Was jetzt auf dem Spiel steht

Was jetzt auf dem Spiel steht

Was jetzt auf dem Spiel steht

Udo Brandes
Ein Artikel von Udo Brandes

Michail Gorbatschow, der Politiker, dem wir das Ende des Kalten Krieges verdanken, sieht den Weltfrieden in Gefahr. Und meldet sich deshalb mit einem Buch zu Wort. Der Titel: „Was jetzt auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Freiheit“. Unser Rezensent Udo Brandes hat das Buch gelesen. Und ist beeindruckt davon, wie detailliert Gorbatschow noch immer informiert ist und wie treffsicher seine politischen Analysen sind.

Warum lohnt es sich, dieses Buch zu lesen?

Weil wir darin etwas erfahren können, was in den westlichen Medien so gut wie gar nicht mehr stattfindet: Ein Blick auf die internationale Politik aus der Perspektive eines russischen Sozialdemokraten (das ist Gorbatschows Selbstverständnis, und ich meine, es beschreibt zutreffend seine politische Weltanschauung) und russischen Patrioten, der loyal und mit einem realistischen Blick die russische wie internationale Politik analysiert. Dabei fällt auf, dass Gorbatschow offenbar immer noch exzellent informiert ist und sich auch noch mit vielen Detailfragen der internationalen Politik auskennt. Wie er Putin und dessen Politik beschreibt, ist keinesfalls unkritisch oder anbiedernd, aber ein komplett anderes Bild, als wir es aus deutschen Medien kennen. Im Vergleich mit Gorbatschow wirken viele deutsche und westliche Politiker, Journalisten und andere außenpolitische „Denker“, die unser Bild von der internationalen Politik prägen, wie dumpfe Ideologen und Lobbyisten einer imperialistischen Politik. Gorbatschow erscheint mir dagegen als ein aufrichtig um den Frieden und die Demokratie besorgter Politiker, der zudem fürchtet, dass die ökologische Krise ein Leben auf der Erde unmöglich machen könnte. Das ist sein Standort, der seine Perspektive bestimmt, aus der er die Verhältnisse in der Welt analysiert. Dabei liegt meine Betonung auf dem Wort „analysiert“. Wie ich oben schon andeutete, verhalten sich viele westliche Politiker, als ob Russland imperialistische Ziele verfolgte. Ein aktuelles Beispiel dazu: Am Dienstag dieser Woche war der grün-rechte (nämlich neoliberal-rechte) Politiker und Lobbyist Ralf Fücks im Mittagsmagazin des Deutschlandfunks Kultur zu Gast. Er hat ganz klipp und klar Russland zum „Gegner“ Deutschlands erklärt.

Kurze Frage zu diesem Themenkomplex: Wenn man einmal vergleicht, wie viele Länder Russland und die USA jeweils überfallen haben, gegen wie viele Länder beide Länder Krieg geführt haben, wie viele Menschen von den Armeen beider Seiten seit Ende des 2. Weltkriegs getötet wurden, wie viele Regime beide Regierungen jeweils gestürzt haben, wie viele Menschen beide Länder mit Drohnen getötet haben – was glauben Sie, wer hat mehr Tote, Elend und Leid produziert? Vor welchem Land werden die meisten Menschen auf der Welt mehr Angst haben? In beiden Fällen lautet die Antwort ganz eindeutig: USA. Aber ein Blick in die deutsche Presse zeichnet ein völlig anderes Bild.

Wie Gorbatschow die deutsche Presselandschaft bewertet

Ich sagte oben schon: Gorbatschow ist hervorragend informiert über die Lage in der Welt. Er ist auch sehr gut informiert über die deutsche Presselandschaft. Die deutsche Medienlandschaft könnte man nicht treffender beschreiben:

„In Deutschland gibt es hochprofessionelle Medien. Einige namhafte Zeitungen und Zeitschriften trugen wesentlich dazu bei, dass sich Deutschland nach dem Krieg in eine echte Demokratie verwandelt hat. Sie zeichneten sich durch ihr unabhängiges Urteil aus.

Seit einigen Jahren scheint mir die deutsche Presse jedoch wie verwandelt. Wenn Sie einen Beitrag über Russland zur Hand nehmen, werden Sie oft feststellen, dass er von einem Journalisten geschrieben wurde, der wie ein Ankläger auftritt. Themen, die mit Russland zu tun haben, werden nicht selten mit einer generellen Vorwurfshaltung behandelt.

Was ist passiert? Journalisten sind frei, es gibt weder Zensur noch irgendwelche Einschränkungen. Doch nur wenige trauen sich, gegen den Mainstream anzuschreiben. Heute, so wirkt es auf mich, zeigen deutsche Medien keine Sympathien für die Russen, mehr noch, sie wollen gar nicht erst verstehen. Obwohl man genau dies gerade von den Deutschen erwarten sollte.

Dies erscheint mir ein besonderes Phänomen in den deutschen Medien zu sein: Russland und den Russen wird erneut die Rolle des Schreckgespenstes zugewiesen. Aber während sie zur Zeit des Kalten Krieges das Zerrbild des ‚wilden Asiaten’ zeichneten, fast mit einem Dolch zwischen den Zähnen, gehen sie heute einen anderen Weg. Sie greifen nicht nur Russland und die Russen an, sondern auch jene Deutschen – ob Journalisten oder Politiker – die für den Versuch plädieren, Russland zunächst einmal zu verstehen, bevor man ein endgültiges Urteil fällt über das Land. Wer es wagt, öffentlich solche Positionen zu vertreten, dem droht ein Scherbengericht“ (S. 167-168).

Die Charta von Paris – und was aus ihren Prinzipien geworden ist

Gorbatschow bringt viele Beispiele, die belegen, auf welch gutem Weg die Welt Ende der achtziger Jahre und Anfang der neunziger Jahre war. Er erinnert an die Charta von Paris, deren Unterzeichner offiziell die Ära der Konfrontation und Spaltung in Europa für beendet erklärten. Die Charta wurde am 21. November 1990 in Paris von 32 europäischen Ländern sowie den USA und Kanada unterzeichnet. Am Ende der Charta heißt es:

„Wir beschließen Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen Teilnehmerstaaten zu schaffen. (…) Wir werden nicht nur nach wirksamen Wegen suchen, um mögliche Konflikte mit politischen Mitteln zu verhindern, sondern im Einklang mit dem Völkerrecht auch geeignete Mechanismen zur friedlichen Beilegung etwaiger Streitigkeiten festlegen. Dementsprechend verpflichten wir uns, in diesem Bereich nach Formen der Zusammenarbeit zu suchen“ (S. 20).

Gorbatschow führt dann aus, dass einer der Grundsätze des neuen politischen Denkens lautete, dass Sicherheit niemals einseitig zum Nachteil anderer erreicht werden könne. Die Sowjetunion habe ihr Engagement für dieses Prinzip in der Praxis bewiesen. Sie habe die Völker in den osteuropäischen Ländern nicht daran gehindert, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

„Ohne dabei die Rolle der Völker selbst gering zu schätzen, möchte ich hinzufügen: Diese friedliche Revolution und, ganz allgemein, ein neues, demokratisches Europa wären unmöglich gewesen ohne die tiefgreifenden Veränderungen, die in der Sowjetunion ihren Anfang nahmen, ohne Glasnost und Perestoika“ (S. 23).

Ich möchte hinzufügen: Auch der russische Präsident Putin hat immer wieder mit seinen Reden und Initiativen bewiesen, dass er gewillt ist, sich für ein friedliches und kooperatives Europa zu engagieren, insbesondere mit seiner Rede am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag. Leider traf seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit und weiteren Annäherung insbesondere in Deutschland auf taube Ohren, und es setzte ein gegenteiliger Prozess ein.

Der Siegesrausch der westlichen Länder

Wie ist das zu erklären? Gorbatschow sieht es so:

„Die Verpflichtungen aus der Charta von Paris zu ignorieren, das war nur eines der Symptome einer ganz speziellen Krankheit, von der die politische Elite des Westens im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges befallen wurde: Siegesrausch. Was meine ich damit? Vor drei Jahrzehnten hat niemand daran gezweifelt: Das Endes des Kalten Krieges war unser gemeinsamer Sieg. Er kam zustande durch Dialog und Verhandlungen über die kompliziertesten Probleme der Sicherheit und Abrüstung und indem man bilaterale Beziehungen aufnahm. Ohne all dies hätten der Kalte Krieg und das Wettrüsten noch einige Jahrzehnte andauern können! Und wer weiß, wozu das hätte führen können! Anstatt dies anzuerkennen, erklärte der Westen sich zum Sieger“ (S.24).

Wie Gorbatschow Putin sieht

Gorbatschow verweist darauf, dass man sich für die Bewertung der Politik Putins über etwas klar sein müsse:

„Die russische Gesellschaft steckt noch immer in einer Übergangsphase – von Totalitarismus und Unfreiheit zur Demokratie. Ein solcher Übergang ist nicht einfach“ (S. 141).

Gorbatschows eigene Bemühungen, die Sowjetunion grundlegend zu erneuern, wurden 1991 durch den Putsch gegen ihn vereitelt.

„Noch heute glaube ich, dass die Integrität des Landes hätte gewahrt werden können und dass die neue Union im Interesse aller lag. Aber der Putsch hat meine Position geschwächt. Und die Führung Russlands, der größten Republik der UdSSR, unter Boris Jelzin (der mit massiver amerikanischer Unterstützung ins Amt kam; Anmerkung von UB), entschied sich für die Auflösung der Sowjetunion. Das Land brach auseinander, der Staat kollabierte“ (S. 141).

Dies alles führte bekanntermaßen zu einem politischen und wirtschaftlichen Chaos und einer mafiösen Gesellschaftsstruktur, in der Oligarchen das Land ausraubten und Milliardenvermögen anhäuften. Außenpolitisch wurde Russland enorm geschwächt:

„Viele politische Entscheidungen der westlichen Länder, und vor allem der USA, widersprachen damals Russlands nationalen Interessen, aber wir konnten nichts dagegen tun, auf uns wurde keine Rücksicht genommen. Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt“ (S.142).

Als Präsident habe Wladimir Putin dieses politische und ökonomische Chaos, das sein Vorgänger Boris Jelzin zu verantworten hatte, geerbt. Gorbatschows Schlussfolgerung:

„Unter diesen Umständen war es kaum möglich, mit Demokratie aus dem Lehrbuch die katastrophale Lage zu beenden. Dafür hatte uns die Geschichte einfach nicht genügend Zeit eingeräumt. Der Präsident hatte gar keine andere Wahl, als entschieden und konsequent zu handeln“ (S. 143).

Sein Fazit:

„In jenen Jahren wurde ich oft gefragt, wie ich die autoritären Elemente in der russischen Politik beurteilte. Sie blieben mir nicht verborgen, aber für mich war es undenkbar, die Politik des Präsidenten allein danach zu beurteilen. Man muss die Umstände betrachten, unter denen er handeln musste. Und wenn es das Ziel der Regierung ist, die Voraussetzung zu schaffen, dass eine starke, moderne Demokratie entsteht, bin ich bereit den Präsidenten dabei zu unterstützen. Selbst wenn ich mit einzelnen Entscheidungen nicht einverstanden bin“ (S. 144).

Gorbatschow kritisiert an der russischen Regierung, dass es ihr nicht gelungen sei, die Abhängigkeit der heimischen Wirtschaft vom Rohstoffexport zu beenden. Auch sei es falsch gewesen, die Sozialleistungen für Rentner einzuschränken. Trotzdem gelte:

„Generell kann man aber sagen, dass im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts der Lebensstandard für Millionen von Russen sich deutlich besserte und dies eine Steigerung des Realeinkommens zur Folge hatte. Das wirtschaftliche Chaos der neunziger Jahre war überwunden“ (S. 145).

Meine persönliche Anmerkung zu Präsident Putin: Zum einen hat Gorbatschow recht. Die westlichen Politiker und Kritiker mit ihrer wohlfeilen Kritik lassen völlig außer Acht, welchen objektiven Spielraum Putin hatte und hat. Sie sind also offensichtlich nicht zum Perspektivenwechsel in der Lage, was aber grundlegend ist, um im Sinne von Frieden und Demokratie eine erfolgreiche Außenpolitik zu betreiben. Und zweitens habe ich in meinem Politikstudium gelernt, dass man immer auch die Gegenthese mitdenken muss. Und das heißt in Bezug auf Putin: Wer garantiert denn, dass der Nachfolger Putins zwangsläufig eine prowestliche und demokratische Politik machen wird? Putin ist ein ausgesprochen rational agierender Politiker. Mit ihm kann man verhandeln. Aber was wäre, wenn ein russischer Trump Putin ersetzen würde?

Wie demokratisch ist die Außenpolitik der westlichen Länder?

Gorbatschow hat Zweifel am demokratischen Gehalt der Politik westlicher Länder:

„Ich habe unseren westlichen Partnern, vor allem den amerikanischen Politikern, wiederholt versucht zu erklären, dass Demokratie nicht verordnet werden kann, dass sie nicht wie Kaffee in Säcken durch Länder und Kontinente transportiert und verteilt werden kann, und noch weniger in Panzern.

Es ist an der Zeit, den Zwang zur Demokratie aufzugeben, den Menschen Freiheit zu gewähren, eine eigene Wahl zu treffen, die ihrer Kultur, Mentalität und Tradition entspricht.

Ich muss sagen: Westliche Politiker haben diesen Rat nicht befolgt. Sie nahmen sich das Recht und erklärten es geradezu zu ihrer Mission, Noten für Demokratie zu verteilen, Länder und Völker anzuklagen, vor Gericht zu bringen, zu verurteilen und das Urteil zu vollstrecken.

Was anderes waren die Militäraktionen in Jugoslawien, im Irak und in Lybien? Sie fanden unter jeweils anderen Vorwänden statt, waren aber immer begleitet von demokratischen Parolen“ (S. 131).

Allgemein analysiert Gorbatschow die Lage der Demokratie wie folgt:

„Und wenn wir den Grad an Demokratie in verschiedenen Ländern bewerten, dann sollten wir das nicht nur nach formalen Kriterien tun. Wahlen, Machtwechsel, freie Medien, Menschenrechte sind natürlich die wichtigsten Indizien. Aber sind sie in den Ländern der ‚nachhaltigen Demokratie’ alle vollständig verwirklicht worden? Warum häufen sich massenhafte Zeichen von Unzufriedenheit in der Bevölkerung? Wäre es nicht besser, diesen Problemen Aufmerksamkeit zu schenken?

Schließlich diskreditiert nichts die Demokratie mehr als das Versagen demokratischer Politiker bei der Lösung von Problemen, die die Interessen der eigenen Bevölkerung betreffen.

Wenn aus den jüngsten Fehlschlägen des Westens in der Außenpolitik und bei der Lösung interner Probleme keine Schlussfolgerungen gezogen werden, wenn gewissermaßen keine Demokratisierung der Demokratie eintritt, wird die Attraktivität konkurrierender politischer Modelle für viele Menschen zunehmen. Ich fürchte, wir nähern uns dieser Linie. Sie ist eine gefährliche Grenzlinie“ (S. 131).

Die Sanktionen gegen Russland und Gorbatschows Schlusswort

Gorbatschow betont zum Schluss seines Buches noch einmal, dass westliche Politiker und Medien eine Atmosphäre der Feindseligkeit und Feindschaft erzeugen. Das erklärte Ziel der Sanktionen, die die USA und die EU gegen Russland beschlossen hätten, und die von Deutschland unterstützt würden, sei es, Russland zu bestrafen. Sein Appell an die Deutschen: Sie mögen darüber nachdenken, ob sie das wirklich wollen. Es sei schließlich das russische Volk gewesen, das unvorstellbare Opfer erbracht habe, um die Völker Europas, einschließlich der Deutschen, vom Hitler-Regime zu befreien. Und es seien die Russen gewesen, die vor dreißig Jahren Verständnis dafür bewiesen hätten, dass die Deutschen wieder in einem Land leben wollten. Er betont, dass das probate Mittel für die Überwindung von Meinungsverschiedenheiten nicht Sanktionen seien, sondern Verhandlungen. Auch damals (bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung) schienen die Probleme unüberwindlich. Aber man habe es geschafft. Hätte man seinerzeit versucht, die Schwächen und Fehler des jeweils anderen für sich zu nutzen, anstatt aufeinander zuzugehen, dann „wäre das Brandenburger Tor wahrscheinlich noch heute durch eine Mauer blockiert“ (S. 184). Deshalb ruft Gorbatschow seine Leser auf:

„Denken Sie nach, über die Vergangenheit und die Gegenwart. Bedenken Sie, wohin es uns führen kann, wenn wir den gegenwärtigen Weg der Feindseligkeit fortsetzen. Ich fordere von niemandem, auch nicht von der Presse, auf Kritik zu verzichten. Aber Kritik ist eine Sache, die Wiederbelebung eines Feindbildes eine andere. Wer Nationen gegeneinander aufstachelt, verhält sich wie der Rattenfänger aus dem berühmten Märchen. Heutzutage kann so ein Rattenfänger die ganze Menschheit an einen Punkt führen, von dem es kein Zurück mehr gibt“ (S.185).

Mein Fazit: Hätte Gorbatschow doch noch ein paar Jahre mehr Zeit im Amt gehabt! Die Welt wäre heute vielleicht eine ganz andere. Und: Wir brauchen dringend Politiker vom Format eines Michail Gorbatschow. Das Buch von Gorbatschow kann ich nur wärmstens empfehlen.

Michail Gorbatschow: Was auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Freiheit, Siedler-Verlag, München 2019, gebunden, 186 Seiten, 18,00 Euro.

Titelbild: Kaliva/shutterstock.com

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