J‘accuse

J‘accuse

J‘accuse

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Der Film „J’accuse“ (Deutscher Titel: Intrige) von Roman Polański hat alles: Es geht um Antisemitismus in besten Kreisen, um einen mutigen Widerspruch, um einen Film, der genau in diese Zeit passt, um einen wunderbaren Regisseur und um den gegen ihn erhobenen Vorwurf der Vergewaltigung. Wie geht das alles (zusammen) im Film und im wirklichen Leben? Von Wolf Wetzel.

Der Film „J’accuse“ läuft unter dem Titel „Intrige“ bald auch in deutschen Kinos an. Es geht um den Hauptmann Dreyfus, der 1894 wegen Landesverrats verurteilt, aus der französischen Armee entlassen und auf die Teufelsinsel verbannt wurde. Den Titel verdankt der Film einem Offenen Brief, der mit „J‘accuse“ (Ich klage an) überschrieben ist. Der damals bereits weithin bekannte Schriftsteller und Journalist Émile Zola kritisiert darin die Verurteilung von Dreyfus, die Fälschung von „Beweisen“, die Unterschlagung von entlastendem Material, das Urteil, das längst feststand. Er kommt zu dem Schluss, dass der Hauptmann einzig und allein deshalb zum „Vaterlandsverräter“ gemacht wurde, weil er Jude ist, weil Juden an allem schuld sind. Dieser Artikel bringt Émile Zola einen Prozess ein.

Der Regisseur von J‘accuse heißt Roman Polański.

Parallel zu diesem Film läuft ein anderer ‚Film‘: Mehrere Frauen werfen Roman Polański Vergewaltigung vor. Dieser bestreitet die Vorwürfe. Deshalb gibt es auch Boykottaufrufe gegen diesen Film, also gegen den Regisseur Roman Polański:

„Nach Protesten von Frauenrechtlerinnen nahmen einzelne Kinos in Frankreich den Film aus dem Programm, ein namhafter Regieverband hat ein Verfahren zum Ausschluss Polańskis eingeleitet. Polański hatte 2003 für Der Pianist den Oscar gewonnen. Die Oscarakademie schloss ihn aber wegen “sexuellen Fehlverhaltens” im Zuge der MeToo-Debatte 2018 aus. Polański hatte zugegeben, 1977 in den USA Sex mit der damals 13-jährigen Samantha Geimer gehabt zu haben. Ein Jahr später floh er aus den USA, wo ihm nach wie vor ein Prozess wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen droht.“ (“Man versucht, aus mir ein Monster zu machen”, zeit.de vom 11. Dezember 2019)

Handelt es sich um einen großartigen Film, der gerade zur rechten Zeit kommt? Um die Auseinandersetzung mit einem Antisemitismus, den weder „Rechtsextreme“ noch Faschisten erfunden haben, der vielmehr aus der christlichen Mitte heraus geboren wurde, unter ehrenwerten Männern, lange bevor der Faschismus in Europa an die Macht kam? Oder muss man den Film boykottieren, um den gemachten Vorwürfen Nachdruck zu verleihen?

Die Auseinandersetzung kreist um den Film und um die Person Roman Polański: Kann man einen Film vom Leben des Regisseurs trennen? Muss man das zusammen würdigen, zusammendenken? Die Debatte bewegt sich tatsächlich in diesen Widersprüchen. Sie deckt sie nicht zu. Sie bringt das jeweils Gegensätzliche nicht zum Verschwinden. Manchen Beiträgen gelingt es gar, Roman Polański nicht zu zerlegen, in den Juden, den (Meister-)Regisseur, den Vergewaltiger.

Man könnte diese wichtige und notwendige Debatte auch anders führen … zum Beispiel abwürgen. Stellen Sie sich vor, es würden sich lautstark, prominent und auflagestark Medien zu Wort melden und den KritikerInnen vorwerfen, dass es ihnen gar nicht um sexuelle Gewalt geht, dass dieser Vorwurf nur vorgeschoben sei. Was würde passieren, wenn namhafte Persönlichkeiten den KritikerInnen vorwerfen würden, dass sich hinter diesen Vorwürfen ein Antisemitismus verstecken würde, mit dem man Roman Polański als Jude treffen will? Ein Antisemitismus, der sich im Schutz eines berechtigten Anliegens Bahn bricht?

Man kann sich sicher sein, dass ganz viele aus der Debatte aussteigen würden, weil man diesen Verdacht auf keinen Fall auf sich ziehen möchte.

Wenn der Antisemitismus-Vorwurf wie Löschkalk über eine notwendige Debatte gestreut wird

In den letzten Jahren wurde genau nach der Methode gehandelt, die im Fall Polański glücklicherweise nicht angewendet wird. Auf den NachDenkSeiten sind zahlreiche Fälle sehr ausführlich dokumentiert. In der Regel hatten jene Erfolg, die diesen Vorwurf erhoben haben. Dabei hat die Beweiskraft etwas von dem, was man dem Antisemitismus zurecht unterstellt: Dieser behauptet etwas, was man nicht beweisen kann, weil es sich so geschickt tarnt.

In diesem Beweismuster bewegen sich viele dieser Antisemitismusvorwürfe – vor allem gegen linke Kritik. In den allermeisten Fällen geht es um eine Kritik am Staat Israel, also um eine Regierungspolitik, die man nicht teilt. Es geht um Kritik an der Besatzungspolitik, um Kriegsverbrechen, um Vertreibung, Landnahme, um den demographischen Krieg und um den BDS-Boykottaufruf („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“), der Druck auf die israelische Staatspolitik ausüben will. Was man in jedem UN-Bericht nachlesen kann, ist in den Augen ihrer Gegner … Antisemitismus, ein versteckter Antisemitismus, was ihn besonders gefährlich macht.

Der Nachweis einer antisemitischen Haltung erfolgt in drei Schritten: Zuerst erklärt man die Kritik für diskutabel und für jede Demokratie eine Selbstverständlichkeit. Dann hält man die Kritik für vordergründig, also vorgeschoben. Im letzten Schritt entdeckt man, was sich hinter der Kritik versteckt hält: Antisemitismus. Wenn die Brücke zwischen einer Kritik an der Staatspolitik Israels und dem Hass auf die Juden zu luftig ist, schüttet man nochmals Zement nach und wirft den KritikerInnen eine „Nähe“ zu antisemitischen Ideologien vor. Am kurzen Ende ist die Beweiskette geschlossen und das Verbot der inkriminierten Veranstaltung in städtischen Räumen geht seinen Weg.

Mittlerweile ist aus dieser Praxis ein bundesweiter Erlass geworden. Mitte letzten Jahres verabschiedete der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit einen Beschluss, der „umstrittenen“ BDS-Bewegung Unterstützung und finanzielle Förderung zu entziehen: ‚Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch‘, heißt es zur Begründung in dem gemeinsamen Antrag von Union, SPD, FDP und Grünen.

Der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik gehört zu denen, die sich selbst dann Gehör verschaffen, wenn seine „jüdische Stimme“ gerade gar nicht ins Konzept passt. In einem Beitrag mit dem Titel: „Unter BDS-Verdacht: Der neue McCarthyismus“ kritisiert er diese Verbotspraxis wie folgt:

„Das Perfide des neuen, BDS-bezogenen McCarthyismus besteht zudem darin, dass er sich wegen des darin enthaltenen Antisemitismusvorwurfs kaum ausweisen muss und er zudem einen kaum widerlegbaren Vorwurf enthält: den der Kontaktschuld. (…) Die neue Form des McCarthyismus ist derzeit noch auf das Themenfeld Israel, BDS und Antisemitismus begrenzt. Und ebendort sollten wir ihm auch entschieden entgegentreten. Nur so können wir verhindern, dass das Beispiel Schule macht. Denn dann geriete die mühsam errungene liberale öffentliche Kultur der Bundesrepublik Deutschland in Gefahr. Damit aber drohte auch in Deutschland der Anfang einer bereits von vielen prognostizierten „illiberalen“ Demokratie.“

Das letzte Beispiel kommt aus München. In diesem Jahr wollte der Trägerkreis die „Internationale Münchner Friedenskonferenz“ unter dem Motto: „Sicherheit neu denken“ abhalten. Das Büro des Oberbürgermeisters schlug als Grußwortüberbringer Marian Offman vor – ein Stadtrat, der jahrelang CSU-Mitglied war und 2019 zur SPD wechselte. Dazu gab es deutlichen Widerspruch:

„Wir identifizieren ihn mit den Positionen der CSU, z.B. Remilitarisierung, Griff nach Atomwaffen, kalter Krieg, Diffamierung der Friedensbewegung. Er ist uns bekannt geworden schon als Stadtrat der CSU durch fortgesetzte Angriffe auf das Eine-Welt-Haus und die Gruppen der Friedens-, Umwelt- und sonstigen sozialen Bewegungen, die sich dort treffen. Er hat wiederholt versucht, Veranstaltungen und Gruppierungen, die die Politik Israels kritisch beleuchten, mit dem Vorwurf des „Antisemitismus“ einzuschüchtern und mundtot zu machen.“

Man entschloss sich, die Stadt München darum zu bitten, einen Vertreter zu schicken, der ihnen politisch näherstünde. Der Trägerkreis konnte nicht ahnen, was er mit diesem selbstverständlichen Ansinnen auslöste. Daraufhin wurde die Löschkalkfabrik in Betrieb genommen. Man habe, so die Aufdecker, Marian Offman als Juden angegriffen. Weder das Jüdischsein noch eine jüdische Zugehörigkeit waren Gegenstand der politischen Ablehnung, aber, so Marian Offman, es „liegt die Vermutung nahe, dass man den Juden Marian Offman einfach nicht als Begrüßungsredner haben wollte. Auch wegen seiner Position natürlich zu Israel.“ (Marian Offman als Redner ausgeladen, sueddeutsche.de vom 23. Dezember 2019) Das ist vermutlich so naheliegend wie Peking und Berlin.

Damit war ein cordon sanitaire um die Veranstaltung gezogen. Das eigentliche Thema war vom Tisch, der Antisemitismus im Raum. Ein Vorwurf, der in den letzten Jahren in Deutschland wie grell flackerndes Blaulicht wirkt: Geh aus dem Weg, mach Platz, sonst gehörst Du dazu!

Die VeranstalterInnen sahen sich in der Folge einer Welle von Vorwürfen und Angriffen ausgesetzt … und gaben auf. Sehr viele Veranstaltungen sind auf diese Weise boykottiert worden.

Der Fall Polanski zeigt, dass man auch ganz anders darüber streiten kann, nämlich streiten.

Darf man also den Film von Roman Polański anschauen?

Es ist wahrscheinlich gut gemeint, wenn einige den Rat geben, den Film, sein Werk von der Person zu trennen. Dann hätte man den eigenen Zwiespalt vom Tisch, könnte einen sehr guten Film anschauen und an anderer Stelle den Vorwürfen Platz geben.

Aber vielleicht ist das Gegenteil viel produktiver, auch wenn es um einiges aufreibender wäre. Ist es nicht naheliegend, die Person Roman Polański und sein filmisches Schaffen zusammenzudenken, zusammenzuhalten? In diesem Fall müsste man aushalten, dass der Film „J’accuse“ mit vielem korrespondiert, mit vielem im Austausch, in Verbindung steht: Dazu gehört Roman Polańskis jüdische Geschichte, die er nie zur ersten Person gemacht hat. Dazu gehört sein Gespür für systematische Demütigungen, für alltägliche Erniedrigungen, für das stille Gift der Entmenschlichung, das Gift, das auch ohne Auschwitz wirkt und mit Auschwitz in seiner Industrialisierung mündete. Dazu gehört wahrscheinlich, ganz sicher auch sein Umgang mit den vorliegenden Vorwürfen, die er bestreitet.

In diesem Zusammenhang macht man Polański den Vorwurf, dass er die Verfilmung des „Falls Dreyfus“ dazu nutzen würde, sich selbst als Opfer einer ungerechtfertigten Denunziation zu präsentieren, sozusagen im Subtext, in einer gedachten Linie zum französischen Justizopfer, dem Hauptmann Dreyfus.

Es wäre so gar nicht verwunderlich, wenn all dies bei Polański in die Art der Verarbeitung des „Falls Dreyfus“ einfließen würde. Dann könnte man sicherlich ganz schwierige Fragen stellen und nach Antworten suchen, nicht nur bei Roman Polański, sondern bei uns allen:

Wieviel Vergangenheit steckt im gegenwärtigen Tun? Wieviel Vergangenheit dient der Rechtfertigung gegenwärtigen Tuns?

Was nimmt man sich mit der je eigenen, besonderen Geschichte heraus? Was schafft erfahrenes Leid, was legitimiert erlittenes Leid? Was macht man (ganz) anders? Was wiederholt man, was kann man in einer Nachinszenierung überwinden?

Was rechtfertigt sich (nicht) mit dem Opfer-Sein?

Titelbild: Venice International Film Festival

Literatur und Quellen:

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