

[«24] Seit dem 13. November 2017 gelten Amerikaner mit dem vorher gesunden Blutdruck 140 zu 90 nicht mehr als gesund, sondern als krank, denn der neue Grenzwert beträgt 130 zu 80. Durch diese kleine Veränderung gibt es zukünftig »4,2 Millionen Menschen mehr, die Medikamente verschrieben bekommen« (vgl. Denise Peickert, »Der Streit um die Obergrenze«, FAZ 10. Dezember 2107). Schon durch die vorangegangene Senkung des als gesund geltendes Normwerts von 160 zu 100 auf 140 zu 90 – laut Cochrane-Studie war der alte Wert nicht zu hoch gewesen – hatte sich die Patientenzahl um 13,5 Millionen steigern lassen (vgl. Wittig, Die weiße Mafia, Riva 2013, S. 196).

[«25] Obwohl »86 Prozent (der Ärzte) der Meinung (sind), Bürokratie erschwere ihnen die Ausübung ihres Berufs« (arzt-wirtschaft.de/aerzte-leiden-unter-zu-viel-buerokratie/), ist die BIP-förderliche, exzessive Verwalterei generell nicht zu bremsen und wächst permanent weiter. »Der Bürokratieindex zog im Vergleich zum Vorjahr leicht an – und zwar um 0,2 % oder rund 115.000 Nettoarbeitsstunden im Vergleich zum Jahr 2016. Insgesamt wendeten Ärzte und Psychotherapeuten somit etwa 54 Millionen Arbeitsstunden pro Jahr für administrative Pflichten auf.« Sowie: »Die Reduzierung des Bürokratieaufwands im vertragsärztlichen Bereich um 25 % den nächsten 5 Jahren würde jährlich über 13 Millionen Stunden zusätzlich für die Versorgung der Patienten bringen«, so Thomas Kreidel, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), zitiert nach Ingold Dürr, »Bürokratieabbau ist Sysiphosarbeit«, Allgemeinarzt online, 18. Januar 2018, allgemeinarzt-online.de/a/belastung-fuer-arztpraxen-buerokratieabbau-ist-sisyphusarbeit-1858141. Wie hoch die Verwaltungskosten tatsächlich sind, scheint dabei weiterhin ein schwer zu lösendes Rätsel zu sein. Vgl. exemplarisch Ärzteblatt, 1. Januar 2012, aerzteblatt.de/nachrichten/48585/Verwaltungskosten-im-Gesundheitswesen-Milliarden-koennen-eingespart-werden: »Die Verwaltungskosten im deutschen Gesundheitssystem sind offenbar wesentlich höher als bisher angenommen. Einer Studie der Unternehmensberatung A.T. Kearney zufolge entfielen im Vorjahr 23 Prozent der Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Höhe von 176 Milliarden Euro auf die Bürokratie.«

[«26] Vgl. Reuther, ebd. S. 308. Die Kassenärztliche Vereinigung ist ein exklusiv deutsches Beschäftigungswunderprogramm, ein »Kartell, das regulative Mechanismen von Angebot und Nachfrage auszuschalten gedenkt« (S. 309) und mit ihren 12.000 Mitarbeitern (etwa einer pro vierzehn Kassenärzten), siebzehn Landesorganisationen und der Bundesorganisation jährlich 35 Milliarden Euro benötigt (Stand 2015, ebd., S. 311). Das ist fürs BIP deutlich besser als die weltweit gängige Praxis, dass Patienten entweder direkt mit ihrem Arzt zu tun haben, auch in Leistungs- und Rechnungsfragen, oder eben direkt mit ihren Krankenkassen. Deutlich mehr Beschäftigung (ohne Nutzen für den Patienten) bietet zum Preis von 35 Milliarden pro Jahr indes die KV und liefert für diesen stolzen Preis ein ungeheuer kompliziertes Punktesystem, das zwar dem Patienten nichts nützt, aber der KV. Und die nützt dem BIP, denn gäbe es sie nicht, wären 12.000 Zettelsortierer arbeitslos. Ob das nicht vielleicht doch besser wäre, kann jeder selbst grob einschätzen, der über ein Werkzeug zur Division von 35 Milliarden durch 12.000 verfügt.

[«27] Canguilhem, Gesundheit – eine Frage der Philosophie, Merve 2004, S. 49.

[«28] Schweizer, ebd., S. 29.

[«29] Die mit viel Liebe zum Detail verkomplizierte aktuelle Gebührenordnung für Ärzte (GoÄ) findet sich beim Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (gesetze-im-internet.de/go__1982/BJNR015220982.html). Ergänzende Ausführung hierzu von Dr. Nina Pszolla, Chirurgin: »Die Zuwendung zum Patienten, die gesprochene Medizin, ist keinen Cent wert. Und wird lediglich symbolisch bezahlt. Kostet die angebrochene Stunde bei Anwälten und Steuerberatern 250 Euro, darf der mitunter besser ausgebildete Arzt für die privatärztliche Beratung lediglich einmal in 3 Monaten, bei lebensbedrohlicher Erkrankung, mit seinem Patienten 20 Minuten reden und bekommt dafür rund 20 Euro. Das Erstgespräch zu Erörterung der Beschwerden wird heute mit 4,66 Euro vergütet, das Zweitgespräch mit 3,15 Euro. Der Kassenpatient wird in toto mit rund 23,27 Euro Pauschale abgegolten, egal was gemacht wurde, auch wenn man ihn eine Stunde über einen schweren Eingriff aufklärt, egal wie oft er im Quartal kommt. Kommt er drei Mal in die Praxis, darf stattdessen die Komplexziffer mit 22,58 – jedoch keinesfalls zusätzlich – abgerechnet werden. Mit Personal und Miete kostet jeder Patienten-Arzt- Kontakt rund 150 Euro, je nach Lage und Mietpreis der Praxis, das heißt, man muss mindestens 6 Patienten pro Stunde durch die Praxis schleusen. Massenabfertigung. Das geht so: Guten Tag-Spritze-Auf-Wiedersehen. Verdient hat er Arzt dann noch immer nichts, aber seine Unkosten gedeckt. Verdient wird nur wenn der Arzt igelt, d. h. Geräte bedient. […] Der Chirurg lebt aber immer noch nicht von der Gerätemedizin, lediglich von seinen lohngedumpten operativen Eingriffen. Zum Messer greifen soll er aber, nach GOÄ-Vorstellung ohne Erläuterung und Aufklärungsgespräch (für die Diagnose, Indikation, Aufklärung über OP und Verfahrensmöglichkeiten bekommt der Chirurg 20 Euro. Damit ist nicht annähernd die Miete oder das Personal für diese 30 Minute Gespräch finanziert, da das für Patienten unzumutbar und für den in der Verantwortung stehenden Chirurg ethisch nicht vertretbar ist. […] Wir Chirurgen bringen also für Kassenpatienten das Geld zur Arbeit mit, arbeiten für die Gesetzlichen Kassen ohne Lohn, sind Beamte ohne Rechte und Bezahlung mit allen Pflichten. So schwimmen die Kassen in Feudalgehältern, Milliardensubventionen und Milliardenüberschüssen, bezahlen aber Jahr um Jahr die Eingriffe immer schlechter, den Patienten immer weniger Leistungen, um im Feudalismus weiter zu schwelgen. Dafür bekommen Arzt und zwangsversicherter Patient eben nichts.« Siehe auch: ef 15. Dezember 2009, Nina Pszolla, Gesundheitsfonds: Die Hypo-Real Estate des Gesundheitswesens? ef-magazin.de/2009/12/15/1739-gesundheitsfonds-die-hypo-real-estate-des-gesundheitswesens

[«30] Siehe beispielsweise Tanja Wolf, »Was darf’s denn kosten«, FAZ, 17. Januar 2016, faz.net/aktuell/wissen/arzthonorare-was-darf-s-denn-kosten-14017748.html.

[«31] Siehe Kristina Ludwig, »Am Ende des Quartals schicken Ärzte Kassenpatienten weg«, SZ, 11. Januar 2018, sueddeutsche.de/wirtschaft/gesundheitspolitik-am-ende-des-quartals-geben-aerzte-kassenpatienten-weniger-termine-1.3820465, sowie die dazugehörige Untersuchung der Universität Hamburg (Center for Health Economics, hche.de/presse/pressemitteilungen.html#8690463). Weshalb die Ambulanzen der Krankenhäuser zum Quartalsende immer so ungeheuer voll sind und kaum mehr Zeit für die Behandlung von Notfällen finden, ergibt sich mithin direkt aus der hochintelligenten Gestaltung des erwähnten Abrechnungsgerüsts für niedergelassene Ärzte.

[«32] Bei der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte steht »Mezis« nicht nur für »Mediziner«, sondern auch für »Mein Essen zahl ich selbst« (mezis.de). Ein Besuch der Webseite und die Lektüre der verschiedenen Erklärungen der Vereinsmitglieder lohnt sich für jeden Patienten. Und natürlich sind sehr viele unserer 380.000 ÄrztInnen Mitglieder bei den Mezis, nämlich 789 (Stand 2016).

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!