Uruguay – Mit knapp 1,2-prozentigem Vorsprung kann konservatives Wahlbündnis mit rechtsradikalen Militärs 15-jährige Prosperitätsära des Frente Amplio ablösen

Uruguay – Mit knapp 1,2-prozentigem Vorsprung kann konservatives Wahlbündnis mit rechtsradikalen Militärs 15-jährige Prosperitätsära des Frente Amplio ablösen

Uruguay – Mit knapp 1,2-prozentigem Vorsprung kann konservatives Wahlbündnis mit rechtsradikalen Militärs 15-jährige Prosperitätsära des Frente Amplio ablösen

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Rund 2,7 Millionen Wahlberechtigte von insgesamt 3,5 Millionen Einwohnern waren am 24. November zur Stichwahl zwischen dem Präsidentschaftskandidaten Daniel Martínez von der regierenden Mitte-Links-Koalition des Frente Amplio (Breite Front oder Breites Bündnis) und seinem konservativen Herausforderer Luis Lacalle Pou von der Partido Nacional (Nationale Partei) aufgerufen, dessen Sieger Uruguay für den Zeitraum 2020-2025 regieren wird. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

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Und es kam wie längst befürchtet oder mit dem vielzitierten Romantitel Gabriel García Márquez‘ gesagt: Das Wahlergebnis vom 24. November war eine “Chronik des angekündigten Verhängnisses” der seit 15 Jahren erfolgreich regierenden Frente Amplio. Mit einer minimalen Differenz von 48,71 Prozent zu 47,51 Prozent – ein virtuelles technisches Patt – hatte sich Lacalle Pou nach Auszählung von 99,31 Prozent der geprüften Stimmen mit einem leidlichen Vorsprung von 28.666 Stimmen am Sonntagabend bereits als Wahlsieger gefeiert.

Doch das uruguayische Wahlgericht erinnerte an die gesetzlichen Bestimmungen. Gerichtspräsident José Arocena erklärte, das offizielle Ergebnis und der Wahlsieger würden frühestens am Donnerstag, dem 28. November, bekanntgegeben. Zur Begründung verwies Arocena auf ein Volumen von über 35.000 „beobachteten“, im Klartext: verdächtigen, Stimmen, deren Gültigkeit das Wahlgericht mit einer Nachzählung überprüfen müsse. Nach dem inoffiziellen Ergebnis vom Sonntagabend hatten Luis Lacalle Pou 1.160.829 Stimmen beziehungsweise Daniel Martínez 1.130.248 Stimmen erzielt. Uruguayische Wahlexperten schätzen, mit der Neuauszählung könnte sich die Stimmendifferenz zugunsten von Martínez verringern und damit die politische Spannung eines tatsächlichen technischen Patts erhöhen. Doch müsste der Kandidat der Frente Amplio 90,7 Prozent der 35.000 beanstandeten Stimmen auf sich vereinen, um als Wahlsieger hervorzugehen.

Ein Sieg der Konservativen war zu erwarten, doch fiel er überraschend kläglich aus – so überraschend wie umgekehrt der mehr als 8-prozentige Stimmenzuwachs der Frente Amplio innerhalb von nur vier Wochen.

Die unheilige Allianz nach der ersten Wahlrunde

Mit 39,1 Prozent zu 28,5 Prozent der Stimmen hatte Daniel Martínez den konservativen Luis Lacalle Pou in der ersten Wahlrunde vom vergangenen 24. Oktober besiegt. Trotz des mehr als 10-prozentigen Vorsprungs fehlten ihm jedoch 0,9 Prozent zur Erzielung der gesetzlich vorgeschriebenen 40-Prozent-Hürde für einen Sieg im ersten Durchgang.

Was sich danach im Lager der fünf konservativen Parteien zusammenbraute, hatte für die Frente Amplio fatale Folgen: Der erklärte Neoliberale von der Colorado-Partei, Ernesto Talvi (12,3 Prozent), und der vom amtierenden Präsidenten Tabaré Vázquez entlassene und zwangspensionierte General Guido Manini Ríos (10,8 Prozent der Stimmen) riefen ihre Anhänger zur Unterstützung Lacalle Pous auf, der im Handumdrehen auf 51 Prozent des Stimmenpotenzials katapultiert wurde.

Wahlbeobachter ironisierten vor der Stichwahl, ein Bündnis Lacalle Pous mit General Manini sei so unwahrscheinlich wie eine Allianz Sarkozys mit Le Pen, daher eindeutig abzulehnen. Der Vergleich hinkte. Hätte der als „moderater Konservativer“ bekannte Lacalle Pou auf die Stimmen des rechtsradikalen Militärs verzichtet, hätte er eindeutig die Wahl verloren.

Zur Erinnerung: Wie die NachDenkSeiten seinerzeit berichteten, war der ehemalige Oberbefehlshaber der Armee, Guido Manini Ríos, im März 2019 von Präsident Vázquez wegen Abschirmung des Folterers der Armee, Nino Gavazzo, fristlos entlassen worden. Gavazzi gestand, den Körper des ermordeten Tupamaro-Guerilleros Roberto Gomensoro 1973 in den Río Negro geworfen zu haben. Die uruguayische Regierung schloss sich der Erkenntnis der Ermittlungsbehörden an, wonach Manini Ríos den Mordfall gedeckt habe. Die Entlassung mehrerer Generäle um Manini Rios löste die schärfste Auseinandersetzung zwischen der Regierungspartei und den Militärs seit der Rückkehr Uruguays zur Demokratie Mitte der 1980er Jahre aus.

Mit einer nicht zufälligen Parallele zu Brasilien – in dessen Parlament der Abgeordnete und zwangspensionierte Hauptmann des Heeres Jair Bolsonaro seit 2003 die Regierungen der Arbeiterpartei (PT), insbesondere die der ehemaligen Guerilla-Kämpferin und Präsidentin Dilma Rousseff, als „terroristisch“ bezeichnete – konnten es wegen Menschenrechts-Verbrechen verurteilte, pensionierte, aber auch im Dienst befindliche Militärs niemals verkraften, dass sie seit 2005 von historischen Erzfeinden – wie dem ehemaligen Tupamaro-Guerillakämpfer José Pepe Mujica – regiert und von der Justiz verurteilt und inhaftiert wurden; eine Abrechnung mit der blutigen Vergangenheit in Uruguay, die im Vergleich mit der Entschlossenheit der Justiz im benachbarten Argentinien glimpflich ausfiel.

Für die Militärs dennoch zu viel. Manini Ríos gelang es, dem Aufruhr und Säbelrasseln mit der Gründung der rechtsradikalen Partei Cabildo Abierto (Offene Versammlung) Ausdruck zu verleihen, die in den allgemeinen Wahlen vom vergangenen Oktober 11 der 99 Sitze der Abgeordnetenkammer und 3 der 30 Sitze im Senats-Oberhaus auf sich vereinigte; eine Art „Bolsonaro-Syndrom“ und Unding für uruguayische Verhältnisse, ziehen doch zum ersten Mal in der neuzeitlichen Geschichte des Landes Rechtsradikale und erklärte Faschisten ins Parlament ein.

Revanchismus und Ablehnung der sozialen Agenda

Mit einem 1,6-prozentigen Wachstum im Jahr 2018 hatte die uruguayische Wirtschaft einen 16 Jahre lang anhaltenden, positiven Zyklus vollendet, dessen Hauptexportgüter nach wie vor Agrarprodukte wie Sojabohnen und Reis, ferner Rindfleisch, Fisch und Milchprodukte sind.

Wie auch von den NachDenkSeiten mehrfach berichtet, bedeutete die 15-jährige Ära der Frente Amplio eine der erfolgreichsten Administrationen lateinamerikanischer Umverteilungspolitik. Nach Angaben der Entwicklungsbehörde der Vereinten Nationen für Lateinamerika (CEPAL, “Social Panorama of Latin America“) führte Uruguay mit einem 15-prozentigen Abbau der Armut bereits zwischen 2010 und 2014 die Rangliste jener Länder an, denen die größte Armutsbekämpfung gelungen war. Fünf Jahre später attestierte die gleiche CEPAL, dass es Uruguay mit 2,7 Prozent Armen-Anteil an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2016 gelungen war, die Armut auf den niedrigsten Rang sozialer Ungleichheit in Lateinamerika zu drücken. Was also veranlasst die Hälfte der Wählerschaft Uruguays, gegen die Fortsetzung einer solch‘ fortschrittlichen Sozialpolitik zu stimmen?

Wenige Tage vor der Stichwahl veröffentlichte die Londoner BBC eine Umfrage mit Erklärungen für die angeblichen Gründe des Popularitätsverlustes der regierenden Frente Amplio. Demnach seien drei Faktoren für „die Unzufriedenheit der uruguayischen Wählerschaft“ ausschlaggebend gewesen: die Abschwächung des Wirtschaftswachstums – das 2019 über 3 Prozent liegen sollte, jedoch nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) kaum 0,5 Prozent erreichen werde – die Sorge um die öffentliche Sicherheit und der politische Verschleiß der Frente Amplio wegen „zu langer Machtausübung“.

Die Abkühlung der Wirtschaftskonjunktur hat allerdings sehr viel mit den schwachen Leistungen der Volkswirtschaften Brasiliens und Argentiniens unter Jair Bolsonaro und Mauricio Macri, den Hauptkunden Uruguays, zu tun. Die „zu lange Machtausübung“ der Frente Amplio ist wiederum ein von den konservativen Medien des Landes über Jahre hinweg in Szene gesetztes „Hindernis“, bei dem selten oder nie ein angebrachter Vergleich mit der seit ebenfalls 14 Jahren regierenden deutschen Bundeskanzlerin gewagt, sondern der übliche und unredliche doppelte Standard verwendet wurde.

Die Sorge um die öffentliche Sicherheit ist wiederum ein berechtigtes Anliegen. Den Hintergrund bilden ernstzunehmende Angaben zur wachsenden Kriminalität. Nach Angaben des Innenministeriums zeigten Raubüberfälle mit Gewaltanwendung im vergangenen Jahr einen Anstieg von 53 Prozent, die Mordrate nahm um 45 Prozent und der gewaltlose Diebstahl um 23 Prozent zu. Verglichen mit der Gewalt- und Diebstahl-Statistik des übrigen Lateinamerika nimmt sich das bedrohliche Anwachsen der Kriminalitätsrate in Uruguay jedoch verhältnismäßig „bescheiden“ aus.

Dass die Frente-Amplio-Administration allerdings seit 2018 energischere Verbrechensbekämpfung betreibt, jedoch nicht den Gegenschlag mit Polizeieinsatz allein, sondern vor allem mit den Mitteln der Sozialpolitik und Aufklärung empfahl, rief die Law&Order-Fraktion des konservativen Bürgertums – allen voran die Militärs unter Führung von General Manini Ríos – auf den Plan und entpuppte sich als wahlentscheidende Parole.

Lacalle Pou und Manini Ríos stellen beide die 15-jährige Regierungsagenda des „sozialen und rechtlichen Empowerments“ der Frente Amplio in Frage, deren Gesetze zur Legalisierung der Abtreibung, zur Regulierung der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Entkriminalisierung des Cannabis die Konservativen – wie im Brasilien Bolsonaros und der Generäle – als „Zerfall der Familie“ und „moralischen Abstieg“ beschimpfen. Dass es die rechtsradikalen Militärs nicht bei bloßer Beschimpfung belassen, sondern zur Anwendung nackter Gewalt bereit sind, verdeutlichen Mordandrohungen gegen Wähler, die es wagen sollten, die Frente Amplio zu wählen.

Dass General Manini Ríos wiederum sich öfter mit dem zum Präsidenten avancierten Ex-Hauptmann Jair Bolsonaro und seinen Ministern traf, ihn als „Kommandanten Brasiliens“ feierte und er selbst als der „Bolsonaro Uruguays“ bezeichnet wird, erscheint Lacalle Pou allerdings als unangenehme Liaison. Der potenziell neu gewählte Präsident Uruguays hatte bereits Ende Oktober Bolsonaros offene Befürwortung seiner Wahl als „unerwünschte Einmischung“ bezeichnet; ein Anzeichen dafür, dass der Konservative offenbar nicht bereit ist, die Rolle eines Bollwerks oder gar einer Speerspitze Bolsonaros gegen die Regierung Alberto Fernández in Argentinien zu spielen, sondern Uruguay wahrscheinlich in die traditionelle Rolle des „Jongleurs“ mit Balanceakten zwischen zwei Rivalen zurückführen will und damit auf einer, wenngleich auch wackeligen, Souveränität des kleinen Landes am La Plata bestehen wird.

Titelbild: Hybrid Gfx/shutterstock.com

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