Der Ton zwischen dem Kreml und der russischen Linken wird rau

Der Ton zwischen dem Kreml und der russischen Linken wird rau

Der Ton zwischen dem Kreml und der russischen Linken wird rau

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Der linke Newcomer und ehemalige Diplomat Nikolai Platoschkin bekam wegen eines angeblichen Aufrufs zu Massenunruhen und der Verbreitung „falscher Nachrichten“ zwei Monate Hausarrest. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) hat sich mit ihren Kritikpunkten an der geplanten Verfassungsreform nicht durchsetzen können und empfiehlt deshalb ihren Anhängern bei der landesweiten Abstimmung am 1. Juli mit „Nein“ zu stimmen. Für den Kreml ist diese Entscheidung unangenehm. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass sich die KPRF querstellt. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

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Am 1. Juli 2020 sind die Russen aufgerufen, sich an der Abstimmung über die von der Duma gebilligte Verfassungsreform zu beteiligen. Die Reform schreibt soziale Grundrechte der Russen, die traditionellen Werte wie die Rolle der Familie und die Bedeutung der Religion fest. Die Reform ermöglicht es auch Wladimir Putin, 2024 noch einmal als Präsident zu kandidieren.

Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) hatte zahlreiche Kritikpunkte an der Verfassungsreform eingebracht, konnte sich aber nicht durchsetzen. Unter anderem hatte die Partei gefordert, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Das Präsidium der KPRF hat sich nun entschieden, die Anhänger der Partei aufzurufen, am 1. Juli mit „Nein“ zu stimmen.

Für die Macht ist das schmerzhaft. Zunächst musste die, eigentlich für den 22. April geplante, Abstimmung wegen der Corona-Krise verschoben werden. Und nun stellte sich auch noch Russlands größte Oppositionspartei quer.

Noch keine überwältigende Mehrheit für die Reform

Dabei ist die Verfassungsreform eigentlich schon gelaufen. Die beiden Kammern des russischen Parlaments haben ihr zugestimmt. Eine Mindest-Teilnehmerquote bei der Abstimmung am 1. Juli gibt es nicht. Und doch würde der Kreml gerne sehen, wenn es bei der Abstimmung eine überwältigende Zustimmung zu der Verfassungsreform gibt.

Nach einer Umfrage des Levada-Meinungsforschungsinstituts gibt es bisher keine überwältigende Zustimmung zu der Verfassungsreform. 66 Prozent der Befragten wollen ihre Stimme abgeben. 44 Prozent wollen für, 32 Prozent gegen die Verfassungsreform stimmen.

Dass es für die Verfassungsreform bisher keine überwältigende Mehrheit gibt, hängt wohl auch damit zusammen, dass nicht über einzelne Änderungen, sondern im Paket abgestimmt wird. Man kann also nicht für die sozialen Grundrechte, aber gegen eine weitere Amtszeit von Wladimir Putin stimmen. Die Popularität von Putin ist nach wie vor hoch. Doch manche Bürger fühlen sich durch die Paketlösung entmündigt.

Hausarrest für linken Newcomer

Dass sich der Frieden zwischen dem Kreml und der Linken, den es seit der Ukraine-Krise und den westlichen Sanktionen gegeben hat, jetzt verflüchtigt, zeigt das am 4. Juni vom russischen Ermittlungskomitee eröffnete Strafverfahren gegen den Linkspolitiker Nikolai Platoschkin. In den letzten zwei Jahren hatte Platoschkin sich als äußerst redegewandter und kundiger Politologe in russischen Fernseh- und Radio-Talk-Shows und als Blogger einen Namen gemacht. Sein YouTube-Kanal hat 494.000 Abonnenten.

Das Ermittlungskomitee warf dem Linkspolitiker die „Anstiftung zu Massenunruhen“ und „die Verbreitung falscher Tatsachen“ vor. Belege für diese Behauptungen wurden nicht vorgelegt. Gegen den ehemaligen Diplomaten, der sich in den letzten zwei Jahren zu einer Art linker Newcomer entwickelt hatte, wurde ein Hausarrest bis zum 2. August verhängt.

In den letzten zwei Jahren war Platoschkin in Fernseh- und Radio-Talk-Shows aufgetreten. Doch im Herbst 2019 stieg er in die Politik ein. Im September 2019 kandidierte Platoschkin auf der Liste der KPRF im fernöstlichen Gebiet Chabarowsk bei der Wahl für den Duma-Abgeordneten. Der Linkspolitiker erreichte beachtliche 24 Prozent der Stimmen, landete aber nur auf Platz zwei. Das Abgeordnetenmandat ging an einen Vertreter von Schirinowskis Liberaldemokraten, der 39 Prozent der Stimmen bekam.

Zum Jahresende kündigte Platoschkin an, er werde 2024 bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren. Außerdem gab er die Gründung der Bewegung „Für einen neuen Sozialismus“ bekannt.

Hausdurchsuchung

Bereits am Morgen des 4. Juni gab es in der Wohnung von Platoschkin, der am 14. Mai via YouTube zu Kundgebungen gegen die Verfassungsreform aufgerufen hatte, eine Hausdurchsuchung. Nach Aussagen von Anschelika, der Ehefrau des Politikers, wurden ein Computer, eine Kamera, eine rote Flagge und gespartes Geld beschlagnahmt.

Der Rechtsanwalt von Platoschkin teilte mit, Grund des eingeleiteten Strafverfahrens gegen seinen Mandanten seien „verschiedene Auftritte bei YouTube“. Offenbar geht es vor allem um den Auftritt vom 14. Mai, in dem der Linkspolitiker seine Anhänger aufgerufen hatte, in den Regionen, in denen es trotz der Anti-Corona-Maßnahmen rechtlich möglich ist, Kundgebungen gegen die Verfassungsreform zu organisieren. Die Verfassungsänderung – so erklärte der Linkspolitiker – diene nur dazu, dass Putin „ewig an der Macht bleibt“. Die Menschen in Russland wollten aber einen Wandel.

Was die russischen Strafverfolgungsbehörden Platoschkin genau vorwerfen, ist bisher nicht bekannt. Die liberale Massenzeitung „Moskowski Komsomolez“ schreibt unter Hinweis auf einen namentlich nicht genannten Informanten, das Ermittlungskomitee habe in den Chats bei Telegram und WhatsApp ungesetzliche Äußerungen von Platoschkin gefunden. Das liberale Blatt schlussfolgert, es sehe so aus, als ob man Platoschkin „aus politischen Gründen“ strafrechtlich verfolgt.

Reaktionen auf die Strafmaßnahmen

Vertreter der Bewegung „Für einen neuen Sozialismus“ haben dazu aufgerufen, jetzt nicht für Platoschkin auf die Straße zu gehen. Offenbar will man die Situation nicht unnötig anheizen.

Die liberalen russischen Medien berichten ausführlich und kritisch über die Strafmaßnahmen gegen den Linkspolitiker. Der Rechtsliberale Aleksej Navalny sprach von einer „politisch motivierten Maßnahme“ gegen einen „bekannten Politiker, der sich gegen die Amtsverlängerung von Wladimir Putin ausspricht“.

Der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow erklärte, der Hausarrest für den Linkspolitiker sei Resultat „einer Entwicklung hin zum Polizeistaat“ und der Versuch, „jedem, der Unzufriedenheit äußert, den Mund zu stopfen.“

Der linke Radio-Kommentator und Ökonom Michail Deljagin sagte, die Maßnahmen gegen Platoschkin zeigten, „dass die Macht keinen Dialog mit dem Volk führen will.“ Mit den Maßnahmen gegen den ehemaligen Diplomaten „diskreditiert die Macht sich selbst, so wie sie sich auch mit der Heraufsetzung des Pensionseintrittsalters diskreditiert hat.“

Einer, der davon spricht, wovon viele träumen

Dass ein bisher unbekannter ehemaliger russischer Diplomat in Russland plötzlich zum linken Newcomer wird, ist überraschend. Was sind die Gründe? Platoschkin spricht sich für die Wiederherstellung der Sowjetunion über Volks-Abstimmungen aus. Er fordert die Rücknahme des erhöhten Renteneintrittsalters. Er tritt ein für die Verstaatlichung der Bodenschätze und die Wiedereinführung kostenloser Bildung.

Alles das sind seit Jahren in der Bevölkerung populäre Forderungen, die jetzt, vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise und einer zunehmenden Armut, die Menschen besonders bewegen. Außerdem kann der 1965 im Moskauer Gebiet geborene Politiker seine Vorstellungen rhetorisch gut und mit Witz vortragen.

Im Lebenslauf Platoschkins gibt es auffällige Parallelen zu Wladimir Putin. Platoschkin war bisher kaum bekannt. Er spricht gut deutsch. Von 1987 bis 1992 arbeitete er als Attaché in der sowjetischen und dann russischen Botschaft in Berlin.
Im russischen Internet behaupteten sogar einige, Platoschkin sei „ein Projekt des Kreml“, um den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der KPRF, Pawel Grudinin, in den Hintergrund zu drängen. Doch Platoschkin hat einen linken Lebenslauf und er ist zu eigenwillig, als dass man ihn als Puppe in der Hand von Polit-Technokraten bezeichnen kann.

Dem Video-Kanal Russland.news gab der Linkspolitiker mehrere Interviews, in denen er zeigte, dass er sich sehr gut in der deutschen Politik auskennt und auf Deutsch auch Witze machen kann.

Experte zu DDR und Lateinamerika

Von 2004 bis 2006 arbeitete Platoschkin als Vize-Konsul im russischen Konsulat in Houston/Texas. Nach seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst 2006 begann Platoschkin mit einer Lehrtätigkeit an der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften. Er wurde dort Leiter der Fakultät für Internationale Beziehungen.

Parallel schrieb er Bücher über das Jahr 1953 in der DDR, die Revolution in Mexiko, den Bürgerkrieg in Spanien, die Entwicklung in Chile in den 1970er Jahren und den Mord an John F. Kennedy. In einem Buch über den Sozialismus in der Tschechoslowakei bezeichnet Platoschkin die Wirtschaftsreformen unter Alexander Dubček als Fehler. Stalin hat nach Meinung von Platoschkin mehr Positives als Negatives bewirkt.

Was treibt den Newcomer?

Es bleibt die Frage, warum ein Mann, der einmal eine wichtige Funktion im Staatsapparat hatte, so aus der Reihe schert. Vermutlich war es seine kommunistische Grundüberzeugung, die ihn antrieb. Platoschkin sieht sich als Patriot seines Landes und will an den Faden anknüpfen, der 1989 verloren ging, als Boris Jelzin Michail Gorbatschow zur Seite drängte und die Auflösung der Sowjetunion vorbereitete. Weil die KPdSU dieser Politik nicht geschlossen entgegentrat, habe er seinen Antrag auf Eintritt in die KPdSU 1989 zurückgezogen, berichtete der ehemalige Diplomat in einer Fernseh-Talk-Show.

Vorstellbar ist, dass, wenn die Abstimmung über die Verfassungsänderungen am 1. Juli gelaufen ist, die administrativen Maßnahmen gegen den Oppositionspolitiker zurückgenommen werden. Für den Kreml ist in den nächsten Wochen das wichtigste Ziel, dass die Abstimmung über die Verfassungsänderungen ohne Störungen stattfindet.

Titelbild: YouTube-Kanal Politinform

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