Die Medien und Chinas „Machtdemonstration“

Die Medien und Chinas „Machtdemonstration“

Die Medien und Chinas „Machtdemonstration“

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Die Berichterstattung vieler großer Medien zu China ist von Selektion und Scheuklappen geprägt. Um das Land zu verstehen, muss es anders dargestellt werden, ohne es dabei generell zu „entlasten“. Das läge auch im Interesse des „Westens“. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Anlässlich des 70. Jahrestags der Staatsgründung Chinas und der Berichterstattung in den großen deutschen Medien stellen sich zahlreiche politische und moralische Fragen: zum Beispiel nach dem Spannungsverhältnis von Armutsbekämpfung und individueller Freiheit. Mit Blick auf die zum Jahrestag nochmals eskalierten Proteste in Hongkong drängen sich auch Fragen auf nach dem Verhältnis zwischen dieser individuellen Freiheit einerseits und dem wichtigen Prinzip eines staatlichen Gewaltmonopols andererseits. Zu fragen ist auch, inwieweit Länder mit höchst unterschiedlichen Entwicklungsstufen überhaupt nach „westlichen“ (Doppel-)Standards beurteilt werden können. Zu betonen ist, dass die Entwicklungs-Defizite bei der moralischen Beurteilung von Nationen einerseits berücksichtigt werden müssen, andererseits aber nicht zu einer General-Entlastung für die jeweiligen Eliten führen sollten.

Dazu kommt, dass die politisch-moralische Einordnung ganzer Nationen durch weit entfernte Redakteure sehr oft mit Heuchelei und mit politischem Sendungsbewusstsein verbunden ist. So wäre es keine Kunst, etwa die Führung Saudi Arabiens in einer Pressekampagne als das Schreckensregime darzustellen, das es ist. Da das Land aber westlicher Verbündeter ist, erscheint es in der westlichen Presse oft fortschrittlicher und irgendwie fast „demokratischer“ als westliche Konkurrenten – etwa Venezuela. Denn im Falle Saudi Arabien findet sich bei allen unleugbaren Schrecknissen oft noch der eine positive Aspekt, der das Land dann in zahlreichen Artikeln „trotz aller Schwierigkeiten“ auf einem „zaghaften Weg der Öffnung“ zeichnet – etwa eine Fahrerlaubnis für Frauen.

China in deutschen Medien: Überwachung, Militarisierung und Folklore

Solche auch positiven Aspekte gibt es in jedem Land – es ist dann eine Frage der Ideologie des jeweiligen Redakteurs, ob sie erwähnt werden oder nicht. Im Falle Chinas, eines harten politisch-wirtschaftlichen Konkurrenten zum Westen, werden sie überwiegend verschwiegen. Die Berichterstattung zum Jahrestag in China pendelte in den vergangenen Tagen – von einigen lobenswerten Ausnahmen abgesehen – zwischen den Themen Unterdrückung und Militarisierung einerseits und einer Folklore vom „Reich der Mitte“ andererseits.

Das alles andere dominierende Motiv der Berichterstattung war die aktuelle „Machtdemonstration“ Chinas durch eine Militärparade. Es ist ein Fehler, China mit diesen Scheuklappen zu betrachten – schließlich geht es nicht darum, China blind zu entlasten, sondern darum, es zu verstehen. In diesem Text sollen weder Massenüberwachung noch Militarisierung geleugnet oder gar schöngeredet werden. Aber angesichts eines mittelfristig für Teile der Welt mutmaßlich aufziehenden chinesisch(-russisch)en Zeitalters wäre es angebracht, das Land in seinem ganzen Facettenreichtum darzustellen. Und auch die militärische Entwicklung Chinas, die in diesem Text keineswegs glorifiziert werden soll, hätte tiefere Gedanken verdient, als sie nun geäußert werden: Denn anscheinend bietet sich China damit auch anderen Ländern als militärischer Schutzschirm an – und das in dem Moment, in dem die Patriot-Raketen der USA etwa Saudi Arabien nicht mehr schützen können oder wollen.

Mao, Hungersnot, „Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens“

Häufig zu beobachten waren in den letzten Tagen auch extrem kondensierte Abrisse der jüngeren chinesischen Geschichte. Einen wahren Ritt durch die letzen 70 Jahre der chinesischen Historie vollzogen in ähnlicher Machart etwa „Tagesthemen“ und “Heute Journal“: Unangemessen und selektiv wurden ausgesuchte Stationen abgehakt – wie Maos Staatsgründung, Kulturrevolution, Hungersnot, „wirtschaftliche Öffnung“, das „Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens“ und schließlich der ungebremste Aufstieg zur „seine Macht demonstrierenden“ Supermacht. Bei dieser Art, die Geschichte auf die gewünschten Schlaglichter zu reduzieren, ist es umso aufreizender, wenn die „Tagesschau“ ihrerseits China als „Supermacht mit Gedächtnisschwäche“ bezeichnet.

Mit dieser Aussage soll der anhaltende Mao-Kult in China nicht schöngeredet werden – diese Praxis erscheint (von außen) ebenso befremdlich wie die (anscheinende) Bereitschaft der Bevölkerung zu einer ausufernden Massenkontrolle und das Setzen auf militärische Stärke. Aber die extrem facettenreiche Geschichte des Landes im erlebten Maße auf den über alle Maßen dämonisierten Staatsgründer und seine Verfehlungen sowie die aktuelle (mutmaßlich exzessive) Sicherheitsarchitektur zu reduzieren, ist unseriös.

„Pomp in Peking, Haue in Hongkong“

Viele Medien verweisen auf die anhaltenden und zum Jubiläum nochmals eskalierten Proteste in Hongkong. Zu diesem Anlass waren auch deplatzierte und „lockere“ Wortspiele kein Tabu. So sieht die „taz” „Pomp in Peking, Haue in Hongkong“. Die „FAZ“ verkündet: „China feiert, Hongkong trauert“. Und die „Tagesschau“ stellt fest: „Demo statt Party in Hongkong“. Für Stefan Kornelius von der „Süddeutschen Zeitung“ zeigt der Kontrast zwischen Hongkong und Peking gar, „wie schal und leblos dieses Land in Wahrheit ist“.

Ihren Fokus vor allem anderen auf die militärische „Machtdemonstration“ Chinas legen zahlreiche Medien. Das ist einerseits durch die militärischen Anstrengungen der Chinesen durchaus gerechtfertigt. Andererseits drängt sich bei allzu moralischem Tonfall aus dem Westen die Frage auf: Aus welcher moralischen Position heraus können sich die Mitglieder des aggressiven „Verteidigungsbündnisses“ NATO überhaupt über militärische Bemühungen Chinas erheben? Und wie kommen etwa am Afghanistan-Krieg beteiligte Nationen überhaupt auf die anmaßende Idee, ihre Armeen stünden moralisch über der chinesischen? Ein Kriterium zur Beurteilung der moralischen Verfassung der Militärmaschinen wären die durch die jeweilige Armee zu Tode gekommenen Menschen: Nach diesem Kriterium stellt „der Westen“ das chinesische Militär weit in den Schatten. Diese Anmerkungen sollen die wichtige prinzipielle Kritik an jeder militärischen Eskalation von allen Seiten (auch der chinesischen) nicht relativieren.

China auf dem „Pfad der friedlichen Entwicklung“?

Die erwartungsgemäße chinesische Sichtweise zum Militärischen zitiert die Nachrichtenagentur DPA. Demnach sagte Xi Jinping, die Volksbefreiungsarmee werde entschieden „Chinas Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen schützen“. Er beteuerte aber, dass China auf dem „Pfad der friedlichen Entwicklung“ bleiben werde. Wie Generalmajor Cai Zhijun, Vizedirektor des Generalstabs, sagte, sollte die Militärschau auch die „unabhängige Innovationsfähigkeit“ Chinas demonstrieren. Die präsentierten Waffen seien „komplett selbst produziert“.

Die „Bild“ fragt zu diesem Thema: “Müssen wir uns vor dieser Militärmacht fürchten?“ Der „Spiegel” sieht „eine Machtdemonstration des Staatspräsidenten Xi Jinping – nach innen und außen“. Eine „Machtdemonstration“ sehen auch die „Süddeutsche Zeitung“, die „Tagesschau“, „T-Online“, „N-TV“, das „Neue Deutschland“ und viele andere Publikationen. Unter diesem Link kann man nachlesen, wie das US-Militär die chinesische Bedrohung einschätzt.

Xi Jinping als „neuer Mao“, die Kommunistische Partei als „Krake“

Eine besondere Rolle nehmen einmal mehr die Artikel der Nachrichtenagentur DPA ein, da diese in zahlreichen Medien zitiert werden. So stellt DPA den chinesischen Staatschef Xi Jinping in eine Reihe mit Mao, wie das „Greenpeace-Magazin“ und viele andere Medien zitieren:

„Wie der ‚große Steuermann‘ Mao Tsetung hat er alle Macht an sich gerissen. Wie eine Krake greift die Kommunistische Partei wieder mit langen Armen tief ins politische und gesellschaftliche System ein. Und die Gedanken des Milliardenvolkes sind weniger frei als vor Jahren.“

In einem anderen Artikel weitet DPA das düstere Bild aus:

„Die Hoffnung auf ‚Wandel durch Handel‘ entpuppt sich heute als naiv. Menschenrechtler und ihre Anwälte werden inhaftiert. Hunderttausende Uiguren stecken in Umerziehungslagern. Auch wirtschaftlich gibt es eine Rolle rückwärts. Die Staatswirtschaft erstarkt.“

Chinas Siege über die Armut

Es gibt auch durchwachsene bis akzeptable Beispiele der Berichterstattung, zum Beispiel einen Kommentar im „Deutschlandfunk“, wo etwa auch der sehr erfolgreiche Kampf Chinas gegen die Armut gewürdigt wird. In dem Artikel, wie andernorts, wird das „Riesenreich“ als Ort der Widersprüche gezeichnet, was nicht von der Hand zu weisen ist. So wirft ein ambivalenter und teils kritikwürdiger Kommentar im „Deutschlandfunk“ China einerseits „pompöse Geschichtsklitterung“ vor, stellt aber immerhin auch fest:

„Das ist tatsächlich auch sehr beeindruckend: China hat mit seiner Reform- und Öffnungspolitik seit Ende der 70er-Jahre hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt. Das ist so keinem anderen Land auf der Welt gelungen.“

Besonders fragwürdige Presse-Stimmen zum chinesischen Jahrestag konnte man im Ausland lesen. So sieht etwa „Jyllands Posten“ aus Dänemark „eine erschreckende Bilanz“. Die Zeitung fährt unter anderem fort, indem sie Klimaschutz und Armutsbekämpfung unseriös gegenüberstellt:

„In vielen internationalen Rankings – Globalisierung, Korruption, Gleichstellung, wirtschaftliche Freiheit, Menschenrechte usw. – rangiert China sehr weit hinten, ein Spiegel der grundlegenden Verachtung der Menschen, die alle kommunistischen Diktaturen kennzeichnet. (…) Dass China der weltweit größte Verursacher von Treibhausgasen ist, unterstreicht, dass das Wirtschaftswachstum und die Armutsbekämpfung extreme Folgen für die Klimaveränderung haben.“

Der „Standaard“ aus Belgien schreibt:

„Die Frage ist, wie viel man unter den Teppich kehren kann, bevor das Folgen haben wird. Geschichtsverfälschung, systematische nationalistische Propaganda und ein System sozialer Kredite werden China vorläufig nicht schaden. Aber das kann sich ändern.“

Die „Freiheit“ und die „Philosophie des Schweins“

Als von einer „Philosophie des Schweins“ betäubte Masse sieht gar „Mediapart“ aus Frankreich die Chinesen:

„Was [Friedensnobelpreisträger] Liu Xiaobo ‘Philosophie des Schweins’ nannte, der zufolge der materielle Wohlstand die Bedürfnisse nach Freiheit erstickt, dominiert heute mehr denn je. Ist ein Volk, das dieser Philosophie unterworfen ist, wirklich auf den Beinen? Wie lange hält diese Narkose noch an?“

Titelbild: Cyril Hou / Shutterstock