Coronavirus: „Schon für das normale Tagesgeschäft sind Kliniken aus pflegerischer Sicht nicht gewappnet“

Coronavirus: „Schon für das normale Tagesgeschäft sind Kliniken aus pflegerischer Sicht nicht gewappnet“

Coronavirus: „Schon für das normale Tagesgeschäft sind Kliniken aus pflegerischer Sicht nicht gewappnet“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Personalmangel, spärliche Ausstattungen und Pflegekräfte, die an ihrem Limit arbeiten: In Zeiten der Coronakrise dürfte so manchem langsam dämmern, dass die seit langem bekannten Probleme in unserem Gesundheitssystem und in der Pflege sich irgendwann bitter rächen werden. Monja Schünemann, ausgebildete Krankenschwester und Historikerin, findet auf ihrem Blog mypflegephilosophie.com immer wieder klare Worte zum Thema Pflege. Im NachDenkSeiten-Interview verdeutlicht sie, wie schlimm es um die Pflege bestellt ist. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Frau Schünemann, dass in unserem Gesundheitssystem im ganz normalen Tagesbetrieb schon vieles aus dem Ruder läuft, ist bekannt. Nun aber ist das Coronavirus im Land. Sind unsere Krankenhäuser gewappnet?

Das kommt darauf an, aus welcher Perspektive man es betrachtet. Theoretisch scheint das, glaubt man denjenigen, die gerade nicht vor Ort sind, gegeben. Es wurden noch Beatmungsmaschinen gekauft. Doch schon jetzt haben viele kein Isomaterial mehr zur Verfügung. Es gibt Berichte, wonach nur noch eine Maske pro Schicht an eine Person ausgeteilt wird und diese Person muss dann alle versorgen. Woanders werden Testungen von Kontaktpflegekräften verweigert, weil „sie ja nicht in China waren“. Die Personaluntergrenzen wurden ausgesetzt. Das birgt eine erhebliche Gefahr, gerade auf Intensivstationen. Oder kurz: Schon für das normale Tagesgeschäft sind Kliniken aus pflegerischer Sicht nicht gewappnet , stattdessen erklärt man ihnen unaufhörlich, dass es gerade jetzt auf sie ankäme. Wie immer also.

Die Probleme scheinen tief zu liegen.

Die Kollegen sind schon jetzt ausgebrannt, sie kriegen keinen Rückhalt bei den Einwohnern, auf Twitter werden sie beschimpft, sie sollten sich keine Kinder anschaffen, wenn sie dann in der Not nicht arbeiten können. Das trifft unheimlich, weil in anderen Ländern die Leute sich vor Kliniken versammeln, und Applaus klatschen, wenn die Schichten wechseln. Doch das Ganze hat auch strukturelle Dimensionen.

Eines der grundsätzlichen Probleme besteht darin, dass die Leute in der Ausbildung einen Beruf lernen, den sie in der Praxis nicht ausüben dürfen. Jeder Außenstehende wirft seine veralteten Vorstellungen von Pflege aus dem 19. Jahrhundert mit in den Topf der Fremdzuschreibungen. Es gibt keine Sprecher für Pflegende, die alle vertreten oder gar noch einen Blick für die Probleme der Basis hätten. Pflege gilt als diejenige, die nichts zu sagen hat, weil „sie nur ‚Schwester‘“ sei. Nun müssen von Pflegenden plötzlich Besuchsverbote durchgesetzt werden. Bei meinem Bekannten brachen Angehörige in die Pflegeeinrichtung ein, weil sie die Schutzmaßnahmen nicht einsahen. Es gibt kein Material auf den Stationen. Pflege ist in „erweiterter Quarantäne“, darf also nicht in die Quarantäne bei Kontakt. Manche Kliniken lassen ihre Mitarbeiter nicht testen, verbreiten Fakenews, damit die Pflegenden nicht zu Testungen gehen. Auch wenn Mitarbeiter positiv getestet wurden, hörte ich von Fällen, wo der Mitarbeiter dann weiterarbeiten musste. Das ist besonders gefährlich, weil er in dieser Zeit bereits nachgewiesen infiziert ist und ohne ausreichende Schutzmaßnahmen Patienten und Kollegen anstecken kann. Auch Rentner, also die besonders gefährdete Personengruppe, sollen unter diesen Bedingungen wieder in den Dienst kommen. Das ist fatal, wenn ohne Schutzmaterial Pflegende erst isoliert werden, wenn sie Fieber kriegen. Pflegende sollen gar in den Schulschließungen ihre Kinder nicht betreuen, weil Anderes vorginge. Die Gesellschaft vergisst, dass Pflege ein Beruf ist, von ganz normalen Frauen (und Männern!), mit normalen Familien. Aber es wird noch schlimmer: Mittlerweile spülen die Kollegen in manchen Kliniken ihre Masken ab, obwohl sie Einmalmaterial sind. Das Robert Koch Institut gab zwar die Möglichkeit, nach Säuberung Einmalmaterial mehrfach benutzen zu können, aber die Kliniken sprechen von Wochen. Wochen, in denen sich verschiedene Kollegen gebrauchte Masken teilen sollen. Das wird alles einfach angeordnet. Pflege ist Verfügungsmasse geworden. Und immer weniger wollen über sich verfügen lassen. Seit Anbeginn der BRD holt Pflege die Kohlen für die Menschen aus dem Feuer, aber sie darf nicht mitentscheiden, wie. Die Beispiele sind mannigfaltig.

Wo hakt es noch?

Selbst jetzt, in Coronazeiten, sehen Sie nicht eine Pflegekraft in den Fernsehsendungen. Während es in Amerika Gang und Gäbe ist, dass Pflege Pressekonferenzen hält und sichtbar ist, wird der überwiegend weiblich konnotierte Beruf hier leise gehalten . Der #respectnurses machte klar, dass Pflegende für die Waschlappen und Essensschubsen der Nation gehalten werden, die man auch sexuell angreifen darf. Bis wir in der #metoo-Debatte über Pflege geredet haben, musste ich tatsächlich erst einen Blog schreiben und ins Fernsehen gehen. So internalisiert ist die Gewalt schon, dass nicht mal die Berufsverbände darauf kamen, das ginge die Pflegenden etwas an. Aber gleichzeitig sollen sie Übermenschliches leisten. Am Ende gibt es dann als Dank warme Worte und Merci. Das ist günstiger, als systemrelevante Profis ernsthaft zu bezahlen und daran zu arbeiten, dass diese Form von Pflege so nicht weiter bestehen kann. Seit Jahren werden Pflegende krank. Der DAK-Gesundheitsreport geht von 25 Prozent psychisch Kranker in der Pflege aus. Ab da darf man es dann wohl strukturelle Gewalt nennen.

Auf Ihrem Blog mypflegephilosophie.com haben Sie viel zum Coronavirus geschrieben. Mein Eindruck ist: Sie sind wütend. Auf die Politik, aber auch auf so manchen Mitbürger. Welche gravierenden Fehler sehen Sie auf politischer Seite?

Ich bin über das Stadium einer reflektierenden Wut weit hinaus. Allerdings habe ich, bedingt durch mein Studium, nun eine andere Perspektive auf die Struktur, auf die Historie und auf sozio-kulturelle Musterbeispiele, die Pflege berühren. Diese Standpunkte kleide ich in klare Worte. Ich sage das, was wehtut. Das gefällt nicht jedem, mancher hat solche Worte noch nie gehört. Schon gar nicht von einer Frau. Das größte Problem ist, dass Pflege ein scheinbarer Kostenfaktor ohne wirtschaftlichen Nutzen geworden ist, so sagt man. Aber Pflege, wie ich sie noch kennenlernte, wandte Schaden vom Patienten ab, verhütete Gelenkfehlstellungen und Lungenentzündungen, mobilisierte und sorgte dafür, dass ein sekundärer Schaden erst gar nicht aufkam. Fakt ist, das ein gut mobilisierter, sicherer Patient mit seiner Situation besser umgehen kann und weniger Folgekosten nach sich zieht. Pflege soll Gesundheitskompetenz stärken. Das fehlt jetzt. Es fehlen Konzepte, aber auch die Möglichkeit, jetzt direkt mit den Menschen zu kommunizieren, wie es in Amerika über das Fernsehen möglich ist. Wir waren einfach nicht Bestandteil der Pandemieplanung, so scheint es. Auch Pandemieschulungen fehlen uns völlig. Blicken wir auch da nach Amerika, werden diese Schulungen durchgeführt und der oberste Grundsatz ist dort: Die oberste Priorität hat der Schutz des Personals. Und wir rasen da einfach mit den Kollegen in eine Situation, die für sie lebensbedrohlich werden kann, als seien sie nichts wert. Das ist zutiefst unethisch und unmoralisch. Kein Leben kann doch weniger Wert haben als ein anderes. Dann ist da noch das deutliche Ungleichgewicht zwischen den Berufsgruppen, das jetzt sichtbar wird. So bietet Niedersachsen einem Arzt pro Stunde 200 Euro an, Pflege lediglich 30 Euro. Dabei leistet Pflege die Hauptarbeit in dieser gefährlichen Versorgung. Das kann nicht fair sein.

Aber um auf Ihre Frage zu kommen: Die Fehler der Politik fangen nicht erst jetzt im Umgang mit der Virussituation an. Wenn wir von Fehlern sprechen wollen, müssen wir früher ansetzen.

Wo denn?

Wenn wir die berufliche Entwicklung seitens der Politik historisch betrachten, fällt ins Auge, dass es immer wieder Ansätze, Maßnahmen und Studien gab, die Pflege professionalisieren sollten. Sobald man aber herausfand, dass sie Geld kosten, wirkungsvoll wären oder gar die Pflege befähigt hätten, brach man sie sofort ab! Da wurde Geld für Maßnahmen, die den Beruf professionalisiert hätten, investiert, das dann ganz schnell in Schubladen verschwand. Die Quasi-Schwester Stephanie, die Berufsfremde unbedingt in Pflege sehen wollen, darf nicht sterben. Das ist übrigens ein geflügeltes Wort bei uns (Schwester Stephanie darf nicht sterben). Das geht vom Akademisierungsunwillen seit 1945 bis hin zu den deprofessionalisierenden Maßnahmen jetzt. Überall wird Pflege studiert. Weil das notwendig ist. Nur in Deutschland soll das eine freiwillige Angelegenheit bleiben. Nehmen wir die Umsetzung der Modelle. Da gab 1992 die Bundesregierung eine Studie in Auftrag, nach der nun ganz Deutschland pflegt (Krohwinkel). Es gibt nationale Standards, die danach ausgerichtet sind. Das sollte Pflege und Gepflegte in einen Prozess der Pflege bringen. Endlich sagten Pflegende, was nötig war. Und dann? Wurde das ganz schnell durch die Einführung der Pflegeversicherung wieder zeitlich getaktet und pervertiert. Pflege ist Beziehungsarbeit, ist Zusammenarbeit. Diese Beziehung wird nun an Hilfskräfte und Roboter ausgelagert. Die Maßnahmen, die in einer Hand liegen sollten, werden nicht gelebt, sondern sind nur noch zum dokumentarischen Abhaken da. Die Politik hat an diesem Punkt Pflege zerstört und deformiert. Das ist es, was Tausende aus dem Beruf treibt. Pflege? Da hat jeder schonmal von gehört, da kann er etwas zu sagen. Nur die Profis selbst kommen nicht zu Wort. Es ist nicht nur so, dass ich den Finger in die Wunde lege, die Lösungen sind aber die Aspekte, nach denen mich niemand fragt. Ich hatte einmal ein Gespräch mit dem damaligen Bundesgesundheitsminister Gröhe, dem ich vieles von dem vorschlug, was jetzt fehlt. Kinderbetreuung zum Beispiel. Modelle für alte Arbeitnehmer und Alleinerziehende. Alle die, die jetzt fehlen. Die Lösungen möchte niemand hören. Schon gar nicht die strukturellen. Deshalb liegt mein Fokus im Blog erstmal auf Problemen, die niemand ausspricht.

Sie schreiben auf Ihrem Blog von Desinfektionsbehältern, die in Pflegeeinrichtungen und Kliniken von der Wand gerissen wurden.

Das ist absurd. Da wurden auf Kinderkrebsstationen Desinfektionsmittel geklaut. Die leukämiekranken Kinder waren diesen Egoisten völlig egal. Das Stehlen von Desinfektionsmitteln war für mich symptomatisch. Klinik ist ein Selbstbedienungsladen der Gesellschaft, sowohl was Material, als auch was human ressources angeht. Die Gesellschaft bestiehlt sich selbst und wähnt sich im Recht.

Dabei ist es nicht mal notwendig, sich die Hände zu desinfizieren, oder?

Im Beruf ist es ein Muss. Draußen reicht Seife.

Hände waschen reicht also gegen das Coronavirus vollkommen aus?

Hände waschen, Sozialkontakte vermeiden, wissen, wie man, wenn Menschen um einen sind, richtig niest, hustet. Das ist das, was wir jetzt tun können.

Tauschen Sie sich derzeit mit anderen Pflegekräften über das Coronavirus aus? Was erfahren Sie?

Es geht drunter und drüber. Wie gerade jetzt mit den Kollegen verfahren wird, macht alle sauer. Jahrelang ignoriert man sie, und nun sollen sie sich bereit machen, das Land zu retten. Dabei wird selbst Leuten in Callcentern zum Coronavirus mehr Gehalt gezahlt als so manchem Pflegenden. (Mindestlohn 15 Euro für Ausgebildete, im Callcenter gibt es 16 Euro und noch etwas mehr)

Nochmal zur Pflege: Dass Pflegekräfte oftmals einen schweren Stand haben, ist bekannt. Aber hängt das auch damit zusammen, dass viele nicht erkennen: Sie halten auch eine gewisse Macht in Ihrer Hand? Ich denke dabei an die Geschichte, die Sie auf Ihrem Blog erzählen. Eine ganze Station hat da gekündigt. Was hat sich dort zugetragen?

Die Überlastung wurde für das Team so groß, dass es geschlossen zu einem Betreiber gewechselt hat, der bessere Konditionen bot. Das war ein außergewöhnlicher Fall, der offenbar die Politik erschreckte. Dass der Einzelne keine Dinge in der Hand hat, sieht man am Beispiel der ausgebüxten Station sehr schön. Erst, als alle mitmachten, ging es. Der Einzelne konnte nichts ausrichten. Dabei sprechen für Pflegende zumeist Ärzte. Ich nenne das Silencing. Andererseits wird seit Jahren betont, alles regele der Markt. Nun regelt es der Markt, die Leute gehen in die Leiharbeit, weil auch diese in dem Fall bessere Konditionen bietet: und schon wird diese Marktregelung verboten. Das ist absurd. Es scheint keinen Ausweg zu geben. Dazu kommt noch die schlechtere Ausbildung als in anderen Ländern. Die Art der Ausbildung hier in Deutschland führt letztlich dazu, dass Pflege sozusagen national eingesperrt wird. Ohne Nachschulungen können Sie außerhalb Deutschlands oft höchstens als Pflegehelfer arbeiten. Die Schweiz bietet das an.

Auch wenn das vielleicht eine besondere Konstellation war, sprich: Man kannte sich schon sehr lange, hatte vielleicht auch etwas Glück, dass eine andere Klinik Interesse an der Arbeitskraft hatte, aber lässt sich da vielleicht doch auch etwas Allgemeines für die Pfleger und Pflegerinnen rausziehen?

Es ist ein Modell, dem man folgen kann, wenn auf einer Station sich das Personal einig ist. Das ist aber auf den meisten Stationen nicht so. Die Belastung führt zu psychischen Erkrankungen, zu Burnout und Verzweiflung. Für eine solche Aktion brauchen Sie Kraft.

Titelbild: Chaikom/shutterstock.com