Das Fanal von Bandung

Das Fanal von Bandung

Das Fanal von Bandung

Rainer Werning
Ein Artikel von Rainer Werning

Heute vor 65 Jahren, am 24. April 1955, endete in der indonesischen Stadt Bandung die erste große Afro-Asiatische Konferenz im Geiste des Antikolonialismus, Antiimperialismus und Antirassismus. Während des Kalten Krieges wurden in Bandung auch die künftigen politischen Grundlinien der „Dritten Welt“ und von „Blockfreiheit“ entworfen. Von Rainer Werning.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Südost- und Ostasien sowie im Pazifik hinterließ Trümmerlandschaften gigantischen Ausmaßes. Der Hauptaggressor in diesem Teil der Erde war das militaristische Japan, das sich in Allianz mit dem faschistischen Italien unter Mussolini und Nazideutschland unter Hitler angeschickt hatte, eine neue hegemoniale Weltordnung zu schaffen, die mit Blick auf die genannten Regionen eine „Größere Ostasiatische Gemeinsame Wohlstandsphäre“ begründen sollte. Dieser vom Generalstab und Außenministerium in Tokio entworfene Plan schrieb Japan die Rolle der Führungsmacht zu im Kampf der asiatischen Völker gegen den verhassten „weißen Imperialismus“ und „westlichen Kolonialismus“. Wenngleich dieser Plan schließlich durch die Alliierten zunichte gemacht wurde, ward bei Kriegsende unter zahlreichen asiatischen Völkern der Nimbus der Unbesiegbarkeit „des Westens“ erschüttert. Vor allem für das britische Empire bedeutete es eine herbe Schlappe, dass seine für uneinnehmbar gehaltene Festung Singapur sowie seine Kolonien Malaya (heute: Malaysia), Birma/Burma (heute: Myanmar) und Hongkong handstreichartig von japanischen Truppen eingenommen und okkupiert worden waren.

Post-koloniale Weichenstellungen

Binnen eines Jahrzehnts nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte vor allem in Südost- und Südasien die erste Welle erfolgreicher Unabhängigkeitsbestrebungen ein. Den Anfang machte Niederländisch-Indien beziehungsweise Indonesien, das seine Unabhängigkeit als Republik am 17. August 1945 proklamierte, wenngleich Den Haag diese erst im Dezember 1949 endgültig anerkannte. Zwischenzeitlich fand ein erbitterter Guerillakrieg statt, den die niederländischen Truppen mit euphemistisch sogenannten politionele acties („Polizeiaktionen“) zu beenden trachteten. Es folgte Vietnam, wo Ho Chi Minh am 2. September 1945 die unabhängige Demokratische Republik Vietnam (DRV) im Norden des Landes ausrief. Am 4. Juli 1946 wurde in der philippinischen Metropole Manila das Sternenbanner eingeholt; damit endete die 48-jährige US-Kolonialzeit. Indien und Pakistan proklamierten ihre Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich am 15. beziehungsweise 14. August 1947, ein Schritt, dem Birma/Burma am 4. Januar sowie Ceylon (heute: Sri Lanka) am 4. Februar 1948 folgten. 1953 erhielten Laos und Kambodscha unter königlichen Regierungen die Unabhängigkeit, wenngleich sie Teil der Französischen Union blieben. Im selben Jahr endete der dreijährige Koreakrieg, der erste „heiße“ Konflikt in der Ära des Kalten Krieges. Als Bürgerkrieg begonnen, war er zu einem internationalen Konflikt eskaliert, der die Welt bedrohlich nahe am Abgrund eines 3. Weltkriegs sah und die West-Ost-Blockkonfrontation zementierte.

Als die Kolonialmacht Frankreich im Jahre 1954 eine vernichtende Niederlage im vietnamesischen Dien Bien Phu erlitt, führte die im selben Jahr organisierte Genfer Konferenz zur Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrads mit der DRV im Norden und dem von Washington protegierten Regime eines Ngo Dinh Diem im Süden. Die Genfer Abkommen zur Beilegung des ersten Indochinakriegs, die schließlich dazu führen sollten, dass sich eine „westliche“ Kolonialmacht, die USA, anschickten, eine andere, nämlich Frankreich, zu beerben und in deren Fußstapfen zu treten, stießen seitens zahlreicher asiatischer Regierungen, vor allem seitens des indischen Premierministers Jawaharlal Nehru, auf scharfe Kritik.

Es waren die ehemaligen südasiatischen Kolonien des britischen Empire Indien, Pakistan, Ceylon und Burma, die gemeinsam mit Indonesien eigene Vorstellungen einer neuen Weltordnung entwickelten und zu diesem Zweck zwei Vorbereitungstreffen mit Blick auf die Bandung-Konferenz ausrichteten. Dem ersten Treffen in Ceylons Hauptstadt Colombo im Sommer 1954 folgte Ende Dezember desselben Jahres ein weiteres in der indonesischen Stadt Bogor. Dort wurde vereinbart, die Pancha Sila, die fünf Prinzipien der Koexistenz – gegenseitiger Respekt für die territoriale Integrität und Souveränität des jeweils anderen; gegenseitige Nicht-Aggression; gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen; Gleichheit und gegenseitiger Nutzen und friedliche Koexistenz – als Grundlage für die künftige bilaterale Zusammenarbeit anzuerkennen und als Austragungsort der avisierten ersten großen internationalen Konferenz Bandung vorzusehen. Dies verstärkte einerseits die indo-chinesische Kooperation und erleichterte es andererseits Delegationen, nicht unbedingt Stellung zu kontroversen Fragen (beispielsweise zum Ausgang des Koreakriegs) beziehen zu müssen.

Noch im selben Jahr (1954) hatte der „Westen“ unter Federführung der USA versucht, einen Keil zwischen die späteren Konferenzteilnehmer in Bandung zu treiben, indem sie versuchten, sowohl Indonesien als auch Indien als SEATO-Mitglieder zu gewinnen. Diese Südostasiatische Paktorganisation – alternierend auch Manila-Pakt genannt – war am 8. September 1954 in der philippinischen Hauptstadt aus der Taufe gehoben worden. Zu ihren Gründungsmitgliedern zählten neben den USA die Philippinen, Australien, Neuseeland, Frankreich, Großbritannien und Thailand. Explizit verstand sich die SEATO als ostasiatisch-pazifisches Pendant zur NATO sowie als Cordon sanitaire gegen das „Bollwerk des Kommunismus“ (die Sowjetunion und die seit dem 1. Oktober 1949 bestehende Volksrepublik China). Gleichzeitig sollte diese stramm antikommunistisch ausgerichtete Allianz den USA in ihrem Aggressionskrieg gegen die Völker Vietnams, Kambodschas und Laos‘ logistisch, politisch und ideologisch Rückendeckung bieten. Kein Wunder, dass dieses überflüssige, zutiefst unpopuläre und unrühmliche Bündnis ebenso unrühmlich im Sommer 1977, zwei Jahre nach dem Debakel der „westlichen Führungsmacht“ in Vietnam, zu existieren aufhörte.

29 Konferenzteilnehmer

Am 18. April 1955 eröffnete der indonesische Präsident Sukarno schließlich die asiatisch-afrikanische Konferenz in Bandung – ausgerechnet im früheren niederländischen Club Concordia, der zuvor in Gedung Merdeka (Haus der Freiheit) umbenannt ward. Die insgesamt 29 Teilnehmer der Konferenz kamen – in alphabetischer Reihenfolge – aus:

Afghanistan, Ägypten, Äthiopien, Birma/Burma, Ceylon, Volksrepublik China, Goldküste (heute: Ghana), Indien, Indonesien, Iran, Irak, Japan, Jemen, Jordanien, Kambodscha, Laos, Libanon, Liberia, Libyen, Nepal, Pakistan, Philippinen, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Thailand, Türkei, Nordvietnam und Südvietnam.

Daneben waren auch Beobachter mehrerer nationaler Befreiungsbewegungen zugegen. Nebst Gastgeber Sukarno weilten in Bandung auch solche damaligen Politgrößen wie Premier- und Außenminister Zhou Enlai (VR China), Indiens Premierminister Jawaharlal Nehru, Premierminister Mohammed Ali von Pakistan, Burmas Premierminister U Nu sowie Sir John Lionel Kotelawala aus Ceylon, dem dritten Premierminister seines Landes.

Das alles überragende Thema dieser einwöchigen Konferenz war die Neubestimmung internationaler Beziehungen auf der Basis von Selbstbestimmung, nationaler Unabhängigkeit und die angemessene Repräsentanz der vertretenen Länder in den Vereinten Nationen. Diese waren in jener Zeit ein hauptsächlich von den USA und ihren westlichen Verbündeten kontrolliertes Gremium, in dem sich zahlreiche andere Länder im Geiste des Antikommunismus diesen verpflichtet fühlten und sich entsprechend loyal bei (vor allem kontroversen) Abstimmungen verhielten.

„Koloniales Erbe“, „kollektive Erfahrung kolonialer Unterdrückung“, Imperialismus und Rassismus, Süd-Süd-Dialog, „Blockfreiheit” sowie „Dritte Welt“ lieferten Stichworte, über die intensiv und auch kontrovers diskutiert wurde. Vor allem mit dem Begriff „Dritte Welt“, den erstmalig der französische Demograph Alfred Sauvy in seinem Artikel „Trois mondes, une planète“ im L’Observateur vom 14. August 1952 benutzt hatte, wurden fortan all jene Länder bezeichnet, die zwar die Mehrheit der Weltbevölkerung bildeten, aber in der Weltpolitik rechtlos waren, und die gleichzeitig keinem der beiden Machtblöcke des Kalten Krieges angehörten.

Während der gesamten Konferenz galt es, die divergierenden Interessen großer und kleiner Länder mit jeweils unterschiedlichen Regierungsformen unter einen Hut zu bringen und dissensträchtige Themen tunlichst außen vor zu lassen. Japan beispielsweise hatte es besonders schwer, eine überzeugende und glaubwürdige Position im Kontext der neu avisierten internationalen und regionalen Beziehungen zu beziehen. Tokio war stark auf die Politik der USA fixiert und avancierte nach 1952 zum engsten Regionalverbündeten der Vereinigten Staaten. Zhou Enlai vertrat einen von der Sowjetunion, ebenfalls einem Nicht-Teilnehmer der Konferenz, unabhängigen Sozialismus, während Nehru für Liberalismus, Nationalismus und Gewaltlosigkeit plädierte und die aufstrebenden Führer in zahlreichen afrikanischen Ländern auf eine politische Agenda der Entkolonialisierung mit unterschiedlichen Strategien insistierten, unter denen später der Nationalismus und Panafrikanismus am stärksten hervortreten sollten. Die generelle Opposition gegen Kolonialismus, Neokolonialismus oder jede andere imperialistische Politik war die bedeutsamste einvernehmliche Position, die über Widersprüche hinweg konsensual das Engagement für ein neues, besseres Weltsystem mobilisierte.

Einheit in Vielfalt

Am letzten Tag der Konferenz, am 24. April 1955, veröffentlichten die 29 Teilnehmer das von ihnen unterzeichnete Final Communiqué of the Asian-African Conference und skizzierten anschließend ihre gemeinsame Position zu Fragen wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit, zu Menschenrechten und Selbstbestimmung, zu Problemen abhängiger Völker, zu anderen Themen sowie schließlich zur Förderung des Weltfriedens und der Zusammenarbeit. Letztere wurde sodann trotz kultureller, ideologischer, historischer und politischer Differenzen zwischen den Delegierten noch eigens in folgender zehn Punkte umfassenden „Erklärung zur Förderung des Weltfriedens und der Zusammenarbeit“ verabschiedet:

  1. Achtung der grundlegenden Menschenrechte und der Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen;
  2. Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität aller Nationen;
  3. Anerkennung der Gleichheit aller Rassen und der Gleichheit aller großen und kleinen Nationen;
  4. Verzicht auf jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes;
  5. Achtung des Rechts jeder Nation, sich allein oder gemeinsam zu verteidigen, in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen;
  6. (a) Verzicht auf den Einsatz von Vorkehrungen zur kollektiven Verteidigung, um bestimmten Interessen einer Großmacht zu dienen; (b) Verzicht eines Landes auf die Ausübung von Druck auf andere Länder;
  7. Verzicht auf Handlungen oder Androhung von Aggressionen oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Landes;
  8. Beilegung aller internationalen Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln wie Verhandlungen, Schlichtung, Schieds- oder Gerichtsverfahren sowie mit anderen friedlichen Mitteln nach eigener Wahl der Parteien im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen;
  9. Förderung der gegenseitigen Interessen und der Zusammenarbeit;
  10. Achtung von Gerechtigkeit und internationalen Verpflichtungen.

Die Konferenz“, resümiert der Leipziger Historiker Jürgen Dinkel (2019), „war ein Produkt und Kristallisationspunkt globaler Transformationen der vierziger und fünfziger Jahre und zugleich ein kraftvoller Impuls zur Beseitigung der alten kolonialen Ordnung und für das postkoloniale state-building. Innerhalb der postkolonialen Welt trug das Treffen zur Herrschaftsstabilisierung der neuen Regierungen und zu deren Legitimierung bei. Die Konferenzteilnehmer gewannen an Profil, was zugleich dazu führte, dass es trotz des großen Erfolges der Konferenz und trotz mehrerer Versuche, diese zu wiederholen, zu keiner zweiten Bandung-Konferenz kam. Denn in dem Maße, in dem die Teilnehmer sich ihrer Anerkennung als souveräne Regierungen sicher sein konnten und in dem sich die europäischen Kolonialreiche auflösten, schwand auf internationaler Ebene ihre Kompromissbereitschaft. Unterschiedliche nationalstaatliche Interessen, regionale Divergenzen und unterschiedliche Positionierungen der Bandung-Staaten im Ost-West-Konflikt verhinderten eine weitere Asiatisch-Afrikanische Konferenz, weshalb diese auf institutioneller Ebene einmalig blieb.

Immerhin konnten andere Formen und Fora entwickelt werden – wie beispielsweise die Ende Dezember 1957 in Ägyptens Hauptstadt Kairo gegründete Afro-Asian Peoples’ Solidarity Organization –, während ab 1960 die zweite Welle erfolgreicher Unabhängigkeitsbestrebungen (diesmal vor allem auf dem afrikanischen Kontinent) erfolgte. Nach der offiziellen Gründung der Bewegung der Blockfreien Staaten 1961 in Belgrad, als deren Gastgeber Jugoslawiens Ministerpräsident Josip Broz Tito fungierte und die ebenfalls ein Resultat der Bandunger Konferenz war, war die „Dritte Welt“ aufs Engste mit eben dieser Bewegung verknüpft.

Postscript 1: Die USA mieden auf Drängen von Außenminister John Foster Dulles die Konferenz und waren auch nicht offiziell vertreten. Den exponierten Aktivisten der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, W. E. B. Du Bois und seinem Schüler Paul Robeson, verweigerten die US-Behörden die Reise nach Indonesien. Der afroamerikanische Schriftsteller Richard Wright hingegen vermochte mit finanzieller Unterstützung des Congress for Cultural Freedom an der Konferenz in Bandung teilzunehmen. Wright verbrachte etwa drei Wochen in Indonesien, widmete sich eine Woche der Konferenzteilnahme und den Rest seiner Zeit der Interaktion mit indonesischen Künstlern und Intellektuellen. Ihm ist das überaus lesenswerte Buch The Color Curtain zu verdanken, das bereits ein Jahr nach der Konferenz in New York erschien.

Postscript 2: Just eine Dekade nach seiner Gastgeberschaft der Konferenz von Bandung endete die politische Karriere von Sukarno Ende September 1965. Sein „Makel“ bestand u.a. darin, dass er sich außenpolitisch zu sehr der VR China angenähert hatte, was so gar nicht nach dem Gusto der vornehmlich im Westen ausgebildeten Generalität (darunter zahlreiche in Hamburg-Blankenese und Hangelar bei Bonn) war. Im Herbst 1965 putschten sich in wohl orchestrierten Schritten Suharto und gleichgesinnte Kumpane an die Macht, enthoben Sukarno all seiner Machtbefugnisse und entfesselten eine beispiellose Hatz gegen alle, die aus ihrer Sicht mit der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI) liebäugelten – der seinerzeit immerhin weltweit drittgrößten KP.

Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen dieses Massakers im Namen von „freedom & democracy“ werden auf diesen Seiten im Herbst en detail nachzulesen sein (RW).

Titelbild: © Foreign Ministry of the Republic of Indonesia

Quellen & Literaturhinweise

  • Jürgen Dinkel (2019): Das Abschluss-Communiqué der Asiatisch-Afrikanischen Konferenz in Bandung (1955), in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, hg. v. Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, März 2019, URL: geschichte-menschenrechte.de/bandung-konferenz
  • Luis Eslava, Michael Fakhri, Vasuki Nesiah (Eds. – 2017): Bandung, Global History, and International Law. Critical Pasts and Pending Futures. Cambridge
  • Marc Frey (2006): Dekolonisierung in Südostasien. Die Vereinigten Staaten und die Auflösung der europäischen Kolonialreiche. München
  • Christopher James Lee (Ed. – 2010): Making a World after Empire. The Bandung Moment and its Political Afterlives. Athens/Ohio
  • James A. C. Mackie (2005): Bandung 1955. Non-Alignment and Afro-Asian Solidarity. Singapur
  • Richard Wright (1956): The Color Curtain: A Report on the Bandung Conference. New York