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Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (CR/JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Sozialisten gewinnen Parlamentswahl in Portugal
  2. Ostdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall – Ist doch alles echt super gelaufen
  3. Schröders Taktik: Manipulation durch Verschweigen
  4. Testmobilmachung gen Osten (I)
  5. Warum Arbeiter und sogar Gewerkschafter die AfD wählen
  6. Deutschlands führende Ökonomen fordern Konsumverzicht
  7. Ein industriell geplanter Milliardencoup
  8. Global inequalities in taxing rights: An early evaluation of the OECD tax reform proposals
  9. Giegold sieht Gefahr einer gesamtbritischen Steueroase
  10. Mietenwahnsinn: Warum wir eine Neue Wohnungsgemeinnützigkeit brauchen
  11. Arbeitsunrecht erwirkt einstweilige Verfügung gegen Tönnies
  12. Existenz statt Minimum
  13. KiKxxl spendet 20.020 Euro für Hilfsprojekt „Madamfo Ghana“
  14. Kritik an “neoliberalem” Klimaplan
  15. „Ich glaube nicht an Strafe“
  16. Der bildungsferne Campus
  17. Ängste, Depressionen, Studienabbruch – Wenn Studenten psychisch krank werden
  18. Glück ist, wenn der Pfeil den Nebenmann trifft

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Sozialisten gewinnen Parlamentswahl in Portugal
    Die Sozialistische Partei von Ministerpräsident António Costa liegt bei der Wahl in Portugal klar vorne. Die erhoffte absolute Mehrheit verpasste die PS aber.
    Bei der Parlamentswahl in Portugal hat die Sozialistische Partei (PS) von Ministerpräsident António Costa einen klaren Sieg errungen: Nach Auszählung aller Wahlbezirke kommt die Partei auf knapp 36,65 Prozent der Stimmen. Das sind knapp viereinhalb Prozentpunkte mehr als bei der vergangenen Wahl zur Lissabonner Assembleia da República vor vier Jahren. […]
    Die stärkste Oppositionskraft, die konservativen Sozialdemokraten (PSD), musste sich mit 27,9 Prozent begnügen und hat statt 89 künftig nur noch 77 Sitze. Der stellvertretende Präsident der PSD, David Justino, und andere Parteisprecher gratulierten der PS bereits zum Triumph. Rechtspopulistische Parteien spielen in Portugal, anders als weiten Teilen Europas, keine wichtige Rolle. […]
    Mit einem Hilfspaket von 78 Milliarden Euro hatten die EU und der Internationale Währungsfonds Portugal 2011 vor dem Bankrott bewahrt. Die Konservativen führten das Land aus der Krise, sie wurden aber 2015 wegen der strengen Sparpolitik abgewählt.
    In den Folgejahren lockerte Costa die Sparpolitik. Er erhöhte unter anderem die Sozialausgaben.
    Quelle: SPIEGEL Online

    Anmerkung Jens Berger: Portugal zeigt, dass der Kampf gegen eine irrsinnige Austeritätspolitik nicht nur gut für die Volkswirtschaft ist, sondern auch die Rechtsextremen auf Distanz hält. So gesehen hat Portugals Linke sehr viel richtig gemacht.

  2. Ostdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall – Ist doch alles echt super gelaufen
    Von wegen “blühende Landschaften” – die Deutsche Einheit ist zum Desaster geworden. Aussprechen will das in der Politik vor lauter Staatsräson aber kaum jemand. Die Quittung kommt jetzt, bei den Wahlen.
    Immer wenn in Deutschland die Einheit vorbeikommt, also einmal im Jahr, sagen meist westdeutsche Politiker so Dinge wie, dass das so ein Glück sei. Und dass das mit dem Vereinigen doch eigentlich ganz toll gelaufen sei in den vergangenen fast 30 Jahren. Und dass doch viele Straßen ganz schön geworden sind. Solche Dinge sagen die dann. Leute wie Wolfgang Schäuble. Der das auch dieses Jahr wieder in etwa so gesagt hat, als die Einheit am Donnerstag vorbeikam. […]
    Natürlich war es komplett irre, was den Ostdeutschen nach der Vereinigung menschlich zugemutet wurde – mehr als ein Jahrzehnt Massenarbeitslosigkeit, die weitgehende Entwertung von Biografien, egal wie viel davon noch hätte gerettet werden können, wenn der wirtschaftliche Schock nicht so ungebremst über Ostdeutschland hergegangen wäre. Und der stete Verweis der lieben Mitdeutschen aus dem Westen, jetzt aber bitte nicht undankbar zu sein. Und dass das ja alles ein großes Glück gewesen sei. Und dass man ja wohl die Mauer nicht wiederhaben wolle.
    Als hätte es zwischen Einheitsdesaster und Wiederaufbau der Mauer keine andere Möglichkeit gegeben.
    Quelle: Thomas Fricke auf SPIEGEL Online

    Anmerkung Albrecht Müller: Es ist ja ganz nett vom Spiegel und dem Autor Thomas Fricke, auf das doppelte Scheitern der Vereinigung hinzuweisen. Aber es ist auch wieder typisch, dass die Verantwortlichen so nebenbei als Person zwar erwähnt werden, aber ihre Verantwortung, namentlich die von Wolfgang Schäuble, der den Einigungsvertrag auf westlicher Seite ausgehandelt hat und dann in vielen bedeutenden Funktionen bis hin zur schwarzen Null weiter Verantwortung trägt, nicht herausgearbeitet wird. Da bleibt halt hängen: schlecht gelaufen aber verantwortlich ist eigentlich keiner richtig.

    Auch die Verantwortung des Kanzlers Helmut Kohl und seine CDU/CSU insgesamt wird nicht herausgearbeitet. Stattdessen macht sich der Autor über die Erfolge der AfD her und forscht über die Ursachen dieser Erfolge. Da wäre es konsequent, auch danach zu fragen, wieso eigentlich die CDU in den meisten neuen Bundesländern politisch so erfolgreich sein könnte, wo sie doch für das Desaster hauptsächlich verantwortlich ist. Die AfD gibt es nicht ohne die CDU/CSU und dann auch nicht ohne die SPD des Gerhard Schröder. Das sollte man endlich mal kapieren.

  3. Schröders Taktik: Manipulation durch Verschweigen
    Gerhard Schröder hat als Bundeskanzler die Reichen beschenkt und die Armen belastet wie kein deutscher Regierungschef vor ihm, schon gar kein Sozialdemokrat. Eine vernachlässigte Geschichte ist dabei die “Auflösung der Deutschland AG” und die verschwiegene Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne der großen Vermögen. Albrecht Müller erinnert in seinem neuen Buch daran.
    Wunderbar, dachten bestimmte Kreise, als sie von Bundeskanzler Gerhard Schröders Absicht hörten, die Deutschland AG aufzulösen. Der Begriff Deutschland AG transportierte unterschwellig den Eindruck von Machenschaften über die Grenzen einzelner Unternehmen hinweg – ein Geflecht von Macht und Interessen jenseits demokratischer und ökonomischer Kontrolle. Gemeint war eine in der Tat fragwürdige enge Verflechtung von einzelnen Personen der deutschen Wirtschaft, die zum Beispiel als Vorsitzender des Vorstands einer Aktiengesellschaft dann im Aufsichtsrat von einigen anderen Unternehmen saßen und vice versa. Dieser Zustand wäre ein Grund für eine Reform des Aktienrechts gewesen, aber nicht für das, was dann – befördert von einer grandiosen Steuerbefreiung – geschah: der Verkauf einiger Tausend Unternehmen und Unternehmensteile an große, meist angelsächsische Kapital-gruppen und Hedgefonds. 2009 waren es schon 6.000.
    Die Agitation zur Auflösung der Deutschland AG begleitete eine förderliche Gesetzgebung: Um den Verkauf von Aktienpaketen oder einzelner Unternehmen insgesamt zu erleichtern, wurden zum 1. Januar 2002 die dabei realisierten, also offengelegten Gewinne, steuerfrei gestellt. Das ist ein großes Privileg, bei jedem anderen unternehmerisch tätigen Menschen wird der Gewinn durch Vergleich der Vermögenswerte zum Anfang und zum Ende der Wirtschaftsperiode ermittelt und muss versteuert werden. Nicht so hier. (…)
    Der frühere Vorstandsvorsitzende von Porsche, Wendelin Wiedeking, von dem man halten kann, was man will, hat zur skizzierten Steuerbefreiung das Richtige gesagt, als der Spiegel fragte: “Die Regierung hat auch den Verkauf von Firmenbeteiligungen steuerfrei gestellt. Dies sollte dazu führen, dass die Verflechtung zwischen Banken und Konzernen aufgelöst wird und neuer Schwung in die sogenannte Deutschland AG kommt. War das nicht ein sinnloses Steuergeschenk an gut verdienende Konzerne?” (…)
    “Das muss man wohl so sehen”, antwortet Wiededing. “Dem Lobbyisten, der das erreicht hat, müssten die Banken einen dicken Sonderbonus zahlen. Denn was ist jetzt die Folge? Monopoly auf Steuerzahlerkosten. Banken und Versicherungen verkaufen Industriebeteiligungen. Und mit dem Erlös kaufen sie andere Banken oder Versicherungen. Die Verkrustung der Wirtschaft, die damit ursprünglich einmal aufgelöst werden sollte, wird so bestimmt nicht geringer.
    Dieser Vorgang ist im Übrigen auch ein gutes Beispiel dafür, wie wir durch Verschweigen manipuliert werden und wie gravierend dieses Verschweigen ist. Mit ein bisschen Hinterfragen, mit einer gesunden Skepsis, Parolen wie jene von der Auflösung der Deutschland AG nicht zu glauben und nicht zu trauen, kann man solche Vorgänge schnell durchschauen.
    Der Vorgang ist auch deshalb interessant, weil durch die Steuerbefreiung viel mehr Steuereinnahmen verloren gehen, als durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer je erreicht werden kann. Dennoch, dieser Hinweis ist keine Kritik an dem Vorhaben, die Vermögensteuer wieder einzuführen
    Quelle: Albrecht Müller in Gegenblende
  4. Testmobilmachung gen Osten (I)
    Im Frühjahr 2020 wird der NATO-Machtblock mit einer Testmobilmachung gen Osten den Ernstfall proben. Dies geht aus einem Schreiben des Bundesverteidigungsministeriums hervor. Demnach werden die USA und ihre Verbündeten in Europa mit dem Manöver “Defender 2020” die militärische Infrastruktur, Kommandostrukturen und Nachschubrouten prüfen, die sie im Laufe der vergangenen Jahre in Osteuropa aufgebaut haben. Wie in einem etwaigen heißen Krieg mit Russland werden in der Übung US-Truppen über den Atlantik nach Europa transportiert, um weiter in Richtung auf die russische Grenze vorzudringen. Die Bundesregierung leistet zu der Maßnahme, die Europa weiter militarisiert und die Spannungen noch stärker anheizt, tatkräftige Beihilfe, indem sie Deutschland gezielt als Dreh- und Angelpunkt der Kriegslogistik positioniert. Auf die strategische Rolle als Logistik- und Kommandozentrale im Hinterland sucht die Bundesrepublik einen weiteren internationalen Machtzuwachs zu stützen. Für die USA wird “Defender 2020” die größte Militärübung in Europa seit 25 Jahren.
    “Defender 2020”
    Bis zu 20.000 US-Soldaten plus Panzer und weiteres Gerät werden ab Anfang 2020 zunächst über den Atlantik und dann durch Deutschland nach Polen und in die Baltischen Staaten verlegt werden. Neben den USA werden sich 16 weitere NATO-Mitglieder an dem Manöver beteiligen, darunter auch die Bundesrepublik. In einem Krieg des NATO-Machtblocks gegen Russland würde Deutschland laut Konzeption der Bundeswehr als “Basis für Operationen, rückwärtiges Einsatzgebiet und Drehscheibe der Unterstützung” dienen.[1] “Defender 2020” bietet Berlin die Gelegenheit, diesem Anspruch Nachdruck zu verleihen.
    Quelle: German Foreign Policy
  5. Warum Arbeiter und sogar Gewerkschafter die AfD wählen
    Ausgerechnet eine marktliberale Partei wie die AfD erfreut sich unter ostdeutschen Arbeitern großer Beliebtheit. Sogar unter Gewerkschaftsmitgliedern, sagt der Soziologe Klaus Dörre. (…)
    „Ursprünglich hatten wir angenommen, dass sie [die AfD in Thüringen, A.d.Red.] im Osten einen sozialdemagogischen Wahlkampf machen, etwa ihr Rentenkonzept in den Vordergrund stellen“, sagt Dörre. Denn die Thüringer AfD fordere eine Anhebung des Rentenniveaus auf 52 Prozent, bezogen auf die Produktivitätsrente – aber eben nur für deutsche Staatsbürger.
    Doch diesen Punkt stellt die Partei im Wahlkampf Dörre zufolge gar nicht in den Vordergrund: „Programmatisch schieben sie etwa mit Blick auf die bevorstehende Abkühlung der Konjunktur, vielleicht Rezession Steuerentlastungen für Unternehmen usw. nach vorne. Das heißt, sie vertreten eigentlich eine klar marktliberale Position.“ (…)
    Fraglich ist allerdings, ob das Arbeiter davon abhalten wird, die AfD zu wählen. Denn offenbar klinge selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern gar nicht durch, dass man es mit politischen Positionen zu tun habe, die Gewerkschaftspolitik konterkarierten, meint Dörre.
    Er vermutet, dass es diesen Wählern gar nicht so sehr auf die konkreten politischen Forderungen der AfD ankomme, sondern eher auf die Art und Weise, wie diese den Protest aufgreife: „Der Osten steht auf! Wir vollenden die Wende! Man macht Gruppen sichtbar, Arbeiter, insbesondere männliche Arbeiter, die sich doppelt abgewertet fühlen: als Arbeiter abgewertet fühlen und dann auch noch abgewertet fühlen als Ostdeutsche.“
    Insofern begreifen viele Arbeiter offenbar die AfD als beste Chance, ihren Unmut darüber auszudrücken. Und das reicht Dörre zufolge bis in die Reihen der Gewerkschafter und der Arbeitnehmervertreter in den Betrieben.
    „Ich selber habe vor Kurzem auf einer Betriebsrätekonferenz in Erfurt gesprochen mit Hunderten von Betriebsräten, wo man sehr deutlich gesehen hat, dass in den Passagen, wo ich die AfD hart kritisiert habe und ihre antigewerkschaftliche Politik, dass 20 Prozent der Anwesenden demonstrativ nicht geklatscht haben.“
    Quelle: Deutschlandfunk Kultur

    Anmerkung Christian Reimann: Bitte lesen Sie dazu auch “Glückliche Menschen wählen nicht die AfD” und “Die AfD, die Rente und das Kronjuwel der Linken“.

  6. Deutschlands führende Ökonomen fordern Konsumverzicht
    Doch dann kamen die Wirtschaftswissenschaftler erneut auf die Klimadebatte zu sprechen und gaben der Argumentation vieler Fridays-For-Future-Aktivisten neues Futter. „Wir befinden uns in einem Zielkonflikt zwischen aktuellem Konsum und den Zukunftsmöglichkeiten“, führte Holtemöller aus. Wäre der CO2-Ausstoß egal, sei ein massives Wachstum ohne weiteres möglich. Doch das ginge auf Kosten nachfolgender Generationen.
    „Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen müssen und Investitionen in Innovationen tätigen“, sagte Holtemöller. Beides ginge allerdings nur über Konsumverzicht, da bekannte Verhaltensweisen dann nicht mehr möglich wären. Für den IWH-Forscher bedeutet das: „Die Gesellschaft muss sich entscheiden, welchen Beitrag sie zu leisten bereit ist.“
    Auch Claus Michelsen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung fügte hinzu: „Die deutsche Wirtschaft ist in einigen Bereichen sehr effektiv, etwa bei der Braunkohle.“ Hier werde sehr effizient viel Geld verdient. Das wird fehlen, diese Einkommen werden wir verlieren, so Michelsen, wenn wir „aus gutem Grund“ aus der Kohle aussteigen.
    In ihrem Gutachten bringen die fünf Institute ihre Position so auf den Punkt: „Die Klimapolitik erfordert einen Konsumverzicht der heutigen Generationen zugunsten von Investitionen in emissionsärmere Energieerzeugung und in die Verkehrsinfrastruktur.“ Auch ein langsameres Wirtschaftswachstum sei deshalb möglich.
    An diesem Punkt stoßen die fünf Institute an eine Debatte, die angesichts der Klimadiskussion wieder im Aufschwung ist; die Frage, ob eine stetig wachsende Wirtschaft erstrebenswert ist. Seit der „Club of Rome“ im Jahr 1972 das Werk „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlich hat, ist die Wachstumskritik in der Gesellschaft angekommen. Unter dem Schlagwort „Degrowth“ war sie in den vergangenen Wochen mehrmals zu hören.
    Wachstumskritiker bezweifeln, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der richtige Maßstab für das Wohlergehen einer Volkswirtschaft ist. Auch Greta Thunberg hatte in ihrer „How dare you“-Rede vor der UN das immer währende Wachstum als „Märchen“ bezeichnet.
    Quelle: Der Tagesspiegel

    Anmerkung J.K.: Sorry, aber man kann es nicht anders formulieren, aber hier wird nur wieder der übliche neoliberale Bullshit verbreitet.

    “Auf lange Sicht macht den Forschern sogar nicht das Klima, sondern die Demografie die größten Sorgen. Es müsse ein Fokus darauf gelegt werden, die sozialen Sicherungssysteme „demografiefest“ zu machen, forderte Stefan Kooths von Institut für Weltwirtschaft Kiel. Und zwar ohne dafür einfach ein höheres Staatsdefizit in Kauf zu nehmen: Viel mehr müsse sich das System grundsätzlich an die veränderte Altersstrukturen der Bevölkerung anpassen. Das langfristige Wachstum der deutschen Wirtschaft sei durch die geringere Zahl von Menschen im arbeitsfähigen Alter massiv bedroht.”

    Wie gesagt, Bullshit, wenn angesichts einer rasanten Digitalisierung der Arbeitswelt prognostiziert wird, dass bis zu 40 Prozent aller Arbeitsplätze überflüssig werden könnten. Wo soll dann ein Mangel an “Menschen im arbeitsfähigen Alter” auftreten? Um die sozialen Sicherungssysteme „demografiefest“ zu machen, wäre dringend geboten darüber nachzudenken, wie die Gewinne der Unternehmen die durch Digitalisierung und Rationalisierung entstehen, abgeschöpft werden können um eben die sozialen Sicherungssysteme „demografiefest“ zu machen. Es würde aber vermutlich schon ausreichen endlich den aggressiven Steuervermeidungsstrategien gerade auch der Großkonzerne der digitalen Welt einen Riegel vorzuschieben. Und die Forderung nach Konsumverzicht mutet angesichts der jüngsten Studie des DIW zur signifikanten Vermögensungleichheit in Deutschland zynisch an.

    Anmerkung Jens Berger: Man hätte die Uhr nachstellen können, wie lange es braucht, bis die Neoliberalen die Klimadebatte für ihre üblichen Forderungen instrumentalisieren. Besonders ärgerlich – wann auch nicht wirklich überraschend – ist, dass der Tagesspiegel dieses durchschaubare Spiel willfährig mitspielt.

  7. Ein industriell geplanter Milliardencoup
    Es geht eine Geschichte um in Deutschland, sie handelt von Täuschung und Moral. Man erzählt sie sich vielerorts, in Anwaltskanzleien, Finanzbehörden und Gerichtssälen, in hitzigen Debatten im deutschen Bundestag sowie in Küchengesprächen unter Journalisten. In einer Variante ist es eine Gruppe von Kindern, in der anderen sind es Kunden eines Supermarktes, die Pfandflaschen an einem Automaten zurückgeben.
    Der Pfandbon wird kopiert und mehrfach eingelöst, der Gewinn wird geteilt. Das „Leergut“ steht in der Geschichte für Aktiengeschäfte, der „Pfandautomat“ ist das Finanzamt und der Bon ist der Bescheid über Kapitalertragsteuer. (…)
    Damit werden auf einmal die komplexen Strukturen des Dividendenstrippings zwischen Käufer und (Leer)-Verkäufer, Broker, inländischer Depotbank und Finanzverwaltung deutlich, die unter dem Fachbegriff „Cum-Ex-Transaktionen“ längere Erklärungen nach sich ziehen. Für Erzähler und Zuhörer der Geschichte gewinnt der ethisch äußerst fragwürdige Griff in die Staatskasse noch einmal an Wucht. Allein die Cum-Ex-Geschäfte mit Leerverkäufen sollen in Deutschland nach Schätzungen des Mannheimer Wirtschaftswissenschaftlers Christoph Spengel einen Steuerschaden von mindestens 10 Milliarden Euro verursacht haben.
    Weil die Akteure weitere Konstruktionen nutzten – der deutsche Gesetzgeber schloss erst 2012 eine Lücke im Gesetz – und auch in anderen Ländern ihr Unwesen trieben, wird der Schaden für ganz Europa auf 55 Milliarden hochgerechnet. Die Volksseele kocht, aber die Wut richtet sich in Deutschland meist abstrakt gegen gierige Banker. Weitgehend unsichtbar für die Öffentlichkeit agierten die Netzwerke von Börsenhändlern, Anwälten und Finanzberatern. Ohnehin waren die Deals nur für wohlhabende Investoren gedacht, wie den mittlerweile verstorbenen Rafael Roth, der zu Lebzeiten einer der reichsten Deutschen war.
    Quelle: Frankfurter Allgemeine

    Anmerkung Christian Reimann: Bitte lesen Sie dazu auch “Cum Cum, Cum Ex, Cum Fake – es ist an der Zeit, die Spielregeln grundsätzlich zu ändern” vom 26. November 2018. Daraus ein Zitat:

    „Stellen Sie sich doch einmal vor, der Mitarbeiter in der Pfandannahme eines Supermarkts würde einem Komplizen reihenweise hohe Pfandbons ausstellen, die dieser sich dann an der Ladenkasse auszahlen lässt. Anhand dieses – natürlich vereinfachten – Beispiels erklärt der Finanzexperte der Linksfraktion, Fabio De Masi, die Cum-Fake-Masche. Wie lange würde die Betrugsmasche mit den Pfandbons wohl funktionieren? Wahrscheinlich bis zur nächsten Kassenprüfung. Und dies ist der elementare Unterschied zum Betrug mit den „Kapitalertragssteuer-Bons“, die freilich nicht von der Supermarktkasse, sondern vom Finanzamt zurückerstattet werden. Und dies, ohne das zuvor jemals eine Zahlung an das Finanzamt geleistet wurde.“

  8. Global inequalities in taxing rights: An early evaluation of the OECD tax reform proposals
    The current OECD process to reform the international rules governing corporate tax, aimed to achieve a consensus solution by 2020, has finally recognised the need to introduce elements of formulary apportionment to allocate the profits of multinationals and is framed explicitly in terms of redistributing taxing rights between countries. In this paper we provide the first public evaluation of the redistribution of taxing rights associated with the leading proposals of the OECD, IMF and the Independent Commission for the Reform of International Corporate Taxation (ICRICT). The first key finding is that that reallocation of taxing rights towards “market jurisdictions”, as it is currently understood, is likely to be of little benefit to non-OECD countries. Indeed, the proposal is likely to reduce revenues for a range of lower-income countries. Second, all of the proposals deliver a much broader distribution of benefits if some element of taxing rights is apportioned according to the location of multinationals’ employment, and not only of sales.
    Quelle: SocArXiv
  9. Giegold sieht Gefahr einer gesamtbritischen Steueroase
    Giegold reagierte mit Skepsis auf die neuerlichen Pläne von Premierminister Boris Johnson, wonach die Grenzkontrollen auf der irischen Insel auch ohne Backstop vermieden werden könnten. Demnach soll Nordirland auch nach dem Brexit zunächst die EU-Standards und -Vorschriften für Waren einhalten. Damit wären aus Sicht der Regierung in London regulatorische Kontrollen für den Warenhandel an der Grenze unnötig.
    „Johnsons Vorschlag würde dazu führen, dass die Verpflichtung Großbritanniens, Teil des EU-Binnenmarktes zu sein, nur für kurze Zeit festgeschrieben ist. Das war schon damals eine sanfte Version der Angleichung der Regeln und würde nur für vier Jahre gelten. Danach könnte es logischerweise wieder zu harten Grenzkontrollen kommen“, sagte Giegold. (…)
    Auch seien die Sorgen berechtigt, dass Johnson und die britischen Konservativen aus ganz Großbritannien eine Steueroase machen wollten und dies nicht etwa nur auf die Insel Guernsey zu beschränken. „Die Gefahr besteht natürlich. Das Parlament hat mehrfach klargemacht, dass die Absenkung der Steuerstandards bei gleichzeitiger Freiheit des Kapitalverkehrs nicht akzeptabel ist“, sagte der Europaparlamentarier.
    Die City of London sei der wichtigste Finanzplatz in Europa. „Davon haben wir auch Vorzüge, das darf aber nicht missbraucht werden, um Steuerdumping zu betreiben. Das hat man leider den Briten schon bisher durchgehen lassen, und wenn jetzt jeder Regelungsrahmen durch einen Brexit nicht mehr gilt, dann muss man umso kritischer sein, was die Freiheit des Kapitalverkehrs angeht“, so Giegold. (…)
    „Es sind populistische Versprechungen gemacht worden, nämlich dass man die intensiven Handelsbeziehungen mit Europa aufrecht erhalten könne und gleichzeitig seine eigenen Handelsverträge, seine eigenen Steuerregeln, seine eigenen Finanzmarktregeln ohne den gemeinsamen Regelungsrahmen in Europa noch beachten zu müssen. Das geht eben nicht.“
    „Wir wollen freien und offenen Waren- und Dienstleistungsverkehr auch in Zukunft. Dafür muss es auch gemeinsame Standards geben. Das gilt übrigens auch für Handelsverträge mit dem Rest der Welt“, sagte der Grünen-Politiker.
    Quelle: Deutschlandfunk
  10. Mietenwahnsinn: Warum wir eine Neue Wohnungsgemeinnützigkeit brauchen
    Die Mieter*innenproteste haben die städtische Wohnungsnot auf die politische Tagesordnung gezwungen. Doch die Antworten der Politik sind völlig unzureichend. Für eine Lösung der Wohnungskrise braucht es durchgreifendere Maßnahmen, wie sie mit dem Konzept der Neuen Wohnungsgemeinnützigkeit vorgeschlagen werden. Das Hintergrundpapier schildert Ziele, Instrumente und Rahmenbedingungen dieses Konzepts sowie konkrete Initiativen für seine Umsetzung.
    Kaum ein Tag vergeht, an dem die Medien nicht die Not der Mieter*innen in den Städten schildern oder die Ratschläge diverser Expert*innen verbreiten. Aber die Politik reagiert bislang allenfalls auf lokaler Ebene. Derweil glänzt die Bundesregierung durch Tatenlosigkeit, die sie mit Placebos wie der Mietpreisbremse zu kaschieren versucht.
    Doch durch die hohe Zustimmung für radikalere Maßnahmen wie Hausbesetzungen und Enteignungen geraten die Regierenden langsam unter Druck. Eine der Grundfesten kapitalistischer Gesellschaften, das Privateigentum, wird offen in Frage gestellt.
    Damit verliert auch die private Immobilienwirtschaft zunehmend an Legitimation. Ihre Lobbyist*innen in Medien und Politik versuchen, die Diskurshoheit zurückzugewinnen. Doch verblüfft müssen sie feststellen, dass ihre abgestandene Propaganda gegen jegliche Regulierung des Wohnungsmarkts kaum noch verfängt. Immer mehr setzt sich die Einsicht durch: Wohnen ist Teil der Daseinsvorsorge und muss dem privaten Gewinnstreben entzogen werden. (…)
    Um eine soziale Wohnraumversorgung sicherzustellen, muss der Wohnungssektor der Kommerzialisierung entzogen und zu einem öffentlichen Gut werden. Eine Neue Wohnungsgemeinnützigkeit (NWG), wie sie seit einigen Jahren diskutiert wird, bietet dafür eine Grundlage. Erste Konzepte der NWG liegen bereits vor.(3)
    Die Grünen und die Linkspartei griffen diese Konzepte in Bundestagsanträgen auf, die 2017 jedoch von CDU/CSU und SPD abgeschmettert wurden.(4) Einmal mehr zeigten die GroKo-Parteien den MieterInnen die kalte Schulter. Doch die sich immer weiter verschärfende Wohnungskrise verdeutlicht: Wir brauchen unverändert einen grundlegenden Wandel der Wohnungspolitik, wie ihn die NWG ermöglicht.
    Die Vorschläge zur Ausgestaltung der NWG enthalten Elemente, die eine schrittweise Verschiebung der Eigentumsstruktur an Häusern und Grundstücken und den Aufbau eines gemeinnützigen Wohnungssektors bewirken können. Unternehmen, die Prinzipien der NWG anwenden, sollen verschiedene Vergünstigungen erhalten: Steuererleichterungen und privilegierten Zugang zu staatlichen Fördermitteln und vor allem Grundstücken. Im Gegenzug müssen sie in dauerhaft leistbare Mieten und eine demokratische Kontrolle der Unternehmen einwilligen.
    Die NWG erfordert politische Veränderungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Auf Bundesebene müsste ein Gesetzespaket unter anderem die steuerlichen Vergünstigungen für gemeinnützige Unternehmen schaffen, etwa durch eine Änderung der Abgabenordnung. Zusätzlich müssten Bund, Länder und Kommunen den privilegierten Zugang der Gemeinnützigen zu Fördermitteln und Grundstücken regeln.
    Quelle: attac
  11. Arbeitsunrecht erwirkt einstweilige Verfügung gegen Tönnies
    Tönnies‘ PR-Abteilung verbreitet Fake-News.
    Es hat nie ein Gesprächsangebot von Tönnies gegeben, das wir hätten ablehnen können
    Die Initiative aktion ./. arbeitsunrecht erwirkte am 30. September 2019 am Landgericht Köln eine einstweilige Verfügung gegen die Tönnies Holding ApS & Co. KG und deren Pressesprecher André Vielstädte (Az. 28 O 356/19). Die Behauptung ist zu unterlassen, es habe ein Gesprächsangebot von Tönnies gegeben, auf das die Initiative nicht reagiert habe.
    Unter der Überschrift „Tönnies wehrt sich: Buntes Wochenende mit 87 Nationen“ hieß es auf der Tönnies-Website: „Die Vorwürfe des Vereins gegen Arbeitsunrecht e.V. sind falsch. Auf die Gesprächseinladung und das Angebot zu einem inhaltlichen Dialog hat der Verein nicht reagiert, daher haben wir gegen den Verein Unterlassungsansprüche durchgesetzt, die aktuell vollstreckt werden.“ sagt Dr. Vielstädte.
    Im Rahmen der Berichterstattung zum bundesweiten Aktionstag Schwarzer #Freitag13 am 13.9.2019 gegen Deutschlands größten Schweinefleischproduzenten hatten mehrere Zeitungen und Sender diese Falschbehauptung des Konzerns kolportiert. Der Zungenschlag: Mit diesen Leuten kann man nicht reden.
    Quelle: arbeitsunrecht in deutschland
  12. Existenz statt Minimum
    In Großbritannien zahlen einige Firmen freiwillig mehr als den Mindestlohn. Arbeitsminister Heil will das Konzept nach Deutschland holen. Hilft das Geringverdienern? (…)
    Im weniger marktliberalen Deutschland fordern Gewerkschafter*innen, Wohlfahrtsverbände und Politiker*innen, etwa der Linkspartei und der SPD, schon länger eine Anhebung des Mindestlohns auf 60 Prozent des mittleren Einkommens, was derzeit etwa zwölf Euro entspräche – bislang ohne Erfolg. Gerade erst erklärte das Arbeitsministerium, es spreche sich gegen einen »politisch gesetzten Mindestlohn aus«, liest man im Ergebnisbericht des Zukunftsdialogs. Allerdings kündigte Arbeitsminister Heil an, die Kriterien der Mindestlohnkommission zu reformieren. Sie bestimmt die Mindestlöhne, muss sich aber an enge Vorgaben halten. Das könnte die Tür für deutlichere Lohnsteigerungen öffnen.
    Zusätzlich will das Arbeitsministerium den Living-Wage-Ansatz nach Deutschland holen. Die »Lohnleitlinien« seien »komplementär« zu dem gesetzlichen Mindestlohn, betont eine Sprecherin auf Anfrage. Sie sollen also kein Ersatz sein. »Im Gegensatz zum allgemeinen Mindestlohn, der – unabhängig von seiner konkreten Höhe – bundesweit eine bußgeldbewehrte absolute Lohnuntergrenze gewährleisten soll, bieten Lohnleitlinien Arbeitgebern, zum Beispiel in Metropolregionen, die Möglichkeit, sich zu höheren Lohnstandards zu verpflichten.«
    Doch nicht alle überzeugt das. Der Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung der Gewerkschaft ver.di, Norbert Reuter, hat vor allem wegen der Freiwilligkeit Bedenken: »Ohne einen nochmaligen Eingriff der Politik wird man kaum schnell zu existenzsichernden Mindestlöhnen kommen.« Geneigte Unternehmer sagten zwar, dass die Beschäftigten mehr verdienen sollten. Aber der Wettbewerb sei knallhart, man konkurriere über die Kosten. »Deswegen ist es nicht einfach für einzelne Unternehmen voranzugehen.«
    Auch Susanne Ferschl, Gewerkschafterin und Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, warnt davor, nur auf den guten Willen der Unternehmen zu setzen: »Das klingt doch nach einem schlechten Witz, wenn ausgerechnet diejenigen Unternehmen, die seit Jahren auf prekäre Beschäftigung, Dumpinglöhne und Tarifflucht setzen, plötzlich freiwillig höhere Löhne bezahlen sollen.« Um Erwerbs- und Altersarmut zu verhindern, seien schon heute mindestens verbindliche zwölf Euro die Stunde nötig.
    Quelle: neues deutschland
  13. KiKxxl spendet 20.020 Euro für Hilfsprojekt „Madamfo Ghana“
    1.500 Kunden und Mitarbeiter waren in das Alando-Ballhaus gekommen, um das Jubiläum zu feiern. In einer von der Moderatorin Ruth Moschner geleiteten Talkshow berichtete Geschäftsführer Andreas Kremer von der Unternehmensgründung mit zwei Mitarbeitern, über die wichtige Ergänzung von Erden Yildirim in der Geschäftsleitung und über die Herausforderungen der Branche. Beide bedankten sich bei den Mitarbeitern sowie bei ihren Familien für die Unterstützung in den 20 Jahren, in denen das Unternehmen auf über 2.000 Mitarbeiter gewachsen ist.
    „Das war schon manchmal eine harte Zeit, bei der die Familie oft zurückstecken musste“, erinnert sich Kremer. Beide Geschäftsführer würden wie ein altes Ehepaar wirken, so Moschner mit einem Augenzwinkern. „Ein Ehepaar, welches oft hart in der Sache diskutiert, sich aber nie streitet“, so Yildirim. Während der Talkrunde wurden auch die ersten beiden Mitarbeiter des Unternehmens geehrt.
    KiKxxl ist weiter auf Wachstum aus. So soll im nächsten Jahr ein weiterer Standort in Recklinghausen eröffnet werden. Das Unternehmen unterhält Standorte in Bremen, Osnabrück, Bochum, Dortmund und Pristina (Kosovo).
    Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung

    Anmerkung Christian Reimann: Das ist eine unangemessen, wohlwollende Berichterstattung über ein Callcenter, das offenbar bis heute nicht einmal einen Betriebsrat hat. Bitte lesen Sie dazu auch Arbeit im Callcenter schadet Bewerbern mehr als Arbeitslosigkeit und Callcenter: Arbeiten in der Großraumhölle.

    Gerne wird in der Branche von „schwarzen Schafen“ geredet, die es vereinzelt gäbe. Aber ist nicht vielmehr die gesamte Branche ein „schwarzes Schaf“, das vor allem durch Outsourcing-Prozesse meist angesehener Konzerne und Niedriglöhne genährt wurde und wird?

  14. Kritik an “neoliberalem” Klimaplan
    Mit ihrem ehrgeizigen Klimaplan setzen die Grünen die Koalition unter Druck. Hatte sich Unionfraktionschef Brinkhaus noch gesprächsbereit gezeigt, gingen jetzt führende Politiker von SPD und CDU zum Angriff über.
    SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat den Grünen in der Klimapolitik einen neoliberalen Kurs vorgeworfen, der sich an einer finanziell privilegierten Wählerschaft orientiere. Die große Mehrheit der Grünen wolle klimaneutrales Handeln durch einen höheren Preis etwa für den Kohlendioxid-Ausstoß erreichen, sagte Mützenich dem Berliner “Tagesspiegel”. “Ich spitze das mal zu: Die Grünen handeln neoliberal.”
    Das habe womöglich damit zu tun, dass die Grünen-Wählerschaft im Durchschnitt über ein hohes Einkommen verfüge. Für die SPD nahm Mützenich in Anspruch, sie habe auch “diejenigen im Blick, die nicht über genügend Geld verfügen, um ohne große Einbußen klimagerecht zu leben und zu konsumieren”.
    Die Grünen reagierten prompt: “Würde die SPD genauso viel Energie für #Klimaschutz verwenden, wie für die Beschimpfung der Konkurrenz, dann ginge es dem Klima besser”, twitterte der Bundesgeschäftsführer der Grünen Michael Kellner.
    Quelle: Tagesschau

    Anmerkung Jens Berger: Die SPD entdeckt ihre Kritik am „Neoliberalismus“? Im konkreten Fall ist die Kritik jedoch reichlich schräg, sieht das Konzept der Grünen doch eine Absenkung der Stromsteuer und ein Energiegeld iHv 100 Euro pro Kopf vor, wohingegen das Konzept der Großen Koalition überhaupt keine soziale Ausgleichskomponente beinhaltet.

  15. „Ich glaube nicht an Strafe“
    Udo Grönheit hat seit 45 Jahren eine Kanzlei am Hermannplatz, er arbeitet im Asyl- und Strafrecht – und er verteidigt nicht alles oder jeden. (…)
    Sie vertreten nicht nur Straftäter, sondern auch Menschen, die abgeschoben werden sollen. Warum arbeiten Sie im Asyl- und Strafrecht?
    Im Ausländer- und Asylrecht kann man als Anwalt eine eminent politische Arbeit leisten. Es geht um einschneidende Konsequenzen für die Betroffenen und um die Sicherung von Menschenrechten. (…)
    Wenn jemand staatlichem Angriff ausgesetzt ist, engagiere ich mich stark. DemonstrantInnen werden häufig zu Unrecht beschuldigt. Die Aussagen von PolizistInnen zählen häufig mehr – weil angenommen wird, dass sie kein persönliches Interesse hätten und daher nicht lügen würden. Ich habe allerdings schon häufig lügende Polizeibeamte erlebt. (…)
    Als Anwalt braucht man nirgendwo sonst eine so hohe Frustrationstoleranz wie im Asylrecht. Das Recht ist dort entleert. Es wird fast nur noch gegen die AsylbewerberInnen entschieden. Man behandelt die Menschen wie lästige Bittsteller. Letztes Jahr lehnte ein Verwaltungsrichter eine Mandantin von mir ab: die Mutter von vier Kindern floh vor ihrem Ehemann aus der Türkei. Der Richter begründete: Es gäbe auch dort Sozialhilfe, man würde sich schon um sie kümmern. So etwas macht mich wütend.
    Quelle: taz
  16. Der bildungsferne Campus
    Caution Students. Summit ahead“, schrieben empörte amerikanische Eltern in Kansas auf Plakate und meldeten ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen ab, nachdem dort die Facebook-Lernsoftware Summit eingeführt worden war. Die Kinder klagten über Kopfschmerzen und Handkrämpfe und fragten nach Kopfhörern, um Ruhe vor anderen Kindern zu haben, die Videos schauten. Denn bei Summit sitzt jedes Kind allein vor seinem Laptop, ruft Lernstoff online ab, schaut Filme und Animationen an und beantwortet Quizfragen. Gemeinsamer Unterrichtet ist abgeschafft.
    Propagiert wird diese Form des sozial isolierten Lernens als personalisiertes und adaptives Lernen. Mit adaptiv bezeichnet man dabei nicht Lernprozesse, sondern Software, die das Nutzerverhalten auswertet, darin charakteristische Muster erkennt und daraus berechnet, was der Lernende als Nächstes tun soll. Lernstoff und Ziel sind vorgegeben, die Lernwege werden mit Hilfe einer kleinteiligen Lernstandsmessung angepasst. Erfolgreich sind solche Projekte vor allem für Anbieter, die so auf Schülerdaten zugreifen und immer exaktere Lern- und Persönlichkeitsprofile auf Basis immer größerer Datenmengen generieren können.
    Das amerikanische Unternehmen Pearson, nach eigenem Verständnis „The World’s Learning Company“, ist ein Beispiel für solche kommerziellen, digitalisierten Bildungsangebote auf Basis von Nutzerdaten. Das Unternehmen, das auch auf dem deutschen Bildungsmarkt expandiert, investierte zwischen 2011 und 2017 rund 33 Millionen Dollar in die adaptive Software Knewton, ein Lernwerkzeug, das laut Gründer und früherem Geschäftsführer, Jose Ferreira, noch mehr Daten über Nutzer sammelt als Google. Heute entwickelt Pearson diese Analyse-Werkzeuge selbst weiter. (…)
    Darum geht es schließlich, wenn eine digitale Infrastruktur mit permanentem Rückkanal installiert wird: um Daten für die automatisiere Auswertung von Nutzerverhalten mit dem Ziel der Verhaltenssteuerung der Nutzer per Web und App. Die Begriffe dafür sind affective computing, also Gefühlsvermessung, und persuasive Technologien, mit deren Hilfe Einstellungen und Verhalten von Personen auch unbemerkt verändert werden können. In Verbindung mit der Logik und dem strategischen Handeln der Datenökonomie haben sich daraus IT-Monopole und weltweite Netzstrukturen zu einem Überwachungskapitalismus entwickelt.
    Neben dem Gesundheitswesen sind Bildungsinstitutionen im Visier der Datensammler. Zwar kann nicht das Lernen selbst digitalisiert werden, denn kein Mensch lernt digital. Automatisiert werden kann aber das Beschulen und kleinteilige Prüfen. Für Schulen ist es ein Paradigmenwechsel: weg von der Pädagogik, hin zur datengestützten Schulentwicklung.
    Das Auswerten personenbezogener Daten ist das eine, der Aufbau und Unterhalt der IT-Infrastruktur für Schulen und Hochschulen das andere überaus attraktive Geschäftsfeld. Der 2016 von der damaligen Bildungsministerin Johanna Wanka lancierte Digitalpakt Schule ist seit Mai 2019 in Kraft. Rund vierzigtausend Schulen dürfen jetzt Anträge schreiben, in denen sie darlegen müssen, wie sie mit Laptops und Tablets, Whiteboards und Internet arbeiten wollen. Und sie müssen verbindlich zusichern, diese technische Infrastruktur auf eigene Kosten zu ersetzen, wenn der Pakt in fünf Jahren ausläuft. So sichert man sich, dank Digitalpakt Schule, schon einmal den Zugriff auf künftige Schuletats.
    Quelle: Frankfurter Allgemeine

    Anmerkung unserer Leserin D.B.: Immer wieder für (Samstags-)Überraschungen gut, die FAZ. In seinem Gastbeitrag geht Rolf Lankau mit dem seit Mai 2019 in Kraft befindlichen Digitalpakt von Bund und Ländern ins Gericht.

    Ergänzende Anmerkung Christian Reimann: Bitte lesen/sehen Sie dazu auch “Die Digitalisierung ist ein Experiment an unseren Kindern.“, “Der Digitalpakt wird unseren Kindern sehr schaden. Eigentlich unverantwortlich.” sowie Video mit dem 30. Pleisweiler Gespräch. Thema: „Verbaut die digitale Revolution unseren Kindern die Zukunft? – Erkenntnisse aus der Evolutions- und Hirnforschung“ und “Der gemeinsame Nenner von etablierten Medien und Politik: Gedankenlosigkeit. Sichtbar bei der Digitalisierung in den Schulen“.

  17. Ängste, Depressionen, Studienabbruch – Wenn Studenten psychisch krank werden
    Hunderttausende Studierende in Deutschland sind psychisch krank, viele brechen deswegen ihr Studium ab. Bildungspolitiker und Beratungsstellen versuchen, diese Entwicklung zu stoppen. Aber die Herausforderungen bleiben groß.
    „Und dann atmet man ganz tief ein, sodass der Brustkorb raus geht und auch der Bauch. Da drin hält man die Luft ein bisschen. Das sind richtig tiefe Atemzüge. Währenddessen denkt man an nichts. Man kann auf den eigenen Herzschlag hören, der ist ja manchmal sehr laut, wenn man eine Panikattacke hat.“
    Kathi ist Mitte 20. Sie leidet unter Angststörungen. Die Atemübung beruhigt sie, wenn sie wieder glaubt, zu ersticken, oder das Gefühl hat, gleich spalte sich ein Teil von ihr ab.
    Sie hatte schon in der Schulzeit Depressionen. Die Angststörungen kamen während des Abiturs hinzu. Das erste Semester ihres Literaturwissenschaftsstudiums hat noch ganz gut funktioniert:
    „Ich habe mich dann einfach nur darauf fokussiert, es in die Uni zu schaffen und meinen 450-Euro-Job zu machen.“
    Quelle: Deutschlandfunk
  18. Glück ist, wenn der Pfeil den Nebenmann trifft
    Unser absurder Alltag: Essayist Götz Eisenberg entdeckt das Mobbing als neoliberalen Breitensport.
    Auf einem Spaziergang um den Schwanenteich erzählte mir eine Freundin, dass ihr Sohn in einer nördlich gelegenen Provinzstadt Lehrer sei. An seiner Schule hätten neulich zwölfjährige Schüler ihre Mitschülerinnen mit einer Selfie-Stange unter der Toilettentür hindurch gefilmt und die kompromittierenden Filme anschließend ins Netz gestellt. Als man sie zur Rede stellte, zeigten sie keinerlei Scham- und Schuldgefühle. So etwas gehört offenbar inzwischen zur Normalität.
    Unlängst begegnete ich im Wald einer Schulklasse auf Wandertag. Obszöne Beschimpfungen flogen durch die Luft. In dem Gefängnis, in dem ich lange gearbeitet habe, herrschte, im Vergleich mit dieser Klasse, ein gesitteter Ton. Unlängst stieß ich auf Jugendliche, die sich über die Straße hinweg unflätig beschimpften: “Bastard”, “Hurensohn”, “Spast” – das volle Programm. Ich erinnere mich an mein Erschrecken, als ich zum ersten Mal mitbekam, dass unter Kindern und Jugendlichen “du Opfer” als Schimpfwort im Schwange ist. Dass so etwas möglich ist, wirft ein schlagendes Licht auf die Perversion im Menschenbild, die in den letzten Jahren im Zeichen eines Kults des “Winners” um sich gegriffen hat. Dessen Credo lautet: Glück ist, wenn der Pfeil den Nebenmann trifft!
    Eingangs seiner Autobiographie, die unter dem Titel “Wie man wird, was man ist” erschienen ist, schildert der amerikanische Psychotherapeut und Schriftsteller Irving D. Yalom einen Traum, den er als alter Mann träumt. Darin ist er zehn, vielleicht elf Jahre alt und fährt in seinem Heimatort mit dem Rad eine Straße hinunter. Er sieht ein Mädchen namens Alice vor ihrem Haus sitzen. Sie ist ein wenig älter und hübsch, obwohl ihr Gesicht voller roter Flecken ist. Im Vorbeifahren ruft er ihr zu: “Hallo, Masern!” Im Traum steht plötzlich ein großer und kräftiger Mann vor ihm und stoppt seine Fahrt, indem er den Lenker seines Rades packt. Es ist der Vater des Mädchens. Er ist sehr erbost und fragt ihn, ob er sich vorstellen könne, wie seine Tochter sich nach dieser Anrede fühle. Ihm wird noch im Traum klar, dass er Alice grob beleidigt und gekränkt hat. Er ist entsetzt, vor allem auch darüber, wie leicht und unbedacht ihm die Beleidigung über die Lippen ging. Schließlich kommt Alice herbeigelaufen und fragt ihn, ob er nicht reinkommen und mit ihr spielen möchte. Er antwortet: “Ich fühle mich so schrecklich, ich schäme mich so. Ich kann nicht.”
    Als Junge ist Yalom tatsächlich am Elternhaus von Alice vorbeigeradelt und hat ihr “Hallo, Masern!” zugerufen. Nun, 70 Jahrs später, bricht ein verkapselter Abszess auf, und er braucht lange, um sich von diesem Traum zu erholen. Er ist aufgewühlt und voller Schuldgefühle. Ihm wird klar, welchen Schaden er damals leichtfertig angerichtet hat und formuliert in seiner Autobiographie eine späte Entschuldigung: “Verzeih mir, Alice.”
    Quelle: Götz Eisenberg in Gießener Anzeiger