Spezielle Ost-Soziologie oder der neue Trick des Neoliberalismus

Spezielle Ost-Soziologie oder der neue Trick des Neoliberalismus

Spezielle Ost-Soziologie oder der neue Trick des Neoliberalismus

André Tautenhahn
Ein Artikel von André Tautenhahn

Nach dem starken Abschneiden der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen herrscht die weitverbreitete Meinung vor, dass der Osten ein massives Nazi-Problem habe. Nach der jüngsten Landtagswahl werden die Wähler der AfD selbst zu Tätern gemacht. Sogar mit Hilfe von Soziologen, obwohl deren Disziplin als physique sociale im revolutionären Frankreich des 19. Jahrhunderts einst das Licht der Welt erblickte. Sie war damals nötig geworden, um die ungeordneten Verhältnisse zu durchdringen und aus der Erkenntnis über die Funktionsweise der Gesellschaft ein Herrschaftswissen zu formen, das brauchbare Empfehlungen für ein vernünftiges politisches Handeln bietet. Heute ist es umgekehrt. Die professionalisierte Sozialwissenschaft ordnet sich den herrschenden Verhältnissen unter, lässt sich von ihnen instrumentalisieren und leistet damit einen Beitrag zur weiteren Spaltung der Gesellschaft. Von André Tautenhahn.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Soziologe Alexander Yendell kommt im Interview auf Spiegel Online zu dem Ergebnis, dass der Erfolg der AfD gerade nicht von den ökonomischen Verhältnissen im Osten der Republik abhängig sei, also von niedrigen Einkommen und prekären Beschäftigungsverhältnissen, sondern in einer grundsätzlich vorherrschenden Fremdenfeindlichkeit begründet liege.

„Wir haben durch repräsentative Umfragen eine ziemlich genaue Vorstellung von den Lebensumständen der AfD-Wähler und können berechnen, welche Faktoren es am wahrscheinlichsten machen, ob jemand rechts wählt oder nicht. Das Ergebnis: Arbeitslosigkeit und niedrige Einkommen spielen überhaupt keine Rolle. Wirtschaftliche Benachteiligung erklärt nicht den Erfolg der AfD. […] Die Diskussion über wirtschaftliche Gründe für den Erfolg der Rechten führt also in die Irre. Das verbindende Element der AfD-Wähler ist Fremdenfeindlichkeit.“

Erschreckend ist, dass der Soziologe andeutet, die ostdeutsche Gesellschaft sei quasi von Natur aus rassistisch („grundsätzlich fremdenfeindliche Einstellung“). Worin unterscheidet sich solch eine Bewertung eigentlich noch von den Behauptungen des Björn Höcke, der eine Klassifizierung von Menschen nach Ausbreitungs- und Platzhaltertypen vornimmt? Ist der Soziologe, den der Spiegel da interviewt hat, etwa selbst ein Rassist? Natürlich nicht. Er arbeitet nur sehr oberflächlich, um nicht zu sagen, interessengeleitet. So vertritt Yendell eine gängige Sprachregelung, wonach es den Menschen im Osten wirtschaftlich gut ginge. Das zeigten seine Untersuchungen. Unterschlagen wird aber, dass gerade in den ostdeutschen Bundesländern jeder Dritte für einen Niedriglohn arbeiten muss und die Löhne im Schnitt 33 Prozent unter denen des Westens liegen, wie Sahra Wagenknecht am Sonntag bei Anne Will noch einmal unterstrich. Die Ergebnisse der Landtagswahl in Thüringen widersprechen zudem der Einschätzung des Soziologen. Demnach gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen dem Bildungsabschluss und der Wahlentscheidung.

Wenn man nun den naheliegenden Schluss zöge, dass der formale Bildungsabschluss auch etwas mit der sozioökonomischen Situation des Einzelnen zu tun hat, ist die Aussage, dass es AfD-Wählern gut gehe, schlicht falsch.

Die Sozialwissenschaft war schon mal viel weiter

Die Sozialwissenschaft war schon mal viel weiter. Sie kennt die beiden ehemaligen Staaten auf deutschem Boden und die zwei Gesellschaften, die sich in ihnen entwickelten. Kritische Soziologen wissen daher um eine gesellschaftliche Differenz, die auch nach 30 Jahren deutscher Einheit immer noch von Bedeutung ist. Noch heute wird Fremdenfeindlichkeit im Osten anders wahrgenommen als im Westen. Das hat Gründe, die längst analysiert sind. Eins ist aber wichtig. Im Osten wird Fremdenfeindlichkeit als ein unberechtigter Vorwurf aus dem Westen verstanden. Menschen aus dem Westen sind wiederum häufig entsetzt darüber, wie abwertend Ostdeutsche über Ausländer und Migranten reden. Dieses Unverständnis wird durch Pauschalurteile wie des Soziologen auf Spiegel Online weiter verstärkt. Man werde per se als rechtsradikal abgestempelt, heißt es oft. Dieser Satz wird von den Ostdeutschen häufig auch dann nachgeschoben, wenn man sie nach ihrer Haltung zur AfD oder zur Migration befragt. Dieses Verhalten hat viel mit einer spezifischen Perspektive des Westens zu tun, die über die Herstellung von Öffentlichkeit in beiden Teilen des Landes sehr einheitlich verbreitet wird.
Der Prozess der deutschen Einheit ist für die Menschen im Osten mit tiefgreifenden, ja traumatischen Umwälzungen, in jedem Fall aber mit einer beispiellosen Deindustrialisierung und Entwertung ihrer Biografien verbunden. Ein Großteil der kulturellen Strukturen, wie Verlage, wurden ebenso abgewickelt oder durch Westfirmen übernommen. Der Kabarettist Volker Pispers hat dies in einer seiner letzten Pointen vor dem Bühnenruhestand einmal angedeutet. Die Zeitung mit den meisten Abonnenten in der DDR, die Chemnitzer Freie Presse, wurde von Kanzler Kohl an der Treuhand vorbei der Familie Schaub in Ludwigshafen zugeschlagen, analysierte Pispers. „Ludwigshafen, Oggersheim, muss ein Zufall sein, ist eine Verschwörungstheorie“, spottete er in seinem Stück über die Struktur der westdeutschen Medien. Er sprach auch von den reichen Familien, die weder Schießbefehl noch Mauer bräuchten. Sie hätten den Stacheldraht mit ihren Medien erfolgreich durch die Köpfe der Menschen gezogen.

Im Grunde vermarktet der Westen seine Öffentlichkeit seit der Wende auch im Osten. Das ist der entscheidende Punkt. Wer beispielsweise die Bundespressekonferenz am Montag mit der AfD verfolgt hat, wird das vielleicht ein Stück weit nachvollziehen können. Die Journalisten, einschließlich des leider nicht mehr so kritischen Tilo Jung, fokussierten sich darauf, dass man Björn Höcke laut eines Gerichtsurteils einen Faschisten nennen dürfe. In zahlreichen Publikationen und Äußerungen wird das nun aufgenommen und wiederholt, ohne den genauen Hintergrund zu erklären, wie es journalistische Pflicht gewesen wäre. Die Eilentscheidung eines lokalen Verwaltungsgerichts wird benutzt, um einerseits Höcke mit einem gewünschten Etikett zu versehen, aber auch dessen Wähler im Osten gleich mit zu verurteilen. Seht her, ihr unterstützt einen Faschisten. Dabei hatte das Verwaltungsgericht Meiningen in der Begründung zu einem Beschluss zum Versammlungsrecht ausgeführt, dass es den Antragstellern, die gegen Höcke und eine Veranstaltung der AfD in Eisenach demonstrieren wollten, vor allem um die Auseinandersetzung in der Sache und nicht um die Diffamierung der Person gegangen sei. Zitat:

„Auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Eine Äußerung nimmt diesen Charakter erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern – jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik – die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.“

Schaut man auf die weitere Entwicklung, so steht die Diffamierung der Person in falscher Auslegung des gerichtlichen Beschlusses nun doch im Vordergrund und damit verbunden wird auch die Stigmatisierung von Wählern, die ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben. Sie werden von Menschen, die sich für vollends aufgeklärt und damit für moralisch überlegen halten, verurteilt. Ins gleiche Horn bläst auch der Linken-Abgeordnete Niema Movassat. Er schreibt auf seinem Twitterprofil.

„Sehr sehr sehr erschreckend, dass ca. jeder Vierte die Höcke-#AfD gewählt hat. Wer eine offensichtliche Nazipartei wählt- und das ist die AfD in #Thueringen – trägt Mitverantwortung für Hetze und Hass. Mit “ich will mal protestieren” kann man sich da nicht rechtfertigen.“

Quelle: Twitter

Dadurch werden aber nicht nur die Wähler der AfD, sondern alle Ostdeutschen buchstäblich einer erneuten Abwertung unterzogen. Die einen haben artig demokratische Parteien gewählt, andere eben nicht. Pfui Teufel. Diese herablassende Behandlung der ostdeutschen Wählerschaft verstärkt folglich genau das Verhalten, welches die „aufgeklärten Menschen“ mit ihren Äußerungen vorgeben, bekämpfen zu wollen. Eine funktionierende Sozialwissenschaft würde diesen Mechanismus erkennen und auch den Umstand, dass er durch eine Öffentlichkeit bestimmt und transportiert wird, die maßgeblich durch den Westen und deren Medien geprägt worden ist.

Unterdrückung von Sozialpolitik

Der Soziologe Yendell im Spiegel-Interview, aber auch der Bundestagsabgeordnete Movassat bedienen dagegen nur einen Reflex, ein bestimmtes Narrativ, statt der viel interessanteren Frage nachzugehen, welche Funktion die Stigmatisierung der AfD durch den scharfen Faschismus-Vorwurf eigentlich erfüllt. Er verdeckt ein weiteres Mal die inhaltliche Nähe der sogenannten Alternative für Deutschland zu den anderen Parteien, die sich immer noch gern in der Mitte der Gesellschaft verorten, obwohl sie in Wirklichkeit schon längst mehrere große Schritte nach rechts unternommen haben. Was die AfD und die von ihr geschmähten „Altparteien“ verbindet, ist die neoliberale Grundausrichtung, die durch die weitgehende Ablehnung und Schleifung des Sozialstaats gekennzeichnet ist. Diese frappierende Ähnlichkeit in der politischen Ausrichtung zu benennen, ist aber ein mediales Tabu. Die NachDenkSeiten hatten sich bereits im Jahr 2017 der Herausforderung gestellt und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Programm der AfD vorgenommen.

Ein weiteres Mal wiesen die NachDenkSeiten darauf hin, als es um eine Einordnung der sozialpolitischen Ansätze in der AfD ging. Die Partei arbeitet gerade im Osten mit Konzepten, die teilweise von den Linken übernommen worden sind und stößt damit recht erfolgreich in ein politisches Vakuum vor, das die progressiven politischen Kräfte auf der linken Seite hinterlassen haben, weil sie eben die AfD nicht inhaltlich stellen, sondern nur mit plumpen Faschismusvorwürfen überziehen wollen. So kann die AfD gerade auch in den Bevölkerungsschichten große Erfolge feiern, die auf einen funktionierenden Sozialstaat dringend angewiesen sind. Der Bedarf an einer anderen Sozialpolitik ist also erkennbar hoch, wird aber durch die etablierten Parteien gar nicht maßgeblich thematisiert, weil ihnen der Ausschluss der AfD aus dem Kreis der Demokraten und, noch schärfer, die Stigmatisierung der AfD als faschistische oder rechtsradikale Partei viel wichtiger ist.

Für die Anhänger der neoliberalen Agenda ist dieser Prozess geradezu ein Geschenk, weil sie die berechtigte Forderung nach einer Änderung der Sozialpolitik in Zukunft als AfD-nah brandmarken können. So gesehen ist es nur folgerichtig, wenn eine durch den Westen dominierte Öffentlichkeit das Wort Faschismus als Vorwurf möglichst häufig bemüht, um auch weiterhin eine dringend notwendige Kehrtwende in der Sozialpolitik unterdrücken zu können. Parteiprogramme werden unter diesen Bedingungen gänzlich überflüssig, Analysen von Wahlniederlagen ebenso, denn entscheidend bleibt der Kampf „gegen den Faschismus und für die Demokratie“. Es bedarf nur noch des Aufrufs, die AfD zu verhindern, um eine gemeinsame Identifikationsgrundlage zu schaffen, der man sich eben anschließt oder nicht. Die Spaltung der Gesellschaft wird dadurch weiter verschärft, weil die ostdeutsche Perspektive eben eine vollkommen andere ist. Dazwischen zerrieben wird auch der zentrale Konflikt unserer Zeit, die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Wer darauf hinweist, hat es künftig noch viel schwerer, da sich ein Protest gegen die herrschenden Verhältnisse leicht als „rechtsradikal“ delegitimieren lässt.

Titelbild: Everett Historical/shutterstock.com

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