Mit Recht gegen Unrecht: Zum Tod von Dieter Deiseroth

Mit Recht gegen Unrecht: Zum Tod von Dieter Deiseroth

Mit Recht gegen Unrecht: Zum Tod von Dieter Deiseroth

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Jahrzehnte setzte er sich gegen die Stationierung und den Einsatz von Atomwaffen ein. Er erkannte den hohen Stellenwert von Whistleblowern für unsere Gesellschaft und die Demokratie zu einem Zeitpunkt, als viele mit dem Begriff „Whistleblowing“ noch nichts anfangen konnten. Unermüdlich hat sich Dieter Deiseroth mit jenen Mitteln für eine friedliche, bessere Welt eingesetzt, mit denen er vertraut war und die er beherrschte: denen des Rechts. Der Richter am Bundesverwaltungsgericht im Ruhestand ist vor wenigen Monaten nach schwerer Krankheit im Alter von 69 Jahren verstorben. Von Marcus Klöckner

Deiseroth, von 2001 bis 2015 Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, war ein begnadeter Jurist, der es verstand, Rechtsfragen und Rechtsprobleme tief zu durchdringen. Sein „Handwerk“ lernte er in Gießen bei einem der wohl herausragendsten Staatsrechtslehrer der deutschen Nachkriegsgeschichte: Helmut Ridder.

Auf einem festen rechtswissenschaftlichen Fundament stehend, kämpfte Deiseroth gegen den Einsatz von Atomwaffen und für zivile Konfliktbeilegung. So engagierte er sich beispielsweise 1996, als es um ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Rechtswidrigkeit des Einsatzes von Atomwaffen ging, und veröffentlichte als Herausgeber das Gutachten und die Kommentierung in Deutschland.

Das Gutachten, in dem der Internationale Gerichtshof den Einsatz von Atomwaffen und deren Androhung als generell völkerrechtswidrig bezeichnete, „ist bis heute ein Meilenstein des humanitären Völkerrechts“, sagt der Jurist und Weggefährte Deiseroths, der Vorsitzende der Juristenorganisation IALANA, Otto Jäckel, auf der Trauerfeier.

Bis zuletzt richtete Deiseroth den Blick auf jene Möglichkeiten, die das Recht bot, um Unrecht entgegenzutreten. So regte er im September 2018 einen Brief der IALANA an Außenminister Heiko Maas an, worin der Vorschlag enthalten war, die Bundesregierung möge einen Antrag in der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Zusammenhang mit dem Iran-Atomabkommen einbringen. Deiseroth und seine Mitstreiter wollten erreichen, dass, ausgehend von Maas, die UN-Generalversammlung beim internationalen Gerichtshof ein Rechtsgutachten zur Legalität oder Illegalität der Kündigung des Iran-Atomabkommens beantragen sollte.
Bei seiner Rede merkte Jäckel an: „Auf die Antwort von Herrn Maas warten wir bis heute.“

Deiseroth hatte zudem Politologie und Soziologie studiert und analysierte mit einem kritischen soziologischen Blick die politischen und sozialen Spannungsverhältnisse unserer Zeit.
„Moderne Gesellschaften“, sagte Deiseroth 2017 in einem Interview gegenüber den NachDenkSeiten, „brauchen Whistleblower.“ Die Aussage lässt erahnen, wie wichtig es für Deiseroth war, das Bewusstsein in unserer Gesellschaft für die Bedeutung der Whistleblower zu wecken. Damit in Gesellschaft, Politik, aber auch der medialen Öffentlichkeit Whistleblower als das wahrgenommen werden, was sie sind: überaus mutige Menschen, die vor Missständen nicht die Augen verschließen, hat Deiseroth, basierend auf einer umfangreichen von ihm durchgeführten Studie zur „Berufsethischen Verantwortung in der Forschung“, im Jahr 1999 den Whistleblower-Preis ins Leben gerufen. Seit dieser Zeit haben die IALANA und die Vereinigung Deutsche Wissenschaftler (VDW) den Whistleblower-Preis im zweijährigen Rhythmus an herausragende Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland verliehen, die „Alarm geschlagen“ haben.

Beim Whistleblowing geht es in der Regel um einen sehr ungleichen Kampf. Diesen führen Bedienstete, Mitarbeiter, Angestellte, die in ihrer Behörde, Firma oder Organisation einen schweren, weitreichenden Missstand entdecken. Wenn sie den Missstand und das „Unrecht“ nicht akzeptieren wollen, „Alarm schlagen“, und zum Whistleblower werden, sehen sie sich oft heftigsten Angriffen ausgesetzt, denen sie kaum gewachsen sind. Anders gesagt: Beim Whistleblowing geht es um einen Kampf David gegen Goliath. Die Whistleblower wollte Deiseroth durch ein starkes Recht schützen. Sein Einsatz zum Schutz der Informanten hat maßgeblich dazu beigetragen, das Wissen über die Bedeutung des „Alarmschlagens“ in der Gesellschaft zu verbreiten.

Zu den Preisträgern gehörten neben dem prominenten Whistleblower Edward Snowden (2013) etwa Martin Porwoll und Maria-Elisabeth Klein (2017), die die Öffentlichkeit über illegale gepanschte und nicht wirksame Anti-Krebsmittel informierten. Sie bewahrten so vermutlich zahlreiche Erkrankte vor dem Tod.

2007 ging der Preis an Dr. Liv Bode, die dem Verdacht nachgegangen ist, dass Blutplasma-Spenden, in denen infektiöse Bestandteile des Bornavirus enthalten waren, gesundheitsgefährdend sein können.

2015 erhielt den Preis neben anderen Professor Gilles-Éric Séralini, der „als erster bei einem zweijährigen Fütterungsversuch mit Ratten die Giftigkeit und die tumorauslösende Wirkung des weltweit am häufigsten verwendeten Herbizids, des Glyphosat-basierten ‚Roundup‘, im Tierversuch festgestellt“ hatte.

Wer sich die Liste der bisherigen Whistleblower-Preisträger und die umfangreichen Veröffentlichungen dazu anschaut, kann erahnen, wie viele Recherchen, wie viel Arbeit hinter der Auswahl der Preisträger steckt. Für Deiseroth und seine Mitstreiter ging es immer darum, ihre Entscheidungen für die Preisträger hieb- und stichfest zu begründen. Doch bisweilen blieben Angriffe nicht aus. Wie etwa 2015, als die Frankfurter Allgemeine Zeitung und andere Medien die Entscheidung, Séralini auszuzeichnen, mit reichlich Aufregung, dafür aber mit wenig Substanz, kritisierten. Journalisten, die meinen, sich vor ein Unkrautvernichtungsmittel werfen zu müssen? Deiseroth sah sich die „Kritiken“ genau an und sagte: „Wir haben in ein Wespennest gestochen.“

Gerade einmal zwei Wochen nach dem Tod Deiseroths vermeldeten Medien, dass die Bundesregierung ein Verbot des „umstrittenen Unkrautgifts Glyphosat“ ab 2024 plane.

Deiseroth wusste, dass es gute Gründe gab, Séralini auszuzeichnen. Die Angriffe gegen die Entscheidung konnten den Whistleblower-Preis nicht beschädigen.

Von nicht wenigen hochrangigen Vertretern großer Medien wurde Deiseroths überragende juristische Fachkenntnis geschätzt. Es kam immer wieder vor, dass bekannte Formate im Fernsehen oder Fachjournalisten auf den Bundesrichter zukamen, ihn um Einschätzungen und Expertisen baten. Deiseroth nahm sich die Zeit, traf sich mit Medienvertretern, beantwortete ihre Fragen – auch wenn die Treffen mitunter viele Stunden beanspruchten.

Als Jurist mit ausgeprägtem historischen Interesse richtete er sein Augenmerk schon früh auf die unsäglichen Kontinuitäten der mit ihrer NS-Vergangenheit belasteten Juristen in der Bundesrepublik.

Während seiner Tätigkeit am Lehrstuhl Ridder unterstützte Deiseroth Rechtsanwalt Robert M.W. Kempner mit gutachterlicher Expertise bei dem Wiederaufnahmeverfahren zum Reichtagsbrandprozess. Deiseroth meldete sich später auch selbst zu Wort und hinterfragte die vorherrschende These, wonach Marinus van der Lubbe für den Brand allein verantwortlich war. Im Juli dieses Jahres, das sei am Rande erwähnt, gab es weitere Entwicklungen in dem Fall: Die Hannoversche Allgemeine veröffentlichte die eidesstattliche Versicherung eines SA-Mannes. Dieser behauptete, van der Lubbe zum Reichstag gefahren zu haben. Dort habe er bemerkt, „dass ein eigenartiger Brandgeruch herrschte und dass auch schwache Rauchschwaden durch die Zimmer hindurchzogen.“
Stand der Reichstag etwa schon in Brand, als der vermeintliche Täter van der Lubbe vor Ort eintraf?

Wer Deiseroth kannte, wusste, dass er sich selbst bei unterschiedlichen Standpunkten mit sehr viel Rücksicht und Wertschätzung mit seinem Gegenüber austauschte. Allerdings wusste er auch, wann es galt, in der Sache hart zu bleiben. Entgegen dem publizistischen Mainstream legte Deiseroth zum Thema („Rechts-) Positivismus überzeugend dar, dass im Dritten Reich gerade nicht die strikte Auslegung des Rechts zu massenhaften Fehlurteilen geführt hat, sondern vielmehr die Beugung des Rechts im Sinne der Nazi-Diktatur Unrecht erzeugt hat.

Genauso erhob er seine Stimme im Zusammenhang mit dem jahrelang zwangspsychiatrisierten Gustl Mollath und kritisierte mit deutlichen Worten in einem Beitrag für Die Blätter den „rechtlichen Prüfungsmaßstab“, mit dem das Landgericht [Regensburg] den geltend gemachten Wiederaufnahmegrund der Rechtsbeugung zurückweist: „Mit einer sehr ähnlichen Argumentation wurde nach 1945 von einer Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung bei Tausenden von NS-Richtern abgesehen, die für Todesurteile und andere massiv rechtsstaatswidrige Urteile verantwortlich waren.“

Nicht einmal vor dem heißen Eisen 9/11 schreckte Deiseroth zurück. Für einen Mann in seiner Position war es erstaunlich zu sehen, dass er in einem Artikel und in einem Interview nicht nur auf die gravierenden rechtlichen Probleme der Bundeswehreinsätze in Afghanistan aufmerksam machte, sondern auch zu den Anschlägen in den USA sagte: „Ich stelle fest: Auf beiden Seiten, das heißt sowohl bei der offiziellen Darstellung der Bush-Regierung mit dem 9/11-Commission Report als auch auf Seiten der ‚alternativen Aufklärer‘ mit ihren vielen Gegentheorien, hat man es mit einem Meer von Fragen, aber auch mit einem Meer von offenkundigen Unwahrheiten zu tun. Das schreit geradezu nach Aufklärung.“

Viel Aufmerksamkeit fand das so genannte „Pfaff-Urteil“, an dem Deiseroth maßgeblich mitgewirkt hat. Darin kam der 2. Wehrdienstsenat am 21. Juni 2005 zu der Auffassung, dass der damalige Major der Bundeswehr, Florian Pfaff, der sich einem Befehl im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg widersetzt hatte, zu Recht auf seine Gewissensfreiheit berufen und den Befehl verweigern durfte.

Der Wehrdienstsenat stellte klar: „Die Streitkräfte sind als Teil der vollziehenden Gewalt ausnahmslos an “Recht und Gesetz” (Art. 20 Abs. 3 GG) und insbesondere an die Grundrechte uneingeschränkt gebunden. Davon können sie sich nicht unter Berufung auf Gesichtspunkte der militärischen Zweckmäßigkeit oder Funktionsfähigkeit freistellen.“

Die hier thematisierten „Interventionen“ von Deiseroth geben einen kleinen Einblick in das Wirken dieses außergewöhnlichen Richters, Menschen und Freundes. Sein Doktorvater Ridder attestierte Deiseroth schon früh, über ein „hochgradig geschärftes politisches Verantwortungsbewusstsein zu verfügen.“ Und genau so blieb es.

Lesetipp: Dieter Deiseroth (Hrsg.): Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht. Verlagsgesellschaft Tischler, Berlin 2006. (mit Beiträgen von Dieter Deiseroth, Hermann Graml, Ingo Müller, Hersch Fischler, Alexander Bahar, Reinhard Stachwitz).