C. Wright Mills: Die Machtelite

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Wer sind eigentlich die Machteliten in einer Gesellschaft? Wer ist in der Lage, Geschichte zu machen und große politische Entscheidungen mitzuprägen? Auf Fragen wie diese geht der US-amerikanische Soziologe C. Wright Mills in seiner epochalen Studie „The Power Elite“ ein. Mills hat 1956 eine fundamentale Kritik am demokratischen System seines Landes abgeliefert, die bis heute nachhallt. Die gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, die aktuell in den USA zu beobachten sind, sind das Produkt schwerer politischer Fehlentwicklungen, die bis in die Zeit Mills’ zurückgehen. Im Folgenden ein Auszug aus dem Buch „Die Machtelite“, das in deutscher Sprache von Marcus B. Klöckner, Björn Wendt und Michael Walter neu herausgegeben wurde.

Der Macht eines gewöhnlichen Menschen sind verhältnismäßig enge Grenzen gezogen, die sich etwa mit denen seiner alltäglichen Umwelt decken, also mit den Grenzen seines Familien- und Freundeskreises, des Berufslebens und der Nachbarschaft. Doch selbst innerhalb dieses kleinen Bereichs scheint der Durchschnittsmensch von mächtigeren Kräften, die er weder begreifen noch meistern kann, getrieben zu sein. Auf umwälzende Veränderungen, die sein Verhalten und seine Anschauungen bestimmen, hat er keinerlei Einfluss, denn es liegt einfach in der Struktur der modernen Gesellschaft, dass sie dem Einzelnen Ziele setzt, die gar nicht die seinen sind. Von allen Seiten bedrängt und Veränderungen unterworfen, hat der Mensch unserer Massengesellschaft das Gefühl, ohne Lebensinhalt, ohne Ziel und Zweck in einem Zeitalter zu leben, das ihn zur Machtlosigkeit verurteilt.

Indessen sind keineswegs alle Menschen in diesem Sinne »gewöhnliche« Menschen. Die Zentralisierung sämtlicher Macht- und Informationsmittel bringt es mit sich, dass einige wenige in unserer Gesellschaft bestimmte Positionen einnehmen, von denen aus sie sozusagen auf die anderen herabsehen und die Alltagswelt der Durchschnittsmenschen mit ihren Entscheidungen beeinflussen können. Diese wenigen sind nicht Sklaven ihres Berufs oder Gefangene ihres Arbeitsplatzes. Sie können vielmehr Arbeitsplätze für tausend andere schaffen oder beseitigen. Sie werden auch nicht von ständigen Alltags- und Familienpflichten eingeengt, sondern können ihnen, wenn sie wollen, jederzeit entfliehen. Sie sind auch nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern können wohnen, wo und wie es ihnen beliebt. Für sie heißt es nicht, sie hätten nur »zu tun, was Tag und Stunde fordern«. Sie selbst stellen nicht wenige dieser Forderungen auf und sorgen dann dafür, dass andere sie erfüllen.

Ob sie es zugeben oder nicht: Durch ihre Erfahrung im Umgang mit den technischen und politischen Machtmitteln sind sie der ganzen übrigen Bevölkerung weit überlegen. Die Durchschnittsamerikaner könnten durchaus von den Mächtigen sagen, was Jacob Burckhardt über die »großen Männer« geschrieben hat: »Sie sind alles das, was wir nicht sind.«[*]

Die Machtelite besteht aus Männern, die sich kraft ihrer Positionen hoch über den begrenzten Horizont des Durchschnitts erheben. Ihre Stellungen geben ihnen die Möglichkeit, Entscheidungen von größter Tragweite zu treffen. Dabei ist nicht so wesentlich, ob sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und solche Entschlüsse wirklich fassen oder nicht. Ausschlaggebend ist vielmehr die Tatsache, dass sie auf Grund ihrer Schlüsselpositionen die Möglichkeit dazu haben. Unterlassen sie es zu handeln, versäumen sie, eine Entscheidung zu treffen, so hat dies oft schwerer wiegende Folgen als ihre tatsächlichen Entschlüsse; beherrschen sie doch die mächtigsten Hierarchien und Organisationen der modernen Gesellschaft. Sie leiten die großen Wirtschaftsunternehmen. Sie sitzen an den Schalthebeln des Staatsapparates und beanspruchen für sich alle Vorrechte, die sich daraus ergeben. Sie befehligen die Streitkräfte. In unserer Gesellschaftsstruktur nehmen sie die strategisch wichtigen Kommandostellen ein. Sie verfügen damit auch über alle Mittel, von der Macht, dem Reichtum und der Prominenz, deren sie sich erfreuen, wirksam Gebrauch zu machen.

Nun besteht aber die Machtelite keineswegs aus einsamen Herrschern. Die eigentlichen Herren ihrer Ideen und Entschlüsse sind oft Referenten, Berater und Gutachter, die Lenker und Gestalter der öffentlichen Meinung. Unmittelbar unter der Elite stehen dann die Berufspolitiker der mittleren Machtsphäre: die Kongressabgeordneten und Interessenvertreter einflussreicher Gruppen, außerdem die neue und die alte Oberschicht der Gemeinden, Städte und Regionen. Schließlich sind diese gehobenen Kreise noch in sehr eigenartiger, von uns noch genauer zu erforschender Weise mit den professionellen Berühmtheiten durchsetzt, die davon leben, dass man dauernd (aber, solange sie berühmt sind, niemals genug) über sie berichtet. Wenn diese Berühmtheiten auch nicht an der Spitze einer der herrschenden Hierarchien stehen, so sind sie doch häufig dazu imstande, die Aufmerksamkeit der breiten Masse auf sich zu ziehen und von anderen Dingen abzulenken, oder einfach das Sensationsbedürfnis der Bevölkerung zu befriedigen.

Darüber hinaus finden sie unmittelbar Gehör bei denen, die selbst Machtstellungen innehaben. Als Sittenrichter, Techniker der Macht, als Prediger des Wortes Gottes oder Schöpfer der Massengefühle mehr oder weniger ungebunden, gehören diese Ratgeber und Berühmtheiten mit zum Drama der Elite, dessen Hauptdarsteller die Männer in den Kommandostellen der großen institutionellen Hierarchien sind.

Die Wahrheit über Wesen, Zusammensetzung und Machtumfang der Elite ist nun durchaus kein Geheimnis, das nur wenige Eingeweihte kennen und ängstlich hüten. Die Beteiligten selbst haben sehr unterschiedliche Ansichten über die Rolle, die sie beim Ablauf der Ereignisse und bei den Entscheidungen spielen. Häufig fühlen sie sich in ihrer Rolle keineswegs sicher, und noch häufiger lassen sie sich bei der Einschätzung der eigenen Machtfülle von ihren Ängsten und Hoffnungen leiten. Doch wie groß auch ihre tatsächliche Macht sein mag: Die Mächtigen neigen dazu, sich ihrer nicht so deutlich bewusst zu sein wie des Widerstandes, den man ihr entgegensetzt. Hinzu kommt, dass sich die Angehörigen der Führungsschicht meist schon so sehr an die Methoden der »Public Relations« gewöhnt haben, dass sie deren Phraseologie mitunter sogar dann noch anwenden, wenn sie mit sich allein sind, und schließlich selbst daran glauben. Dieses Rollenbewusstsein der agierenden Schauspieler ist nur einer von mehreren Faktoren, die man kennen muss, um die herrschenden Kreise wirklich zu verstehen. Viele, die glauben, es gäbe gar keine Elite oder jedenfalls keine von Bedeutung, begründen diese Meinung mit den Vorstellungen, die die Angehörigen der höheren Kreise von sich selbst haben oder zu haben vorgeben.

Es gibt jedoch noch eine andere Ansicht, und diejenigen, die das – wenn vielleicht auch nur vage – Gefühl haben, dass im heutigen Amerika eine festgefügte und mächtige Elite existiert, führen dieses Gefühl auf den Gang der Geschichte unserer Zeit zurück. Sie haben während des Krieges die Vorherrschaft des Militärischen erlebt und folgern nun daraus, dass Generale, Admirale und andere Machthaber in ihrem Einflussbereich ungeheuer mächtig sein müssen. Sie mussten zusehen, wie der amerikanische Kongress einer Handvoll Männer abermals die Entscheidung über Krieg und Frieden in der Welt überlassen hat.

Sie wissen, dass die Atombombe auf Hiroshima im Namen der Vereinigten Staaten abgeworfen wurde, obwohl sie selbst in dieser Angelegenheit niemals nach ihrer Meinung gefragt worden sind. Sie fühlen, dass sie in einer Zeit der großen Entscheidungen leben, und wissen, dass sie selbst keine solchen Entscheidungen fällen. Deshalb folgern sie, dass im Mittelpunkt des Zeitgeschehens eine Elite der Mächtigen stehen muss, die Entscheidungen trifft oder zu treffen versäumt.

Die einen, die den Glauben an die große historische Bedeutung unserer Zeit teilen, vermuten nun, dass es eine solche Elite tatsächlich gibt und dass ihre Macht sehr groß sein muss. Die anderen, die sich im Umfeld derer bewegen, die offenbar an den großen Entscheidungen beteiligt sind, bezweifeln häufig, dass man überhaupt von einer Elite sprechen kann, deren Macht von entscheidender Bedeutung ist.

Beide Ansichten müssen berücksichtigt werden, obwohl weder die eine noch die andere dem Stand der Dinge voll gerecht wird. Will man die Macht der amerikanischen Elite begreifen, so genügt es weder, von der geschichtlichen Bedeutung der Zeitereignisse auszugehen, noch darf man sich auf die Selbsteinschätzung der Männer verlassen, die offenkundig Entscheidungsgewalt haben. Hinter diesen Männern und den geschichtlichen Ereignissen stehen verbindend die großen Institutionen der modernen Gesellschaft: der Staat, die Wirtschaft und die Streitkräfte. Sie stellen heute die eigentlichen Machtmittel dar, und sie sind als solche von größerer Bedeutung als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die Kommandostellen an der Spitze dieser Hierarchien sind es, die uns den Schlüssel zum soziologischen Verständnis der Rolle liefern, die die gehobenen Kreise in den Vereinigten Staaten spielen.

C. Wright Mills: „Die Machtelite“, herausgegeben von Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. Klöckner, 576 Seiten, Westend Verlag, 4.11.2019


[«*] Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. New York 1943, S. 303 ff.

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