Der Zerfall des kritischen Potenzials

Der Zerfall des kritischen Potenzials

Der Zerfall des kritischen Potenzials

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Leider ist schon seit längerem zu beobachten, dass kritische Geister und kritische Medien, die eigentlich zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Förderung verdammt wären, gegeneinander arbeiten, oder in der milderen Form, keine Notiz voneinander nehmen. Diese Fehlentwicklung hat damit zu tun, dass die etablierten Medien und damit verbundene Personen eine tief sitzende Abneigung gegen die kritischen Medien im Internet haben oder sich sogar ökonomisch bedroht fühlen. Oder es gilt, wie wir schon des Öfteren notiert haben, dass diese ehedem kritischen Geister zur mächtigen allgemeinen Öffentlichkeit gehören wollen, dass sie dazugehören wollen, statt kritisch aufzuklären. Ich will an zwei konkreten Beispielen sichtbar machen, was ich meine. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Erstes Beispiel:

Der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk und insbesondere die dort als eher zeitkritische Formate installierten Medienprodukte wie Monitor, Panorama, ZAPP und ähnliche Sendungen im Hörfunk scheuen die Zusammenarbeit mit Internet-Medien und damit auch die gegenseitige Befruchtung und Förderung. Das Verhältnis ist eher feindselig als kooperativ. Allein mit verschiedenen Kabarett-Sendungen gibt es eine meist stille Kooperation. Man lernt voneinander, man informiert und fördert sich gegenseitig.

Zweites Beispiel: Günter Wallraff und Klaus Staeck u.a.m.

Beide haben sich lange Zeit auf dem Feld der Aufklärung ungemein verdient gemacht. Klaus Staecks Plakate und Postkarten waren in den sechziger bis neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wegweisend. Junge Menschen und politisch engagierte Menschen aller Altersgruppen hatten Spaß an seinen Sprüchen und Grafiken. Hieran zum Beispiel:

oder hieran:

Dieses Plakat war ein treffender Beitrag zur Steuer- und Reformdiskussion der sechziger und siebziger Jahre.

Ich habe damals als Verantwortlicher für die Öffentlichkeitsarbeit der SPD und dann später bis zu Beginn von Schröders Reformpolitik und der Agenda 2010 eng mit Klaus Staeck zusammengearbeitet. Dann kam mit der Veröffentlichung meiner beiden kritischen Bücher „Die Reformlüge“ und „Machtwahn“ und vor allem mit der Gründung der NachDenkSeiten der Bruch. Klaus Staeck wollte, obwohl er mit dem Hinweis auf die Gründung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft indirekt den Anstoß für die Erfindung der NachDenkSeiten gab, die Kritik an der SPD und an einigen der etablierten Medien nicht teilen. Das galt auch für einige andere Personen des damaligen kritischen Milieus – für Günter Grass, Manfred Bissinger, Johano Strasser zum Beispiel. Kosovo-Krieg und Agenda 2010 fanden die Unterstützung dieser ehedem kritischen Zeitgenossen.

Klaus Staeck wie übrigens auch die Otto Brenner Stiftung wandten sich dann einige Zeit später mit einer der übelsten Attacken gegen die früheren Partner – mit dem Vorwurf: Querfront! Die Otto Brenner Stiftung finanzierte eine sogenannte Studie dazu. Der großartige Otto Brenner dreht sich im Grab.

Günter Wallraff ist ein besonderer Fall

Auch hier gilt ähnlich wie bei Klaus Staeck: Viele Zeitgenossen haben von ihm und seinen Under-cover-Aktionen unglaublich viel gelernt. Er hat reihenweise soziale und rechtliche Missstände aufgedeckt. Dann, so mein persönlicher Rückblick, wurde es still um ihn. Und jetzt trat er wieder auf die Bühne. Wir haben auf den NachDenkSeiten über seine Initiative und den Aufruf zu Gunsten Assanges berichtet. Diese Initiative von Günter Wallraff war richtig so und auch verdienstvoll. Aber es ist zum einen nicht verständlich, welchen sonderbaren, in Sachen Assange unglaubwürdigen Partner er sich mit Sigmar Gabriel und mit der Unterstützung von Reporter ohne Grenzen ins Boot holte. Zum andern ist der Ausschluss der kritischen Internet-Medien von dieser Initiative sachlich nicht zu verstehen.

Im Netz gab es nämlich lange vor der Initiative des Günter Wallraff schon einen aktiven Kampf zu Gunsten Assanges. Die NachDenkSeiten zum Beispiel begleiten diesen verfolgten Journalisten-Kollegen intensiv seit 2018. Schon früher warben wir für Wikileaks, zum Beispiel hier: Wir brauchen zur Rettung des Restes an Demokratie eine Art Wikileak zur Aufklärung über innere Vorgänge in D. Der Beitrag stammt von 2010. Oder hier noch ein Beitrag von 2010: Nachtrag WikiLeaks (2): Nörgelnde Medien und Aufruf zur Unterstützung von Wikileaks. Damals warben die NachDenkSeiten um Verständnis für Assange und wandten sich gegen die Kritik eines anderen berühmten Journalisten.

Wirklich aufschlussreich sind die Einlassungen des Günter Wallraff auf der Pressekonferenz vom 6. Februar, insoweit sie das Verhältnis zwischen etablierten Medien und Internetmedien betreffen. Christian Goldbrunner von den NachDenkSeiten hat den entsprechenden Teil der Pressekonferenz schriftlich fixiert. Es beginnt mit einer Frage von Tilo Jung an Günter Wallraff. Lesen Sie diesen Text, markante Stellen sind fett markiert.

Quelle: Tilo Jung

Aus dem Video transkribiert ab Minute 61:

Frage Tilo Jung: “Herr Wallraff, die Krise um diese Whistleblower ist ja auch eine Krise des Journalismus. Es machen sich immer noch mehr Kollegen von uns gemein mit den Mächtigen, wenn es um die Narrative, wenn es um Assange und um Snowden geht, als sich gemein mit der Wahrheit und mit den Whistleblowern. Was sagen sie zu der Krise des Journalismus?”

Günter Wallraff: “Ich sehe im Gegenteil, und dass das hier zum großen Thema gemacht wurde, zeigt eigentlich, dass wir eine Sensibilisierung haben, und die Kollegen, die ich kenne, in ganz verschiedenen Zeitungen, auch in konservativen Zeitungen, sind bewusstseinsmäßig oft weit über die Leitlinie des Mediums hinaus. Und das liegt aber auch an der Öffentlichkeit, auch an den Lesern. Wir müssen viel mehr Leserbriefe schreiben oder auch in online uns da zu Wort melden, gegen die ganze Propaganda der angeblichen Lügenpresse usw. uns dagegen wenden. Also ich sehe eher in unserem Journalismus positive Gesichtspunkte. Ja, wer liest noch Zeitungen? Ich habe fünf abonniert und meine jüngste Tochter, die keine Zeitung hat, ich habe ihr ein taz-Abo geschenkt. So haben wir auch wieder Gesprächsstoff. Es geht nicht nur um die Printmedien, aber die sind auch wichtig. Wer eine Zeitung liest, der wird auch Sachen zur Kenntnis nehmen, die nicht in seinem eigenen Umfeld liegen. Das ist im online, im Internet etwas anderes, da sind alle, ja wie nennen wir das, in einer Blase drin und bleiben unter sich. Das können wir auch in der Schule, da braucht es Medienkunde. Jüngere Lehrer müssten da hin, die überhaupt Kindern und Jugendlichen beibringen, wo sind hier die Interessen-geleiteten Meldungen? Wo sind Wahnwelten? Immer mehr fallen darauf herein, und ich glaube, hier muss – ein breites Feld. Aber wir sollten nicht sagen, hier unsere Presse ist sowieso verloren. Ja, das Zeitungssterben ist ein Riesenproblem, aber jeder Einzelne und ich wirke in meinem Umfeld, ich habe schon Geschenkabonnements möglich gemacht für diejenigen, die noch offen sind. Da ist jeder Einzelne gefordert. Ich kenne die Kollegen in verschiedenen Zeitungen, auch in konservativen Zeitungen – sehr sensibel, sehr wachsam, oft natürlich über das hinausdenkend, was sie noch veröffentlichen, aber der Spielraum wird geringer. Das ist richtig, ja.”

Es ist unsäglich, wie Wallraff sich da auf eine konkrete inhaltliche Frage zur Krise des Journalismus einfach herausredet – wir sollen doch mehr Zeitung lesen und Leserbriefe schreiben – und wie er Online-Medien verallgemeinert und verteufelt. Die Veränderung gerade bei Zeitungen, die einmal zum kritischen Potenzial gehörten, zum Beispiel bei der taz, hat dieser ehedem wichtige kritische Zeitgenosse nicht wahrgenommen. Diese Nibelungentreue spaltet das kritische Potenzial.

Bei Wallraff ist das Ganze ja auch noch damit verziert, dass er seit Jahren schon Partner von RTL ist. Wer diesem Bertelsmann-Sender dient oder von ihm abhängig ist, muss sich offensichtlich mit dem solidarisieren, was in den etablierten Medien geschieht.

Es passt ins Bild, dass Wallraff im Rahmen seiner Arbeit für RTL undercover bei RT Deutsch recherchieren ließ und das dann von „Meedia“ mit wirklich fragwürdigen Internet-Medien kombiniert wird. Siehe hier:

29.08.2017:
“Laien, die Informationen ungeprüft verbreiten”: Wallraff-Team für RTL extra undercover bei RT Deutsch & Co.

Günther Wallraff und sein Team decken die Arbeitsweise von sogenannten “alternativen Medien” auf.

Diese Aktion gegen RT Deutsch ist deshalb besonders apart, weil wir ohne RT Deutsch gerade über die Pressekonferenz des Günter Wallraff zu Assange und über das Schicksal des Journalistenkollegen Assange viel weniger erfahren hätten als ohne diesen „anderen Part“ von RT Deutsch.

Fazit: Wir haben eine Spaltung des kritischen Potenzials. Damit ist der fortschrittliche Teil unserer Gesellschaft geschwächt und es ist sehr die Frage, ob noch einmal zusammenwächst, was auseinandergefallen oder -getrieben worden ist. Wahrscheinlich ist das unter uns Älteren und Alten nicht mehr möglich. Das Motiv, dazugehören zu wollen oder aus ökonomischen Gründen dazugehören zu müssen, ist zu dominant.

Also müssen wir auf die Jüngeren setzen.

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