Zu den gesellschaftlichen Bedingungen, den Auswirkungen und zum Management der Corona-Pandemie. Von Ludger Elmer.

Zu den gesellschaftlichen Bedingungen, den Auswirkungen und zum Management der Corona-Pandemie. Von Ludger Elmer.

Zu den gesellschaftlichen Bedingungen, den Auswirkungen und zum Management der Corona-Pandemie. Von Ludger Elmer.

Ein Artikel von NDS-Gesprächskreis

Der Autor dieses Textes ist zurzeit Sprecher des NachDenkSeiten-Gesprächskreises München. Er hat uns am 20. Mai die folgende Mail geschickt. Anstoß für diesen Leserbrief war ein Text von Lisa N., den wir am gleichen Tag veröffentlicht hatten. Mit dem Text von Ludger Elmer eröffnen wir eine neue Unterrubrik bei der Rubrik Gesprächskreise. Dort nehmen wir künftig gelegentlich weiterführende Texte unserer Gesprächskreise auf. Albrecht Müller.

Ludger Elmer am 20.5.2020:

Sehr geehrter Herr Müller!

Der Leserbrief von Frau Lisa N. hat mir sehr gefallen. Ja, wir, die Leser, sind in diesen Tagen argumentativ sehr oft im Zweifel, weil wir noch zu wenig wissen. Deshalb sollte unsere Stellungnahme immer nachsichtig sein. Wenn wir es nicht genau wissen, empfinden wir Kontrollverlust, wir können nicht einhellig zustimmen oder ausführlich ablehnen. Das mögen wir nicht. Unter dieser Maxime wollen wir auch ihre Beiträge sehen.

Jede Diskussion über die gesellschaftlichen Bedingungen, die Auswirkungen und das Management der Corona-Pandemie muß sich mit zwei Grundfragen auseinandersetzen:

Ist die Pandemie wirklich und ernsthaft vorhanden oder ist Corona nur eine weitere harmlose Grippewelle?

Bei all dem, was der medizinische Laie und damit auch ein Großteil der Bevölkerung verstanden haben, ist evident, dass Corona eine schwerere Krankheit darstellt als die Grippe. Patienten, die intensiv behandelt worden sind, können erhebliche Folgeschäden erleiden. Häufig ist im Krankheitsverlauf eine Lungenentzündung gegeben. Noch wichtiger erscheint, die Patienten haben, im Unterschied zur Grippe, keine Grundimmunisierung. Sie haben sie erst, wenn sie die Krankheit überstanden haben. Es gibt heute und auf absehbare Zeit, ein bis anderthalb Jahre, keinen Impfstoff und kein Medikament. Kennzeichnend für Corona ist auch, dass es eine Risikogruppe, nicht nur die Älteren, mit Vorerkrankungen gibt, während die Ansteckung mit dem Virus zu geschätzt 50% durch asymptomatisch Erkrankte erfolgt, also durch Menschen, die das Virus schon in sich haben, aber sich nicht krank fühlen und somit auch nicht identifiziert werden. Corona kommt, im Gegensatz zur Grippe, im großen Schub daher und macht vor keinem Land der Welt Halt. In Italien sind u.a. über 100 Ärzte am Virus gestorben.

Mittlerweile gibt es vermehrt Hinweise über die Schwere der Krankheit und über mögliche, nicht absehbare Folgen. Es ist zu wenig über die Krankheit bekannt und gewiss.

Wer nach wie vor von einer normalen Grippe ausgeht, muss die Frage nach möglichen Maßnahmen nicht beantworten. Sie sind für ihn einfach nicht erforderlich, da die Ursache nicht anerkannt ist.

Wenn es sich aber in Wirklichkeit um eine Pandemie mit schwerwiegenden Folgen handelt, dann stellt sich die Frage:

Waren die politisch getroffenen Maßnahmen der Freiheitsbeschränkungen erforderlich und angemessen oder gab es dazu Alternativen?

Viele Länder haben den Weg der Eindämmung mit weitreichenden Folgen für das gesellschaftliche Leben gewählt, um ihre medizinischen Ressourcen nicht zu überlasten und um im Ernstfall intensiv helfen zu können. Sie verhalten sich nach dem Modell “flatten the curve”. Länder, die ursprünglich den anderen Weg gegangen waren, nämlich die sog. Herdenimmunisierung anzustreben, sind zur Eindämmung zurückgekehrt, mit Ausnahme von Schweden.

Was ist nun bislang gelaufen im Krisenmanagement, außer den Punkten, die wir auf Globalisierung, Privatisierung, Sparwut und Austeritätspolitik bei uns und noch schlimmer in Spanien und Italien zurückführen? Wenn so einige sagen, Deutschland käme am besten durch die Krise und gerade die Schwarze Null habe uns die Möglichkeit gegeben, jetzt handeln zu können, dann haben sie nur eingeschränkt recht.

Welche grundsätzlichen Fehler sind gemacht worden?

  1. Das Risikomanagement ist nicht ganzheitlich betrieben worden, die Maßnahmen, die Folgen (der in einem Szenario beschriebenen und daher richtig vorhergesagten Krise) zu mildern, sind nicht ergriffen worden. Das ist einfach unprofessionell gewesen. Wenn schon Privatisierung, dann mit richtiger Regulierung, also der Anweisung, für Personal und Materialien vorzusorgen. (siehe Anlage: Risikoanalyse 2012) Diese Versäumnisse wiegen schwer. Sie sind verantwortlich für viele Tote, weil Helfer und Patienten in den Alten- und Pflegeheimen nicht ausreichend geschützt waren.
  2. Bei der Formulierung des “Shut Downs” hat man wohl zu sehr auf die Virologen gehört. Andere Wissenschaftler (Soziologen, Psychologen, Ökonomen, Pädagogen) hätten dabei sein müssen. Zusätzlich sind zu beachten die Argumente Gesundheit (Schutz vor dem Virus) gegen Gesundheit (soziale Folgen der Kontaktsperre, Vermeidung von medizinisch erforderlichen Operationen, Betreuung von Alten und Kranken). Diese Abwägung hat offensichtlich nicht befriedigend stattgefunden.
  3. Mehrere Maßnahmen sind zu zeitnah beieinander ergriffen worden, so dass man die Wirkung der einzelnen Maßnahmen nicht mehr nachvollziehen konnte. Erst die Schließung von Kitas und Schulen und eine Woche später der “Shut Down”, ohne dass man wußte, ob und wie das erste wirkt. Und wie sich später herausstellte, wurden beiden Maßnahmen eingeleitet, als die täglichen Veränderungen der Infizierten schon rückgängig waren. Die Handelnden konnten das allerdings zum Zeitpunkt der Beschlüsse nicht wissen. Dass der Rückgang der Fallzahlen bei uns verursacht wurde durch unsere Reaktion auf die Bilder in Italien, ist zweifellos eine steile These.
  4. Wenn die Ziele des politischen Handelns nicht mehr transparent und konsistent sind – erst Reduzierung des Verdoppelungszeitraums, dann Senken der Reproduktionsrate unter den Wert von 1, nun tägliche Zunahme der Infizierten, ist es zumindest ein Kommunikationsfehler, der deswegen so schwer wiegt, weil er die Maßnahmen der Einschränkungen im öffentlichen Leben begleitet und den Menschen damit das Warum nicht wirklich erkärt. Zu verstehen und nachzuvollziehen ist dieser Wandel der Kennziffern aber allemal.
  5. Da scheint die Angst als täglicher Begleiter, wenn nicht bewusst geschürt, aber eben doch akzeptiert und willkommen, um das politische Krisenmanagement abzusichern und die Popularitätswerte zu erhöhen.

In der Krise sind Autoritäten gefragt. Wir hätten gerne, dass die Wissenschaftler in der Klimafrage einen so großen Einfluss hätten wie in der Pandemie. Dass Wissenschaftler unterschiedlicher Meinung sind oder ihre Meinung ändern, sollte uns nicht wundern. Auch die Herren Sinn und Bofinger sind Wirtschaftswissenschaftler und selten der gleichen Meinung. Dass die Anstalt plötzlich dem Mainstream vertraut anstatt dem Abweichler Wolfgang Wodarg, sollte uns nicht irritieren. Dass die Interviews von Ken Jebsen sehr absichtsvoll sind – auch er hat seine eigene Agenda – ist nicht wirklich neu. Viele Talkshows bei ARD und ZDF sind allerdings wie sonst selten vom Sachverstand der Experten geprägt. Der Föderalismus gestattet es, unterschiedliche Aspekte herauszustellen. Markus Lanz war schon immer ein insistierender Nachfrager – auch wenn er diesmal mehr wissenschaftlich als neoliberal unterwegs ist. Und sogar die Tagesschau schafft es wieder, auch wenn nicht jeder Beitrag gelungen ist, den Blick auf die Uhr zu richten.

Ungewissheiten

Da es sich um ein neues, bisher nicht bekanntes und erforschtes Virus handelt, muss die Wissenschaft lernen. Wie wird das Virus unter Kindern übertragen? Wie überträgt es sich von Kindern auf Erwachsene? Gibt es nach überstandener Krankheit Immunschutz? Wie lange dauert dieser? Es gibt nicht geklärte, weil nicht stattgefundene, aber ursprünglich erwartete Übertragungen des Virus innerhalb eines Haushaltes.

Wie soll sich die Politik verhalten, wenn noch viele Fragen bestehen? Sie hat sich mit den Lockdown-Maßnahmen auf die sichere Seite begeben. Kann man ihr das vorwerfen?

Viele Menschen sagen, sie möchten diese Krise lieber in Deutschland durchstehen als in so einigen anderen Ländern. Bei all den Fehlern der politisch Handelnden, in diesem Fall möchte ich beipflichten: Merkels Engagement war mir lieber als die Ignoranz der Herren Bolsonaro, Trump oder Johnson.

Was bleibt?

Das Virus und die Krise haben als Katalysator gewirkt: Missstände, die schon so lange vorhanden sind, wurden wiederum offengelegt:

Die überzogene Globalisierung hat unsere Abhängigkeit in Deutschland und Europa bei der Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten und Materialien aufgezeigt. Die Privatisierung und das dadurch geförderte Profitstreben haben notwendige Vorsorgemaßnahmen im Medizinbereich verhindert. Diverse Beschäftigte in den als systemrelevant anerkannten Berufen werden zu schlecht bezahlt und leiden unter den Arbeitsbedingungen, weil Betreuungsquoten in Schulen, Kitas, Krankenhäusern und Pflegeheimen nicht akzeptabel sind. Die Unterbringung von Fremdarbeitern in den deutschen Fleischfabriken ist in vielen Fällen unerträglich – neben Tierhaltungsbedingungen, die dem Tierwohl nicht gerecht werden.

Deutschland ist bisher (!) vergleichbar gut, ausgenommen einige asiatische Tigerstaaten, deren Strenge und Disziplin wir nicht beherrschen, durch die Krise gekommen. Die schwedische Politik war uns am Anfang als moderates Vorbild vorgekommen. Dem ist wohl heute nicht mehr so. Wie geht es weiter? Wir sind noch nicht durch.

Freundliche Grüße!
Ludger Elmer

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