Er tickt wie sie: Ein deutscher Fernsehstar tritt gegen Mobbing an

Er tickt wie sie: Ein deutscher Fernsehstar tritt gegen Mobbing an

Er tickt wie sie: Ein deutscher Fernsehstar tritt gegen Mobbing an

Ein Artikel von: Redaktion

Ein ehemaliger deutscher Action-Star macht in den USA Schlagzeilen. Und dies vollkommen zu Recht, denn Carsten Stahl war einst selbst Mobbing-Opfer und kämpft heute als „Jugendflüsterer“ einen bewundernswerten Kampf gegen das Mobbing. Nun hat er es geschafft, dass sein wertvolles und erfolgreiches Engagement sogar in der New York Times vorgestellt wurde. Josefa Zimmermann hat den Artikel von Melissa Eddy für die Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten ins Deutsche übersetzt. Weitere Informationen zu Stahls Initiative „Stoppt Mobbing“ finden Sie auf deren Internetseite.

Es war weder sein Ruhm als TV-Actionheld noch sein praller Bizeps, der es Carsten Stahl ermöglichte, eine Sporthalle voller schnatternder Grundschüler zum Schweigen zu bringen. Es war seine eigene, zutiefst berührende Geschichte. Stahl begann seine Präsentation in breitestem Berliner Dialekt, der Sprache der Gosse, indem er die Schüler ermutigte, sich gegenseitig die schlimmsten Schimpfwörter zuzuschreien, die sie auf dem Schulhof benutzen. Mit jeder Beleidigung und jeder Obszönität brachen die im Halbkreis eng auf Bänken zusammengedrängten Fünft- und Sechstklässler mehr in Lachen aus.

Als der 46-jährige Vater von zwei Kindern und frühere Chef einer Straßengang den Kindern vom dem 10-jährigen Jungen erzählte, der monatelang Beleidigungen erduldete, aus denen Bedrohungen und Schläge wurden und die damit endeten, dass eine Gruppe von Mobbern auf ihn urinierte, während er in einer bitter kalten Nacht in Berlin in einer fast zwei Meter tiefen Grube lag, fast an seinem Blut erstickte und nur noch sterben wollte.

Während Carsten Stahl sprach, verbarg ein Junge im grünen T-Shirt sein Gesicht in seinen Händen und ein Mädchen mit langem Pferdeschwanz unterdrückte ihre Tränen. Aber Stahl, der diese Geschichte schon vor mehr als 50 000 Schülern in ganz Deutschland erzählt hatte, machte weiter, mit fester Stimme und stechendem Blick brachte er die Geschichte zu ihrem wohl einstudierten Höhepunkt.

„Der zehnjährige Junge war ich!“ schrie er heraus.

„Ich höre jetzt niemand lachen“, sagte Stahl, während er ein paar Schritte näher an die Schüler der Elbtal-Grundschule in Bad Wilsnack, gut 100 km nordwestlich von Berlin, herantrat. „Mobbing ist kein Spaß. Mobbing tötet Menschen.“

In Deutschland ist eines von drei Kindern in irgendeiner Form von Mobbing betroffen, entweder verbal, körperlich oder durch Missachtung, so berichtet eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.

Für Stahl war diese Studie nicht nötig, um das Ausmaß des Problems zu erkennen. Er erkannte es am zweiten Schultag seines Sohnes, als der Junge mit blutender Lippe und Nase nach Hause kam und gegenüber seiner jüngeren Schwester Schimpfwörter ausstieß, die dem Erstklässler vorher nie über die Lippen gekommen waren.

Damals war Stahl der Star in der Fernsehserie „Privatdetektive im Einsatz“, die ihn zu einem bei Tausenden beliebten Helden machte, vor allem bei Jungen und Teenagern.

„Überall wo ich war, erkannten mich die Kids“, sagte er. Er entschied sich, seinen Erfolg zu nutzen und seine Rolle zu vertiefen, indem er tiefer in die Materie der Prävention von Verbrechen bei Jugendlichen einstieg, anstatt nur Verbrecher zu jagen. „Sie müssen bedenken, woher ich komme und was ich erlebt habe“, sagte er. „Aber damals dachte ich nicht mehr über das Mobbing nach. Ich hatte es verdrängt, wie alle es tun.“

Die Schauspielerei war nicht Teil seines Lebensplans, sagte Stahl, der 18 Jahre Chef einer Straßengang in dem von Gewalt geprägten Berliner Bezirk Neukölln war, wo er mit einer älteren Schwester und zwei älteren Brüdern in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen war. Dort erlebte er als pummeliges, rotblondes Kind die zerstörerische Demütigung, gemobbt zu werden. Dort wurde auch er zum Mobber, als er größer wurde und auf dem Fußballplatz und im Boxring an Stärke zulegte.
Als er 11 war, entschieden seine Eltern, dass er von der Straße weg musste, und sie zogen in das bayerische Dorf, in dem sie den Sommerurlaub verbracht hatten. Seine Mutter, eine Verkäuferin, fand schnell einen Job, aber sein Vater, der Kraftfahrer war, musste pendeln, bis er entlassen wurde. Zwei Jahre später kehrte die Familie nach Berlin zurück.

Zurück in Berlin gewann er an Kraft und Selbstbewusstsein. Die Erkenntnis, dass er jeden mit seinen Fäusten besiegen konnte, brachte ihm Furcht und Respekt ein, während er als Chef einer Gang mehr Geld machte, als er für goldene Rolexuhren und Porsches ausgeben konnte. Carsten Stahl gibt zu, dass er damals ungestraft Verbrechen beging, die ihn hätten ins Gefängnis bringen können – und er bedauert, dass das nie passierte, denn das hätte ihm eher den Kopf zurechtgerückt.

„Aber dann machte ich einen Fehler“, sagt er. „Ich verliebte mich. Eigentlich zweimal.“

Seine erste Freundin war im vierten Monat schwanger, als Mitglieder einer rivalisierenden Gang sie überfielen. Sie überlebte, aber ihr ungeborenes Kind und ihre Beziehung nicht. Mit 24 stellte Stahl fest, dass er wieder in einer Grube lag – diesmal gefühlsmäßig – und sterben wollte. Er nahm Drogen und kehrte auf die Straße zurück.

Das ging bis 2008, als seine nächste Freundin ihren gemeinsamen Sohn zur Welt brachte, sagte er. Er wollte die beiden beschützen und verließ die Gang, verkaufte seine schnellen Autos und seine protzigen Uhren und kam als Bodyguard über die Runden. Drei Jahre später schlug ihm ein Freund, der ihm ein paar kleine Fernsehrollen verschafft hatte, vor, sich um die Hauptrolle in einer neuen Krimiserie zu bewerben.

„Also, die meisten von euch kennen mich aus dem Fernsehen“, sagte er zu der Gruppe in Bad Wilsnack, während seine Tattoos unter dem Kragen seines weißen Hemdes hervorlugten, verziert mit dem leuchtend roten Stop-Mobbing-Emblem des Vereins, den er gegründet hatte. „Wow, aber das macht mich nicht besser als ihr. Jeder, egal, woher er kommt oder wie er aussieht, verdient es, mit Respekt behandelt zu werden.“

Nach sechs Jahren, in denen er an Hunderten von Schulen Workshops für Schüler, Lehrer und Eltern durchgeführt hatte, schrieb Stahl ein Buch und produzierte Youtube-Videos, die mehr als 600 000 Mal abgerufen wurden. Er ist ein Mann mit einer Mission und er lebt von der Aufmerksamkeit seiner Fans und vieler junger Leute, die ihn auf der Straße erkennen. Während eines dreistündigen Interviews in einem Berliner Park wurde er viermal unterbrochen.

Als er begann, sprach er nur vor einzelnen Schulklassen, sagte er. Im Lauf der Jahre erkannte er, dass eine Klasse nicht reicht, wenn man Mobbing frontal bekämpfen will. „Man muss die ganze Schule einbeziehen, einschließlich der Lehrer und Schulleiter und im besten Fall auch der Eltern“, sagte er.

Inzwischen hat er in ganz Deutschland Seminare durchgeführt. Das Land Brandenburg, zu dem Bad Wilsnack gehört, unterstützt seit zwei Jahren seine Schulpräsentationen finanziell.

„Er hat nicht diesen warmherzigen, verschwommenen pädagogischen Ansatz“, sagte die Staatssekretärin im brandenburgischen Innenministerium, Katrin Lange. „Aber sein Erfolg ist zum Teil dadurch begründet, dass die Unruhestifter anfangs alle erwarten, dass er einer von ihnen ist. Und dann stellt sich heraus, dass er selbst Mobbingopfer war.“

Oft suchen Eltern, die ihn aus dem Fernsehen oder durch seine Online-Kampagne kennen, seinen Rat oder laden ihn ein, an den Schulen ihrer Kinder zu sprechen. Das war auch bei der Elbtal-Grundschule der Fall, sagte Schulleiterin Sabine Zander, die Stahl auf Vorschlag einiger Eltern an die Schule eingeladen hat.

„Gut, dass er kein Lehrer ist“, sagte sie, nachdem sie ein Stopp-Mobbing-Emblem und ein Plakat mit dem Versprechen, respektvoll und tolerant miteinander umzugehen, und den Unterschriften aller 149 Schüler drumherum, in Empfang genommen hatte. Sie will es am Eingang der Schule aufhängen, sodass die Schüler täglich an das erinnert werden, was sie in dem 90-minütigen Seminar mit Carsten Stahl gelernt haben.

Nach 14 Jahren Schulerfahrung, sagte sie, hat sie keine Illusionen, dass man das Problem mit einer Veranstaltung lösen kann, auch wenn ein bekannter Schauspieler dabei eine überzeugende Geschichte erzählt.

„Ich werde abwarten, wie sich die Dinge entwickeln“, sagte Sabine Zander. „Es wird sich nichts über Nacht ändern, aber so etwas ist schon hilfreich.“

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