Ungleiche Lebensverhältnisse: Einerseits „geht’s uns gut“ – anderseits ist für Soziales kein Geld da

Ungleiche Lebensverhältnisse: Einerseits „geht’s uns gut“ – anderseits ist für Soziales kein Geld da

Ungleiche Lebensverhältnisse: Einerseits „geht’s uns gut“ – anderseits ist für Soziales kein Geld da

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Die Abwehr von berechtigten Ansprüchen von Regionen, die sich abgehängt „fühlen“, spiegelt sich in aktuellen Medienbeiträgen. Anlässlich eines Berichts der Bundesregierung zu gleichwertigen Lebensverhältnissen wird die mediale und politische Heuchelei gegenüber der sozialen Spaltung sichtbar. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ein aktueller Bericht der Bundesregierung zu gleichwertigen Lebensverhältnissen wurde gerade erst vorgelegt, da wird schon die mediale Abwehrschlacht gegen daraus folgende Ansprüche benachteiligter Regionen geführt. Exemplarisch sei hier auf ein Interview im „Deutschlandfunk“ verwiesen, weil dort die Stoßrichtung vieler Medien bei dem Thema auf die Heuchelei großer Teile der Politik trifft.

Tiefe Gräben zwischen den Regionen

Die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter Federführung von Heimatminister Horst Seehofer (CSU) hatte ihre Arbeit im vergangenen Jahr aufgenommen. Sie sollte Handlungsempfehlungen aus Sicht des Bundes vorlegen – mit Ländern und Kommunen konnte keine Einigung auf ein gemeinsames Konzept erzielt werden. Laut Medienberichten stellt der Bericht – nicht überraschend – “erhebliche Disparitäten in den regionalen Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten, bei der Verkehrs- und Mobilfunkanbindung und beim Zugang zu Angeboten der Grundversorgung und Daseinsvorsorge“ fest.

Im besagten Interview des „Deutschlandfunks“ befragt Christine Heuer den SPD-Politiker Burkhard Jung, Oberbürgermeister von Leipzig und Präsident des Deutschen Städtetages. Zunächst soll auf die Fragen Heuers eingegangen werden. Denn Heuer kann es in dem Gespräch kaum fassen, dass Geld ausgegeben werden sollte, um die im Bericht altbekannten und nun nochmals in dem Bericht festgestellten Ungleichheiten abzumildern. So fragt sie:

„Aber Hilfe kostet Geld. (…) Wer soll denn das bezahlen, Herr Jung?“ „Aber glauben Sie, Olaf Scholz rückt 50 Milliarden oder 30 oder 20 Milliarden einfach so raus?“ „Für die Bürger bedeutet es immer alles, das kostet ziemlich viel Geld.“

Wo sind die „sprudelnden Steuereinnahmen“?

Wäre ein Ausgleich zwischen den Regionen für Heuer also fast schon ein Almosen, das freiwillig gegeben werden kann – und keine Hilfestellung, die sich aus einer gesellschaftlich aufgeheizten Situation zwingend und spätestens jetzt ergibt? Wobei auch die nun geäußerten Forderungen einiger Politiker nach einem Schuldenschnitt für überschuldete Städte zu Recht mindestens differenziert betrachtet werden müssen. Olaf Scholz wird von Heuer in das Recht gesetzt, „Geld herauszurücken“ – oder eben auch nicht. „Leidtragender“ ist „der Steuerzahler“. Soll so der Eindruck entstehen, hier würde „der Bürger“ für „die Hilfsbedürftigen“ aufkommen und so eine neue Spaltung vorgenommen werden? Auch soll offenbar der Eindruck erweckt werden, als könne man nicht zusätzliche Steuern etwa bei den sehr Vermögenden erschließen, die so Ihrer Verantwortung gerecht würden – der Verantwortung etwa, einer Radikalisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken, die zu Recht festgestellt und beklagt wird.

Man fragt sich auch: Wo sind hier plötzlich die „sprudelnden Steuereinnahmen“ geblieben, wegen derer es „uns gut geht“? Und hieß es nicht kürzlich noch, „der Staat habe in Deutschland aktuell kein Einnahmeproblem, sondern ein Ausgabenproblem“?

Die eigene Politik wird als Naturereignis dargestellt

Der andere im Interview deutlich werdende Aspekt ist die Heuchelei von Politikern, die sich der lange absehbaren Entwicklung der Spaltung nicht entgegengestellt haben, aber nun die Folgen der eigenen Politik wie ein Naturereignis beschreiben, das über die Gesellschaft hereingebrochen ist. Diese Folgen und die Verantwortung der aktuell Regierenden dafür hat kürzlich der Soziologe Michael Hartmann benannt:

„Und wenn man sich die letzten zwei Jahrzehnte anguckt, so muss man sagen, dass die Politik ja entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Unterschiede nicht kleiner, sondern größer geworden sind. Durch Steuerpolitik, durch Arbeitsmarktpolitik hat sie dazu geführt, dass das untere Fünftel der Gesellschaft heute zehn Prozent real weniger Einkommen hat als vor 20 Jahren, und das obere Fünftel hat 16 Prozent real mehr. Und das spiegelt dann solche regionalen Unterschiede wieder.“

Folgenlose Forderungen und Floskeln

Auf diese Verantwortung wird jedoch von kaum einem Medium gepocht. Und auch Burkhard Jung kann sich darum mit so schön formulierten wie folgenlosen Forderungen und Floskeln aus der Affäre ziehen:

„Die Menschen, die heute dort leben, die können nichts dafür, welche Fehler auch immer oder welche Strukturschwächen auch immer dort vorgelegen haben.“ (…) „Wenn die Schere so weit auseinandergeht, dass im Landkreis Mansfeld in Sachsen-Anhalt ein Siebtel oder ein Achtel dessen pro Kopf eingenommen wird, was im Landkreis München der Fall ist, dann können Sie sich vorstellen, wie die Dinge auseinandergehen. Und ich glaube, dass es unsere Pflicht ist, in Deutschland dafür zu sorgen, dass Menschen, egal wo sie wohnen, die Möglichkeiten haben, ihre Bildungsbiographien zu entwickeln, ihre Chancen zu entwickeln, und nicht das Land, die ländlichen Regionen zu entvölkern, die Städte weiter nach oben zu treiben.“

Die Menschen „fühlen“ sich nur abgehängt

Das sind, wie gesagt, wohlklingende Floskeln – man fragt sich aber natürlich, warum sie der SPD erst jetzt über die Lippen kommen. Und auch, wer hier Jungs erster Adressat ist, wenn nicht die eigene Partei. Immerhin aber erkennt er die Benachteiligung nun endlich „offiziell“ an und benennt sie – im Gegensatz etwa zum Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, der aktuell gegenüber Medien noch immer das falsche Bild von den Regionen zeichnet, die sich nur abgehängt „fühlen“:

„Unsere Gesellschaft ist zunehmend gespalten, da sich die Menschen in einigen Gegenden abgehängt fühlen.“

Diese Deutung von einer nur „gefühlten“ Benachteiligung wird zunehmend aufgebracht zurückgewiesen. Ebenso das Wort von den „schwachen Regionen“, das so irreführend ist wie das, von den „sozial schwachen Menschen“: In beiden Fällen geht es nicht um „Schwäche“, sondern um Benachteiligung.

Aus Benachteiligung erwächst Radikalisierung

Die betreffenden Regionen sind real und nicht gefühlt benachteiligt. Die aus der Benachteiligung erwachsende gesellschaftliche Spaltung muss als eine der Ursachen von Radikalisierung und Rechtsruck benannt werden. Diese Benachteiligungen sind vor allem mit großen sozialen Investitionen zu bekämpfen, wie unter vielen anderen kaum gehörten Stimmen auch Michael Hartmann im bereits zitierten Interview betont. Das Geld für diese Investitionen muss durch eine andere Steuerpolitik generiert werden.

Geradezu kontraproduktiv auch in Hinblick auf politische Radikalisierung sind jedoch moralische Appelle. Diese Appelle auch von SPD-Politikern, etwa aus der „Komfortzone“ zu treten, müssen in den Regionen, in denen kein Bus mehr hält, in denen kein Arzt mehr praktiziert, in denen das Internet, die Kinderbetreuung und der Arbeitsmarkt nicht funktioniert, als reiner Hohn ankommen, der die Menschen möglicherweise zusätzlich nach rechts treibt.

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Titelbild: Hyejin Kang / Shutterstock

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