Die ARD zwischen „russischen Privatpartys“ und Phrasen von „der Wahrheit“

Die ARD zwischen „russischen Privatpartys“ und Phrasen von „der Wahrheit“

Die ARD zwischen „russischen Privatpartys“ und Phrasen von „der Wahrheit“

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Ein ARD-Kommentar zum Auschwitz-Gedenken in Israel und eine ARD-Produktion über den eigenen Kampf für „die Wahrheit“ lassen tief blicken in die fragwürdige Verfassung des öffentlich-rechtlichen Senders. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ein Kommentar der ARD-Korrespondentin Sabine Müller zum Auschwitz-Gedenken in Israel schlägt noch immer hohe Wellen. Parallel dazu ist gerade eine ARD-Produktion über die eigene Arbeitsweise erschienen. Beides soll hier besprochen werden. Müller übt in dem Kommentar scharfe Kritik am Ablauf der Gedenkfeiern in Yad Vashem und unterstellt Israel und Russland ein „unwürdiges Verhalten“ und ein „Kapern“ des Gedenkens:

„Unwürdig war dagegen, wie Israel und Russland diesen Gedenktag teilweise kaperten. Wie sie vor der offiziellen Veranstaltung sozusagen ihre eigene politische und erinnerungspolitische Privatparty feierten – mit neuen Verbalattacken gegen Polen und demonstrativ überlangen bilateralen Gesprächen zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Präsident Wladimir Putin.

Putin und Netanyahu hätten die Einweihung eines Denkmals zur Erinnerung an die Belagerung Leningrads „gnadenlos überzogen“, sie hätten Holocaust-Überlebende und Staatschefs eine Dreiviertelstunde lang in Yad Vashem warten lassen „wie bestellt und nicht abgeholt“, so Müller, die fortfährt: „Was ein würdiger Tag mit eindrucksvollen Signalen sein sollte, hinterlässt einen schalen Nachgeschmack.“

ARD erteilt deutsche Lektionen

Als unwürdig muss man aber viel eher diesen Kommentar und die in ihm zum Ausdruck gebrachte Haltung einer deutschen Journalistin gegenüber jenen Ländern bezeichnen, deren Bevölkerungen am schlimmsten unter deutschem Naziterror zu leiden hatten: Die Aussagen sind infam – aus dem Mund einer Journalistin des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks bilden sie einen Skandal. Selbst der „Tagesspiegel“, der den groben journalistischen Fehlgriff teils noch verteidigt und Putin gar unterstellt, dieser „inszeniere“ die Sowjetunion nur „als Befreier“, stellt dazu fest:

„An der falschen Tonalität des Kommentars gibt es nichts zu diskutieren – der Begriff ‚Privatparty‘ ist an einem solchen Tag unangebracht. Die Juden wie Russland als Kernland der früheren Sowjetunion hatten die größten Opfer durch die Nationalsozialisten zu beklagen.“

Erheblich deutlicher wird „RT“ in einem Kommentar:

„Offenbar im Namen des heute in Deutschland grassierenden moralischen Übermenschentums kommt die Journalistin zu dem Schluss, dass sich die anderen doch bitte nach den Deutschen richten sollten. Denn natürlich gedenken nur die Deutschen ihrer Verbrechen ‚würdig‘, während die anderen eine ‚Privatparty’ feiern und den Gedenktag ‚kapern‘.“

Eitle Selbstbespiegelung: Die ARD als „Nachtwache der Nation“

Die ARD könnte sich nun eigentlich in Selbstkritik üben. Doch ein aktueller (thematisch vom Gedenken unabhängiger) Radiobeitrag geht in eine andere Richtung. Das ARD-Feature „Der Wahrheit verpflichtet“ vereint in sich zahlreiche Defizite, die bei großen Medien (auch privaten) zu beobachten sind. Die Produktion ist eine aufwendige und geschönte Sicht auf die eigene Arbeit vor allem der „Tagesschau“ und kann auch als Weißwaschung bezeichnet werden. Der Versuch der Darstellung als unaufgeregte und unbestechliche Streiter für „die Wahrheit“ muss aber als gescheitert bezeichnet werden. So mutet bereits der Einstieg an wie eine Persiflage auf eine „Spiegel“-Reportage:

„Drei Uhr Zwanzig. Hamburg-Blocksted. Nieselregen. Dunkelheit.“

Diese Ballung von Widrigkeiten soll suggerieren: Die tapferen Journalisten der ARD trotzen Müdigkeit und Wetter. Genau so wollen sie sich sehen – und hemmungslos zeichnen sie dieses weichgezeichnete Bild von sich selber:

„Die Nachtwache der Nation“.

Man begleitet im Beitrag ARD-Mitarbeiter, die „Agentur-Meldungen“ bearbeiten und „Planungslisten“ sichten. Die „Tageszusammenfassungen der Nacht“ (mutmaßlich jene der großen Nachrichtenagenturen) geben den Redakteuren laut eigenen Worten „schon mal einen kleinen Überblick“. Aber wie seriös oder aber interessenbehaftet sind die genutzten Nachrichtenagenturen? Was ist „wichtig“, was wird beachtet, was wird dementsprechend verschwiegen oder nur halb erzählt? Und angesichts eines vorgefundenen „kleinen Überblicks“ – braucht es da noch die später als übertriebene Verschwörungsfiguren verhöhnten „gleichgeschalteten Pressesprecher“, um den groben Rahmen des Sagbaren bereits zu skizzieren? Ist diese „Orientierung“ bereits eine behutsame „Lenkung“?

Große Worte, wenig Selbstkritik

Um die eigene Rolle als „Wache der Nation“ zu umschreiben, wird mit großen Worten nicht gegeizt: Immer wieder ist man einer „Wahrheit“ verpflichtet, man will größtmögliche „Objektivität“ und der „Demokratie dienen“. Aus den hohen „Tagesschau“-Einschaltquoten für jenen angeblichen „letzten gemeinsamen Nenner“ in der ansonsten zerklüfteten Nachrichtenwelt wird Verantwortung, aber offensichtlich auch Bestätigung abgeleitet – so viel Bestätigung, dass die Selbstkritik einmal mehr weitgehend auf der Strecke bleibt: Aber ohne Selbstkritik wird es keine Versöhnung zwischen den öffentlich-rechtlichen Sendern und ihrem Publikum geben, wie die NachDenkSeiten in diesem Artikel beschreiben.

Doch der Panzer der westlich-journalistischen Selbstgewissheit bekommt Risse. Zweifel kommen auf: „Was ist noch wahr?“, fragt sich bange nicht nur das Personal der „Tagesschau“ angesichts der digitalen Konkurrenz. Eine Journalistin aus Peru erklärt, dass es schon immer Desinformation gegeben habe, die Digitalisierung mache die „Kontrolle der Wahrheit“ aber zunehmend schwierig. Die unhaltbare These, vor „der Digitalisierung“ habe es einen intensiven Kampf großer westlicher Medienkonzerne für „die Wahrheit“ gegeben, scheint immer wieder auf.

Die „Wahrheit“ als „westliche“ Marke

Die „Wahrheit“ wird hier wie eine Marke betrachtet, auf die westliche Medienkonzerne ein Copyright angemeldet haben. Dieses Markenrecht wird aber „zunehmend“ und weltweit von „Autokraten“ bedroht. Eine gute Portion Heuchelei westlicher Medienkonzerne und eine verkitschte Überhöhung der eigenen Rolle transportiert dieses von der ARD präsentierte Zitat von Arthur Sulzberger von der „New York Times“:

„Rund um den Globus zielt eine unerbittliche Kampagne gegen Journalisten – wegen der grundlegenden Rolle, die sie für eine freie und informierte Gesellschaft spielen.“

Solche salbungsvollen Worte ausgerechnet aus dem Hause NYT sind für informierte Medienkritiker schwer zu verdauen. In diese Richtung geht auch die Selbstdarstellung von Bastian Obermeyer von der „Süddeutschen Zeitung“, der sich „wundert“, warum „wir“ nicht mehr „alle erreichen“, obwohl die SZ doch „nur Fakten präsentieren“ würde. Auch das ist für informierte Bürger nur schwer zu akzeptieren aus dem Mund eines Journalisten, der etwa an der fragwürdigen Aufmachung der „Panama-Papers“ durch die SZ beteiligt war.

Druck und Angriffe auf Journalisten sollen hier keineswegs geleugnet oder verniedlicht werden. Kritisiert werden soll aber, wenn sich interessengeleitete Medienkonzerne den Heiligenschein der verfolgten Unschuld aufsetzen.

Im Weltbild der ARD ist Medienkritik „rechts“

Die teils bedenkliche Rolle von westlichen Medien und Journalisten bei Umstürzen in fremden Ländern oder beim neoliberalen Umbau der eigenen Gesellschaften wird in der ARD-Produktion so gut wie gar nicht thematisiert – allenfalls in allgemeinen Floskeln wie: „Medien wurden schon immer kritisiert, das ist auch wichtig: Denn Medien sind mächtig.“ Wie genau sich diese Macht aber äußert (in Kampagnen und dadurch indirekt in praktischer Politik) und dass westliche Medien (auch ARD etc) bei zahlreichen Themen diese Macht offenbar ausspielen und teils mutmaßlich bestenfalls die halbe Wahrheit verbreiten, das bleibt völlig unterbelichtet, selbst in den kurzen Passagen, in denen ein Bericht über die Konzentration und die Kürzungen bei (Privat-)Medien thematisiert wird.

Es kommen auch so gut wie keine ernstzunehmenden „linken“ Kritiker der westlichen Medienlandschaft zu Wort – als hätte es die Aufregung über die Berichterstattung (auch der ARD) zum Maidan, über Russland, über Krieg und Frieden, über die wirtschaftsliberale Gesellschaftsordnung und viele andere kontroverse Themen nicht gegeben. Im Weltbild des ARD-Features kommt Medienkritik vor allem anderen von rechts und sie ist unseriös. Auch Patrick Gensing vom „Faktenfinder“ erklärt, es seien „immer die gleichen Reizworte“. Auf Gefühle zielen dabei vor allem die anderen. Wohl kaum zufällig werden im Feature kaum kontroverse Themen behandelt, sonst hätte man sich dazu verhalten müssen. Statt um Russland oder den Putsch in Bolivien geht es etwa um die neue EU-Kommisarin oder um Erdbeben in Albanien. Darum wird auch nicht erklärt, wie es geschehen konnte, dass etwa der Wunsch nach Entspannung mit Russland von vielen großen Medien in die „rechte Ecke“ gestellt wurde.

Inakzeptable Naivität, eilte Selbstdarstellung

Gewürzt ist die geschönte und streckenweise eitle Selbstdarstellung durch inakzeptable Naivität gegenüber der Arbeitsweise und den Intentionen großer westlicher Medien. Diese haben anscheinend immer noch als „die Guten“ zu gelten. So wird dem „Spiegel“ und seiner angeblich umfassenden Doku-Abteilung ein unhaltbarer Vorschuss in Sachen Seriosität gewährt: „Beim ‚Spiegel‘ tun die Experten das, was eigentlich Standard sein sollte.“ Eine Journalistin aus Peru verkündet in großer und unwidersprochener Blauäugigkeit: „Früher waren journalistische Organisationen sowohl Verbreiter der Nachricht als auch Garanten der Fakten – so wurde die öffentliche Sphäre beschützt.“

An manchen Szenen blitzt dann doch kurz echte Selbstkritik auf – etwa wenn es um die Kommentierung der neuen SPD-Spitze geht. An anderer Stelle werden aber (im Gegenteil) irreführende „Beispiele“ für „Medienkritik“ angeführt. Dann heißt es zwar, „das Misstrauen gegenüber Medien besteht zu Recht“, doch dann werden als Belege für Gefahren durch Medien fast ausschließlich nichtwestliche Beispiele erwähnt: Russland, Hongkong, Myanmar – und zu all dem äußern sich natürlich noch „Reporter Ohne Grenzen“, über deren fragwürdige Wirkung die NachDenkSeiten etwa in diesem Artikel berichtet haben. Die Medienlandschaft etwa in Russland ist in diesem Text nicht das Thema – sie soll hier aber natürlich nicht prinzipiell von Defiziten freigesprochen werden.

Trotz berechtigter Kritik: Öffentlich-Rechtliche nicht abschaffen!

Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen inhaltlich und personell reformiert werden, das zeigen die hier beschriebenen Zustände einmal mehr. Warum man aber das wichtige öffentlich-rechtliche Prinzip bei aller berechtigter inhaltlicher Kritik nicht abschaffen sollte, das haben die NachDenkSeiten in diesem Artikel beschrieben.

Ulrich Heyden berichtet in einem aktuellen Beitrag auf den NachDenkSeiten über das Gedenken in St. Petersburg an die eine Million Menschen, die bei der Blockade der Stadt durch die deutsche Wehrmacht starben. Dabei geht Heyden auch auf den hier thematisierten ARD-Kommentar ein:

„Ich halte es für verhängnisvoll, wenn man Opfer des deutschen Faschismus gegeneinander ausspielt. Solange wir nur um Juden, aber nicht auch um die Blockade-Opfer von Leningrad und die in deutschen Kriegsgefangenenlagern verhungerten sowjetischen Soldaten trauern, haben wir unsere Geschichte als Deutsche nicht aufgearbeitet und nicht die nötigen Lehren gezogen.“

Titelbild: Mario Hagen / Shutterstock

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