Die 500. Montagsdemo gegen das Monsterprojekt Stgt21 am 3. Februar und die fünf Lügen in der „Süddeutschen Zeitung“. Von Winfried Wolf.

Die 500. Montagsdemo gegen das Monsterprojekt Stgt21 am 3. Februar und die fünf Lügen in der „Süddeutschen Zeitung“. Von Winfried Wolf.

Die 500. Montagsdemo gegen das Monsterprojekt Stgt21 am 3. Februar und die fünf Lügen in der „Süddeutschen Zeitung“. Von Winfried Wolf.

Winfried Wolf
Ein Artikel von Winfried Wolf

Das Projekt Stuttgart 21 rückt in diesen Tagen neu in die Schlagzeilen. Ein Grund ist die Tatsache, dass am 3. Februar 2020 in Stuttgart die 500. Montagsdemo stattfindet. Gleichzeitig jährt sich in diesem Jahr zum zehnten Mal der Höhepunkt der Proteste gegen Stuttgart 21. Unser Anlass, das Thema hier aufzugreifen, ist ein ganzseitiger Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“, der typisch ist für unsere Medienlandschaft. In ihm wird das zerstörerische Projekt ein weiteres Mal gerechtfertigt – und dies unter anderem, in dem fünf Mal faustdick die Unwahrheit gesagt wird.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es war einer dieser Tage, an denen mir das Wort „Lügenpresse“ durch den Kopf schoss. Das ich mir dann natürlich verbiete. Bloß kein Pegida-AfD-Jargon! Wie bezeichnen wir es dann? Zumindest ist über eine massive Medien-Manipulation zu berichten – in der größten deutschen Tageszeitung. Über das größte Infrastrukturprojekt in Deutschland.

Am 31. Januar hatte sich „meine“ Bahnexpertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB) in Fulda getroffen – unter anderem, um anlässlich von „10 Jahre Widerstand gegen Stuttgart 21“ und „500. Montagsdemo gegen S21“ – auf der u.a. BsB-Mitglied und Freund Heiner Monheim sprechen wird – über den Stand des größten Infrastrukturprojekts in Deutschland, über Stuttgart 21, zu diskutieren. Ein anderes BsB-Mitglied, der IT-Experte Dr. Christoph Engelhardt aus München, hatte auf unserem Treffen (und zuvor auf einer Veranstaltung im Stuttgarter Rathaus) beeindruckendes neues Material vorgelegt, das belegt: der neue S21-Tiefbahnhof bringt einen massiven Kapazitätsabbau mit sich. Er dokumentierte dies mit Vergleichen der Fahrpläne für bestehende Bahnhöfe wie Köln und Hamburg (die wesentlich „lockerer“ gestaltet sind als der geplante Fahrplan für den S21-Bahnhof), wo es dennoch beständig zu Verspätungen kommt. Seine und unser aller Bilanz: Ein „Deutschlandtakt“ kann in dem S21-Bahnhof nie und nimmer umgesetzt werden; der Kapazitätsabbau, der mit Stuttgart 21 gebaut wird, bedeutet, dass der gesamte Südwesten von diesem sinnvollen integrierten Taktfahrplan, den es in Deutschland ab Mitte der 2020er Jahre geben soll, abgehängt wird.

Dann: In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 1. Februar ein Artikel über die gesamte Seite 2 hinweg, der mit dem Satz endet: „Selbst das Ministerium des S21-Kritiker Winfried Hermann macht die Aussage: ´Die mit Stuttgart 21 geplante Infrastruktur […] verfügt über ausreichende Kapazitäten für die […] absehbare Verkehrsentwicklung sowie für den Deutschlandtakt.´“ Allerdings werbe der Verkehrsminister „für einen kleinen Kopfbahnhof als „Ergänzungsstation“ für den Regionalverkehr. Die SZ-Autorin Claudia Henzler verschweigt, dass es Dutzende konkrete Belege dafür gibt, dass rein physikalisch, objektiv, fahrplantechnisch usw. acht Durchfahrgleise in Tunnellage nie und nimmer einen solchen Taktfahrplan in Stuttgart leisten können und dass auch der doch eher recht regierungsfromme TV-Sender swr in Analysen eben dies dokumentierte. Siehe z.B. hier.

Sie verschweigt des Weiteren, dass der sich windende Verkehrsminister dies natürlich weiß, und genau deshalb einen neuen (!), „zusätzlichen Kopfbahnhof“ vorschlägt, um die fehlende Kapazität zu mildern… Sie verschweigt, dass dies – da die Grünen sich sklavisch an die Vorgabe, alles bisherige Gelände der Gleisanlagen müsse freigemacht werden für eine neue Bebauung, sprich für Immobilienhaie – ein neuer UNTERIRDISCHER Kopfbahnhof sein soll, was erstens absurd, zweitens völlig unrealistisch und eine Nebelkerze ist, weswegen drittens Hermann davon längst nicht mehr spricht.

Das ist aber nur eine erste Lüge in diesem Artikel.

Lüge Nr. 2 lautet: Am „Schwarzen Donnerstag“, dem 30. September 2010, hätten „mehr als tausend Demonstranten“ im Schlossgarten gegen die geplante Aktion zur Fällung hunderter sehr alter Bäume demonstriert, worauf ein Polizeieinsatz „aus dem Ruder gelaufen“ und „etliche Menschen verletzt“ worden seien. Tatsächlich demonstrierten an diesem Tag mehr als zehntausend, übrigens überwiegend sehr junge Menschen. Rein gar nichts war damals „aus dem Ruder gelaufen“, vielmehr ließen die Regierung Mappus, die Bahnspitze, der damalige OB und die Polizei eine massive Polizeiprovokation durchführen, was später auch in einem Bericht in der „Stuttgarter Zeitung“ dokumentiert wurde (siehe der Artikel von Andreas Müller mit dem Titel „Eklat beim Gipfeltreffen“, in: Stuttgarter Zeitung vom 15. Mai 2014). Es wurden dabei 400 Menschen verletzt, mehr als ein Dutzend wurde schwer verletzt; der 66-jährige Ingenieur Dieter Wagner erblindete – ihm waren die Augen durch den unverantwortlich hohen Druck des Wasserwerferstrahls und seines Einsatzes mit geringer Distanz zu den Menschen, auf die der Strahl zielte, förmlich herausgeschossen worden. Doch so genau müssen SZ-Lesende natürlich nicht informiert werden.

Lüge Nr. 3: Die Autorin lobt die „organisch geformten Kelchstützen“, die das Dach des neuen S21-Bahnhofs einmal bilden würden, was „auf eine Idee“ von „Frei Otto, der schon das Münchner Olympiagelände mitgeplant hat,“ zurückgehen würde. Tatsächlich war der preisgekrönte Architekt Frei Otto einer der beiden S21-Architekten. Doch er distanzierte sich bereits 2011 komplett von dem Großprojekt. Er warnte davor, dass der Betontrog des S21-Tiefbahnhofs bei Starkregen „aufsteigen könnte wie ein U-Boot“. Im Übrigen sei ein Bahnhof im Keller menschenverachtend; der Mensch sei „kein Maulwurf“.

Lüge Nr. 4 betrifft den Ablauf der S21-Planungen und die Gründe, die zu einem zeitweisen Stopp des Projekts geführt haben. In der SZ heißt es: „1995“ sei das Projekt S21 geboren worden. Doch dann habe „die damalige rot-grüne Bundesregierung sowie der neue Bahnchef“ das „Projekt kritisch gesehen“, weshalb dann das Land mit einer Kofinanzierung das Projekt neu belebt habe.

Tatsächlich wurde S21 im April 1994 – nicht 1995 – verkündet. Gestoppt wurde es 1998 von dem damals von Kanzler Kohl eingesetzten neuen Bahnchef Johannes Ludewig mit der Begründung, es sei unwirtschaftlich. Rot-Grün setzte Ende 1999 den neuen Bahnchef Hartmut Mehdorn ein. Dieser war es, der S21 neu beleben und bauen ließ. Und warum erfolgte die Neubelebung des Monsterprojekts – im Übrigen ausgerechnet unter Rot-Grün? Mehdorn ließ am Beginn seiner Amtszeit von seinem damaligen Infrastrukturchef Thilo Sarrazin (!) für alle Bahn-Großprojekte berechnen, wie wirtschaftlich oder unwirtschaftlich diese seien. Das Ergebnis lautete: Das unwirtschaftlichste Großprojekt war Stuttgart 21. Dennoch beauftragte Mehdorn bald darauf Sarrazin, genau dieses Projekt neu zu beleben und dafür in Stuttgart die entsprechenden Verträge zu unterzeichnen. Was Herr Sarrazin als damals bereits obrigkeitshöriger Charakter sklavisch tat. Der Grund für die von Mehdorn und Sarrazin durchgeführte Reaktivierung des Monsterprojektes: Das Land Baden-Württemberg schloss mit der Deutschen Bahn einen Nahverkehrslangzeitvertrag, bei dem das Land um mehr als 50 Prozent und mehr als eine Milliarde Euro zu viel bezahlte. Es wurden damals also faktisch Steuergelder als Schmiergeld für den Bau von S21 eingesetzt. Dies belegte Sarrazin im Juni 2018 als Betroffener, Täter und Sachverständiger im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags. Das wiederum wurde in vielen Medien ausführlich dokumentiert. Sarrazins Stellungnahme ist nachzulesen HIER.

Lüge Nummer 5: Die SZ-Autorin behauptet, mit dem Tiefbahnhof S21 und der Neubaustrecke nach Ulm würde sich „im Dezember 2025 die Fahrt von Ulm nach Stuttgart von heute 56 auf dann 31 Minuten verkürzen“. Tatsächlich hat S21 nichts mit der Neubaustrecke zu tun. Diese Neubaustrecke nach Ulm, die in Wendlingen beginnt, wird auch bereits 2023 fertig und verkürzt dann tatsächlich die Fahrtzeit wie beschrieben. Bereits daran ist zu ersehen, dass dieses Projekt rein gar nichts mit dem Tiefbahnhof zu tun hat. Wobei diese Fahrtzeitverkürzung extrem teuer erkauft wird. Sie steht auch in Widerspruch zum Projekt Deutschlandtakt, weil damit die Anschlüsse im Knotenbahnhof Ulm nicht gegeben sind bzw. weil damit für einen großen Teil der Fahrgäste in Ulm lange Wartezeiten erforderlich werden. Womit der 3,8 Milliarden Euro teure Zeitgewinn sich weitgehend wieder in Luft auflöst.

Im Übrigen wird Stuttgart 21 auch nicht im Dezember 2025 in Betrieb gehen. Das Projekt wird nie fertig erstellt werden. Es wird eine Bauruine bleiben. Es ist ausschließlich die „Staatsräson“, die für das Weiterbauen verantwortlich ist. Damit ist gemeint: Die Kanzlerin und die Bahnspitze, die sich jahrelang mit dem Projekt identifizierten, wollen nicht ihr Gesicht verlieren. Beziehungsweise man wartet ab, bis alle Verantwortlichen sich in den Ruhestand oder in das Grab verabschiedet haben.

Zwischenbemerkung Albrecht Müller: So ist es!! Es geht jetzt vor allem um Gesichtswahrung der Verantwortlichen. Nur deshalb wird der erkannte Wahnsinn fortgesetzt. (Weiter:)

Und so ist natürlich auch der letzte Satz in dem Artikel ein Skandal. Er lautet: „Für die Stadt ist das Projekt eine einmalige Chance zur Stadtentwicklung. Wenn die Gleise […] verschwinden, werden im Talkessel fast hundert Hektar Land frei. Hier soll der neue Stadtteil Rosensteinviertel entstehen.“

Welch eine Heuchelei! Welche eine Verdrehung der Wirklichkeit! Wie sehr provoziert dieser Artikel dazu, dass erneut, wie in der Hochzeit des S21-Widerstands, skandiert wird: „Lügenpack“! Da wird ein funktionierender Bahnhof in seiner Kapazität massiv geschwächt – was eine VERTANE Chance für Stadtentwicklung ist! Da wird ein Taktverkehr verhindert – was die Zerstörung der Chance „Deutschlandtakt“ im Südwesten der Republik ist! Da soll ausgerechnet im Talkessel ein neues Viertel gebaut werden, womit eine Freiluftschneise zerstört, eine Fläche, die nachts für Abkühlung sorgt, zusätzlich versiegelt und die Temperaturen im Talkessel, die im Sommer bereits unerträglich hoch sind, weiter angeheizt werden.

In der Summe wirkt der Beitrag, als wäre er von der Pressestelle der Deutschen Bahn AG bestellt worden. Er führt dabei nochmals vor Augen, wie zerstörerisch für die Demokratie die mediale Kapitalkonzentration ist. Und die sieht hier wie folgt aus: Die „Süddeutsche Zeitung“ wurde 2008 von der Südwestdeutschen Medienholding übernommen. Zu dieser Holding gehören neben der SZ auch die „Stuttgarter Zeitung“, die „Stuttgarter Nachrichten“ und der „Schwarzwälder Bote“. Es handelt sich um eine geballte Medien-Macht mit täglich mehr als 600.000 gedruckter Tageszeitungen-Exemplare (hinzu kommen Dutzende andere Publikationen). Die Südwestdeutsche Medienholding trommelte mehr als ein Jahrzehnt lang fast geschlossen für das Monsterprojekt Stuttgart 21. Enthüllungen zu dem Projekt und S21-kritische Publikationen wurden verschwiegen. Der Widerstand wurde und wird systematisch kleingeschrieben. Adrian Zielke, der ehemalige außenpolitische Ressortleiter der „Stuttgarter Zeitung“, erklärte dann auch: „Ohne Zustimmung der Stuttgarter Zeitung zu diesem Großprojekt würde Stuttgart 21 nie gebaut werden.“ (In: stern.de vom 7. Oktober 2010).

Der SZ-Beitrag verdeutlicht ein weiteres Mal, wie wichtig die Entwicklung einer unabhängigen Öffentlichkeit ist – mit unabhängigen Medien, wie es sie im Internet und teilweise auch noch gedruckt gibt. Und wie wichtig der Widerstand auf der Straße und vor dem Bahnhof gegen das stadtzerstörerische Projekt Stuttgart 21 ist.

PS: Als Reaktion auf den SZ-Artikel sandte Prof. Wolfgang Hesse, München, am 2. Februar einen im Folgenden wiedergegebenen Leserbrief, auf dessen Abdruck in der SZ wir mit einem gewissen Interesse warten:

„Sehr geehrte Frau Henzler, sehr geehrte SZ-Redakteure,

in nur sechs Jahren hat man in Zürich den dort bestehenden 26-gleisigen Kopfbahnhof um einen unterirdischen Durchgangsbahnhof mit vier Gleisen erweitert und damit 2014 seine schon vorher außerordentliche Kapazität nochmals erheblich gesteigert. Das kostete einschließlich aller Tunnel und Zuläufe knapp über 2 Mrd. Schweizer Franken. In Stuttgart wird dagegen für 8,2 Mrd. Euro (oder am Ende noch mehr?) seit nunmehr 10 Jahren der Bahnhof um die Hälfte der Gleise verkleinert und dabei seine Kapazität deutlich verringert.

Der weltweit einmalige Zynismus, der in diesem gigantischen Infrastruktur-Rückbau liegt, hätte zumindest eine Erwähnung verdient – ebenso wie die von Anbeginn bis heute bestehenden k.o.-Kriterien der 6-fach überhöhten Gleisneigung (bei der z.B. Kinderwagen abrollen), der zu eng dimensionierten Bahnsteige und des unzureichenden Brandschutzes. Dass der viel zu eng geplante Tiefbahnhof schon immer den Prinzipien des gewünschten und kürzlich propagierten Deutschland-Takts diametral entgegensteht, wird auch durch Beschwichtigungen aus dem Ministerium nicht besser.

Genügend Raum für diese wichtigen Informationen hätte man sicher in der Spalte über den Juchtenkäfer finden können. Als Kritik-Blitzableiter hat er wohl im Laufe der Jahre genügend Aufmerksamkeit erfahren. Mit freundlichen Grüßen (Wolfgang Hesse)

Winfried Wolf ist Verfasser des einzigen umfassenden Buchs zu Stuttgart 21: abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands, 380 Seiten, 20 Euro, 3. und erweiterte Auflage, Köln (PapyRossa) März 2019. Die Zitate im Text sind in dem Buch alle dokumentiert. Wolf ist u.a. aktiv für das Projekt einer Skulptur des Bildhauers Peter Lenk („Imperia“, Konstanz), mit der der Irrwitz des Stuttgart21-Projekts gegeißelt und der Widerstand gegen S21 gewürdigt wird. Von den zur Finanzierung des Projekts erforderlichen 100.000 Euro wurden bei aktuellem Stand bereits 83.000 Euro erreicht. Im Sommer 2020 wird die Skulptur fertig sein. Siehe: lenk-in-stuttgart.de.

Das Spendenkonto lautet: BFS e.V., IBAN: DE04 1605 0000 3527 0018 66 // BIC WELADED1PMB

Anmerkung Albrecht Müller: Die NachDenkSeiten unterstützen den Widerstand gegen Stuttgart 21 und ausdrücklich auch das Projekt von Peter Lenk.

Titelbild: Christian Wiediger / Shutterstock

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