Coronakrise: Regelsätze sofort um 100 Euro erhöhen

Coronakrise: Regelsätze sofort um 100 Euro erhöhen

Coronakrise: Regelsätze sofort um 100 Euro erhöhen

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Wie betrachtet der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes die Coronakrise? Im NachDenkSeiten-Interview wird deutlich, dass Ulrich Schneider sowohl große Not als auch Chancen sieht. „Wir müssen ganz dringend den zigtausend Obdachlosen helfen“, so Schneider. Die Schließung der Übernachtungsräume treffe die Ärmsten hart. Die gelockerten Regeln bei Hartz IV sieht Schneider positiv und betont, dass nun deutlich werde, wie unnötig die harten Regeln seien. „Ich freue mich bereits auf die Nach-Corona-Diskussionen zu Hartz IV“, sagt Schneider. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Schneider, es ist kein Geheimnis: In Krisenzeiten trifft es die Armen in aller Regel besonders hart. Nun haben wir eine enorme Krise. Was bedeutet das für Menschen, die etwa auf Hartz IV angewiesen sind?

Es mag erstaunen, aber erst mal bedeutet es, dass vorläufig keine Sanktionen mehr verhängt werden und auch keine Einbestellungen mehr in die Jobcenter geschehen, dass keine Kürzungen mehr bei Wohnkosten vorgenommen werden, weil diese angeblich zu groß seien, dass Wohnungen bei Mietrückständen nicht mehr gekündigt werden dürfen oder dass bei der Beantragung von Hartz IV die Vermögenprüfung ausgesetzt wird. Mit anderen Worten, die Coronakrise zwingt Politik und Bundesagentur zur Vernunft. Wir bekommen Präzedenzfälle in Sachen schneller und bürgerfreundlicher Verwaltung, die nach der Coronakrise nicht mehr ohne Weiteres einfach einkassiert werden können. Wir bekommen einen echten Feldversuch, der zeigen wird, dass auch ohne Sanktionen und Drangsalierungen von Hartz-IV-Beziehenden – etwa in der Wohnungsfrage – unser Sozialstaat nicht nur funktioniert, sondern ein besserer ist. Ich freue mich bereits auf die Nach-Corona-Diskussionen zu Hartz IV.

Aber viele Tafeln und Suppenküchen sind geschlossen, weitere werden vermutlich schließen. Der Spielraum für die Ärmsten wird noch enger.

Die Regelsätze in Hartz IV und der Altersgrundsicherung sind so kleingerechnet, dass man mit ihnen nicht anständig über den Monat kommt. Es sind Armutssätze. Die Tafeln haben sich, ebenso wie kostenlose Verpflegung in Schulen und Kitas, vor diesem Hintergrund für viele längst zum notwendigen Baustein der Grundversorgung entwickelt. Es geht, auch wenn es keiner hören will, um Armenspeisung. Wenn diese nun wegbricht, wirft das Menschen tatsächlich in existenzielle Krisen.

Zeigt sich gerade in dieser Krise das Ausmaß einer verfehlten Sozialpolitik, wie sie von verschiedenen Bundesregierungen seit langem praktiziert wird?

Es zeigt sich vor allem das Scheitern des Neoliberalismus als Grundlage dieser Sozial-, aber auch der Wohnungs- oder Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte. Obdachlose stehen plötzlich gänzlich auf der Straße, weil Notübernachtungseinrichtungen schließen müssen, die die unzulängliche Wohnungspolitik bisher faktisch mit zu kaschieren halfen. Operationen in Kliniken müssen aufgeschoben werden, weil keine Vorhaltekapazitäten vorhanden sind, um sich zugleich auf eine steigende Zahl von Corona-Patienten einstellen zu können, der Pflegenotstand bricht mit aller Wucht auf. Hinter all dem steht eine Politik, die Jahrzehnte dem neoliberalen Mantra des schlanken Staates, des Wettbewerbes, des freien Marktes und der Gewinnorientierung in fast allen Bereichen frönte. Der Neoliberalismus, das zeigt sich in dieser Krise, ist nicht in der Lage, auch nur ein einziges unserer Probleme zu lösen. Er verursacht oder verstärkt sie stattdessen.

Was müsste jetzt geschehen?

Die Bundesregierung hat ja in dieser Woche bereits viel Vernünftiges in sehr kurzer Zeit auf den Weg gebracht. Das brauche ich hier nicht alles noch einmal zu referieren. Was die Armen anbelangt, müssen nach Einschätzung des Paritätischen die Regelsätze sofort um 100 Euro pro Monat und Haushaltsmitglied erhöht werden, um insbesondere die Ernährung sicherzustellen. Zusätzlich fordern wir eine sofortige Einmalzahlung von 200 Euro für coronakrisenbedingte Mehraufwendungen, wie etwa für Arzneimittel oder auch nur erhöhte Kommunikations- oder Energiekosten.

Armutspolitisch wäre auch die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes sehr wichtig und eine soziale Absicherung für pflegende Angehörige, die zu Hause bleiben müssen, weil der Pflegedienst nicht mehr kommt oder die 24-Stunden-Betreuung ausfällt.

Was sollte noch getan werden?

Wir müssen ganz dringend den zigtausend Obdachlosen helfen. Dass gerade Übernachtungsräume schließen, ist eine Katastrophe. Wir können diese Ärmsten unter uns nicht einfach ihrem Schicksal auf der Straße überlassen. Wir haben noch Nachtfrost! Die Übernachtungsräume müssen, wenn es nur irgendwie geht, offengehalten werden, weitere Übernachtungsmöglichkeiten sind zu akquirieren, um Platz zu gewinnen und die Hygiene zu verbessern. Sie werden ja vielfach wegen der Ansteckungsgefahr geschlossen und weil die Ehrenamtlichen, die sich dort engagieren, ebenfalls zu Risikogruppen gehören. Wir müssen deshalb jetzt gerade unter den jungen Menschen Ehrenamtliche gewinnen, die sich hier engagieren, gerade auch unter den Absolventen eines Freiwilligen sozialen Jahres oder des Bundesfreiwilligendienstes. Voraussetzung wäre allerdings eine adäquate Ausstattung mit Schutzmasken.

Titelbild: Screencapture YouTube/Linksfraktion

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