Wehe dem, der sich gegen die Legendenbildung stellt! Der neoliberale Mainstream verliert die Kontenance und holzt gegen Oskar Lafontaine

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Wie und was Oskar Lafontaine politisch denkt, kann man in drei Büchern und in unzähligen Interviews nachlesen. Eine kritische Auseinandersetzung darüber fand bisher nicht statt. Jetzt, wo er sich politisch wieder „in den Ring“ begibt, geht die übliche Keilerei los. Politiker und Kommentatoren können sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung widmen, den politischen Gegner persönlich niederzumachen.
Statt persönlicher Verunglimpfungen halten wir es mit der kritischen Auseinandersetzung mit Personen und der von ihnen vertretenen politischen Inhalte. Deshalb haben wir am 30.6.05 auf das Interview Lafontaines mit der taz hingewiesen. Dazu noch einige persönliche Anmerkungen.

Um zwei aktuelle Vorwürfe gegen Oskar Lafontaine vorab anzusprechen:
Das Wort „Fremdarbeiter“ ist mir fremd. Ich halte es nicht schon deshalb für korrumpiert, weil es auch die Nazis (übrigens in einem ganz anderen Zusammenhang) gebrauchten. Nein, ich erinnere mich noch ganz gut, dass in den 60er und 70er Jahren, als das politisch korrekte Wort „Gastarbeiter“ noch nicht etabliert war, damals noch links-liberale Medien wie der Spiegel oder Politiker aller Parteien diesen Begriff anstandslos benutzten. Für mich hat das Wort „fremd“ ganz einfach eine negative abgrenzende, trennende Bedeutung, es hat nicht den Anklang, den Anderen, sei er aus dem Ausland oder aus einer anderen Kultur, als gleichwertig zu akzeptieren. Und wer, wenn nicht gerade Arbeiter, teilen – egal woher sie kommen – überall das gleiche Los, nämlich das Los, als „Faktor Arbeit“ eingesetzt zu werden und dessen Faktorkosten möglichst niedrig zu liegen haben.

Auch Folter ist für mich ein Tabu. Mir sind aus der Geschichte zu viele höchstrangige Rechtfertigungsgründe bekannt, die Gewaltandrohung zur Erzwingung eines Geständnisses oder auch nur Wohlverhaltens als verhältnismäßig erscheinen ließen. Und da sehe ich in einer Zeit, wo der „Terrorismus“ als Rechtfertigung für den Bruch von Völkerrecht und für die Verletzung von Menschenrechten – wie etwa in Guantanamo – herangezogen wird, keine rosigeren Zukunftsaussichten für eine Lockerung des Folter-Tabus. Nicht verschwiegen werden darf aber auch, dass es im Fall des Polizeipräsidenten Daschner viele durchaus angesehene Demokraten gab und gibt, die hier eine ähnliche Position wie Lafontaine bezogen haben.

Wären das Wort „Fremdarbeiter“ und die Äußerungen zur „Folter“ typisch oder gar vorherrschend für Lafontaines politische Haltung, könnte man die Zuspitzungen und Diffamierungen verstehen, die jetzt täglich von Politikern von SPD/Grüne/CDU/CSU/FDP und von unseren sog. meinungsprägenden Medien nahezu flächendeckend abgelassen werden. Lafontaine wird als „Linkspopulist“, der am rechten Rand wildert, abgestempelt, er habe das Kostüm eines roten Panthers mit braunen Pünktchen übergestreift“. Ja sogar als „Oskar Haider“ (Jörg Lau) wird er beschimpft. Er sei rückwärtsgewandt, betreibe „Retropolitik“. Ihn treibe „Gier nach Größe“, dabei sei er aber abgestiegen vom einstmaligen Vorsitzenden einer stolzen Volkspartei „zum Lautsprecher einer chaotischen Bewegung“. Er mache sich als „Lebemann“, der in einem großen Haus lebt, gerne gut isst und dem Wein zuspricht und der viel Geld hat, zum „Volksanwalt“ oder zum Rattenfänger „derer, die am Rande der Wohlstandsgesellschaft stehen“. Er sei herabgesunken zum Anführer von „Übriggebliebenen aus verblassten Bewegungen, Radikalökologen, Neo-Marxisten, Trotzkisten und verbiesterten Sozialdemokraten von ehedem“, denen er mit einer „radikalisierten Sprache des Hasses“ ihren „Hass hervorkitzelt“. (Fast alle diese Zitate entstammen dem aktuellen SPIEGEL 27/2005). Kurz: Oskar kommt kurz vor dem „Leibhaftigen“.
Jeder der im etablierten Politik- und Medienbetrieb etwas auf sich hält, darf offenbar oder muss jetzt diffamieren bis hin zur persönlichen Beleidigung. Kaum einer seiner Kritiker macht sich die Mühe, sich mit seinen auf Hunderten von Seiten ausführliche dargestellten und in Tausenden von Interviews verbreiteten sonstigen Positionen, seinem Politikstil, seinen Stärken und Schwächen auseinander zu setzen.

Das will ich hier in einigen Aspekten versuchen, als jemand, der in Lafontaine einen Hoffnungsträger in der SPD sah, und als einer, der es bis heute zwar nachvollziehen aber nicht akzeptieren will, dass „Oskar“ in seiner einflussreichen Rolle den politischen Kampf gegen die Schröder-Hombach-Intrigen aufgab – wohl wissend, dass damals eine Diffamierungskampagne gegen ihn inszeniert worden ist, der gegenüber die derzeitigen Attacken nur harmlose Possenspiele sind.
Lafontaines Weggang hat in der Sozialdemokratie eine politische Lücke hinterlassen, die von anderen nicht zu schließen war. Durch diese offene Flanke konnte Schröder mit seinen „Agenda-Truppen“ durchmarschieren, ohne auf geordneten politischen Widerstand zu stoßen. (Anmerkung von Albrecht Müller: Das wäre mit Hilfe der medialen Meinungsführer auch geschehen, wenn Lafontaine z.B. Parteivorsitzender geblieben wäre. Die Kampagne gegen diese Trennung wäre gelaufen wie damals bei Brandt und Schmidt, nur noch härter, weil man sich darauf berufen hätte, dass Schmidt das später als Fehler angesehen hat.) Der einzige, jedoch fundamentale Irrtum, dem die damaligen „New-Labour-Sozialdemokraten“ um den Spin-Doctor Hombach unterlagen, war der, dass sie wohl geglaubt haben, wenn Oskar erst weggemobbt ist, dann würden sich auch die Menschen und das heißt eben auch die Wählerinnen und Wähler, die ihre Hoffnung auf den Lafontaine-Flügel in der SPD setzten, irgendwohin verlaufen oder am besten ganz von der politischen Bildfläche verschwinden.

Für mich ist Oskar Lafontaine kein sozialistischer Theoretiker, sondern ein mit allen Wassern gewaschener sozialdemokratischer Machtpolitiker mit autoritären bis hin zu despotischen Zügen. Er kennt alle Tricks der öffentlichen Debatte bis hin zum populistischen Werben um Zustimmung und dem Verlangen nach absoluter Gefolgschaft – jedenfalls von seinen Gefolgsleuten. Ich habe miterlebt, wie er 1996 auf dem Mannheimer Parteitag der SPD mit skrupelloser Virtuosität seine mitreißenden rhetorischen Fähigkeiten einzusetzen wusste, um Rudolf Scharping gerade zu weg zu putschen. Er weiß z.B. dass man in der heutigen Mediengesellschaft weniger über Themen kommunizieren kann, sondern dass man „personalisieren“ muss, wenn man „durchdringen“ will. Den Vorwurf des „Linkspopulismus“ kontert er damit, dass sich Schröder unter Preisgabe sozialdemokratischer Prinzipien und mit dem Bruch von Wahlversprechen sozusagen über Nacht der Ideologie des „Neoliberalismus“ angedient habe. Auf den Vorhalt, seine Politik sei „rückwärtsgewandt“ antwortet er: „Wer betet denn mit Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen die neoliberale Lehre des 19. Jahrhunderts herunter?“
Er übt nicht zuerst eine strukturelle Kapitalismuskritik, sein politisches Feld ist vor allem die Verteilungsfrage. So prangert er die Selbstbereicherung der Manager an und beklagt pathetisch die gleichzeitige Verarmung breiter Bevölkerungskreise. Ganz typisch für ihn ist seine Antwort in dem genannten taz-Interview auf die Frage, was er als „links“ verstehe, nämlich eintreten „für Arbeitnehmer, für Rentner und Arbeitslose“.
Lafontaines Kritik an politischen Inhalten ist, seiner persönlichen Eitelkeit entspringend, meist auch verbunden mit einer Kritik an der Unzulänglichkeit oder Mittelmäßigkeit der „politischen Eliten“. Gerhard Schröder, den er als den Urheber der damaligen politischen Intrigen gegen ihn betrachtet und die ihn wohl mindestens so tief getroffen haben, wie einst das Messer-Attentat, das auf ihn ausgeübt worden ist, hält er geradezu für charakterlos und als einen sich bei den „Bossen“ liebedienerisch einschmeichelnden Aufsteiger.

Lafontaines Hauptgegner ist der „Neoliberalismus“. Dabei gibt er sich nicht mit der theoretischen Kritik an dieser ökonomischen Glaubensrichtung ab, ihm reicht es die Auswirkungen der „neoliberalen“ Politik zu benennen: Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer, dem Staat wird durch Steuersenkungen seine Handlungsfähigkeit genommen, gespart wird einseitig bei den sozial Schwächeren. Man könnte noch viele Beispiele dieser Art anfügen, Lafontaine hat die Fähigkeit, seine Kritik meistens ganz konkret zu machen. Und jeder, der das als Vereinfachung beschimpft, soll sich mal bei Sabine Christiansen hinsetzen und mit seinen differenzierten Argumenten versuchen, gegen den dort versammelten Mainstream aller Schattierungen besser anzukämpfen.

Sein moralischer Hauptvorwurf – und es ist ein moralischer Vorwurf – vor allem an seine ehemaligen Parteifreunde ist, dass sie in ihrem politischen Handeln das sozialdemokratische Programm verraten und sich der wirkmächtigen Ideologie des Neoliberalismus angebiedert haben, der zu folge es für die Politik gegenüber den wirtschaftlichen Zwängen keine oder nur noch wenige Handlungsalternativen gibt.
Oskar Lafontaine hingegen sieht Handlungsalternativen, er glaubt, die Macht der Ökonomie bändigen zu können und er glaubt an den Primat der Politik und – entgegen der herrschenden Sachzwangideologie – vertritt er die Auffassung, dass die Mehrheit bestimmen kann und darf, was sie politisch für richtig hält.
Es ist ein historisches Paradox, dass der schon immer eher opportunistische und deswegen schon immer „reformistische“ Gerhard Schröder heute eher dogmatische „Stamokap“-Positionen (allerdings auf der Seite des „Kapitals“) vertritt, als der auf das „Programm“ insistierende Oskar Lafontaine.

Lafontaine glaubt an ein sozialdemokratisches Programm, das den Sozialstaat verteidigt, und er glaubt an die Steuerbarkeit der Wirtschaft und vor allem an die Möglichkeit der fairen und gerechten Verteilung des gemeinsam Geschaffenen.

Lafontaine sieht im Gegensatz zu den „Machern“ in der Politik und in der Wirtschaft immer auch klare Interessenhintergründe und er hat deshalb meist einen klaren Gegnerbezug und er attackiert seine Gegner – manchmal ohne Rücksicht auf Verluste. Seine Kritik am Neoliberalismus ist am besten, wo sie sprachkritisch daherkommt. Das Kapitel „Korruption der Sprache und des Denkens“ in seinem Buch „Politik für alle“ hat eine erfrischend aufklärerische Wirkung und erhellt mehr über gesellschaftliche Zustände als mancher noch so scharfsinnige ökonomische Diskurs.

Lafontaines Stärke ist die Kritik verbunden mit dem Pathos der Mitmenschlichkeit. Er hat kein Gegenmodell zum Schröderschen Agenda-Kurs , er spricht aber in Vielem, was er kritisiert, den Menschen aus dem Herzen. Er beschränkt sich häufig darauf zu sagen, dass man es so, wie es gemacht wird (meist aus moralischen Gründen) nicht machen darf. Er redet Klartext, den die Menschen verstehen und er trifft damit ins Mark der SPD, die plötzlich schmerzhaft feststellt, wie viele ihrer früheren Wählerinnen und Wähler sie einfach hatte links liegen lassen. Und er sorgt für Nervosität unter den Konservativen, die gehofft hatten, dass bei einer möglichen Machtübernahme die rot-grüne Regierungspolitik für deren weitergehende neoliberale Reformen endgültig die Bahn gebrochen hätte.

Wenn man Oskar Lafontaines Konzept neokeynesianisch nennen würde, wäre ihm das vermutlich egal, für ihn ist aber – anders als für Clement oder Schröder – Wirtschaftspolitik mehr, als vor allem die Angebotsseite zu verbessern. Er will die Wirtschaft ankurbeln und dafür ist ihm fast jedes Mittel aus dem ökonomischen Werkzeugkasten recht. Er neigt als Physiker eher zu kausalem Denken als dass er die komplexen und rückgekoppelten Kreisläufe volkwirtschaftlicher Gedankenschlüsse ausbreitet. Aus sicherlich eher taktischen Gründen macht er ökonomische Anleihen bei Ludwig Erhards „Sozialer Marktwirtschaft“, ja sogar bei der Freiburger Schule der Ordoliberalen.

Postmoderne Kritiker werfen ihm vor, er wäre zu sehr dem Fetisch „Arbeit“ versessen oder er habe Paul Lafargues „Recht auf Faulheit“ aus den Augen verloren (z.B. Joseph Reindl). Deswegen war und ist Lafontaine für viele „Intellektuelle“ suspekt oder schlicht zu bieder – auch schon in seinem Auftreten und der Art, wie er sich kleidet.
Die Marxisten in der PDS werfen ihm vor, dass er keine Ahnung von Marx und von einer echten Klassenanalyse habe. Was solche Kritiker übersehen ist, dass Lafontaine mehr hedonistische Züge hat, als es für die Vertreter der Utopien eines Lebens „jenseits der Erwerbsgesellschaft“ akzeptabel wäre, und er weiß konkreter zu sagen, wie eine moderne Klassengesellschaft aussieht, als die meisten im Umfeld von Sarah Wagenknecht.

Lafontaine ist eigentlich ein Sozialdemokrat links von der Mitte, der, dadurch dass er nach schweren Tief- und Niederschlägen einmal das Handtuch geworfen hat, aus dem großen sozialdemokratischen „Boxstall“ ausgesperrt wurde. Jetzt hat er sich wieder einer anderen, viel kleineren und viel bunteren Mannschaft angeschlossen. Er wird sich auch dort nicht mehr ändern und gerade deshalb ist er eine Galionsfigur für ein politisches Spektrum von, wie er selbst schätzt, zehn Millionen Menschen. Und das schätzen seine Gegner im Hinblick auf die Wahlen wohl nicht viel anders ein und deshalb versuchen sie, ihn mit allen Mitteln des politischen Catch-as-Catch-Can als Person madig zu machen.

Man muss Oskar Lafontaine als Person nicht mögen, man kann seine persönlichen Defizite kritisieren, er ist blitzgescheit und kann schnell und spontan, dazu häufig auch gereizt, reagieren, man kann beklagen, dass ihm oft die emotionale Ansprache seines Publikums wichtiger ist als die intellektuell abwägende Analyse, aber er ist weder demagogischer, noch eitler, noch „machtbesessener“ geschweige denn „machtvergessener“ (Richard von Weizsäcker) als nahezu alle, die sich jetzt als seine Kritiker aufschwingen – allenfalls spielt er auf dieser Klaviatur besser als die meisten seiner Gegner.

Angesichts der Schwierigkeiten die sich innerhalb des „Linksbündnisses“ auftun, auch angesichts der Tatsache, dass dort noch viel politischer Klärungsprozesse ablaufen werden und müssen, deren Ausgang noch ziemlich offen ist, sind noch viele und wichtige Fragen zur politischen Perspektive und Wirksamkeit offen.
Eine Frage ist aber jetzt schon beantwortet: Schon die reale Bedrohung der etablierten Parteienlandschaft durch eine ernst zu nehmende Bewegung von „links“ öffnet die politische Debatte in Deutschland wieder, es wird über Alternativen diskutiert und nicht nur über Varianten innerhalb des prinzipiell gleichen Kurses. Das ist ein Gewinn an Pluralität in der immer eindimensionaler gewordenen öffentlichen Meinungsbildung. Das ist für jemand, der ein unerschütterlicher Aufklärer ist, schon viel.

Nun gibt es die These, dass eine Spaltung der Linken, die Linke insgesamt schwächt. Ja, wir haben das bei der Niederlage Jospins gegen Chirac in Frankreich gesehen und Berlusconi hat in Italien auch gewonnen, weil sich die Bewegung, die sich unter dem „Olivenbaum“ versammelt hatte, nicht einig war. Aber kann man in Deutschland, zumindest solange Schröder die SPD auf sich einschwören kann, wirklich von einer Spaltung der Linken von außerhalb sprechen? Ist es nicht so, dass die SPD, ähnlich wie in den frühen achtziger Jahren mit den Friedens- und Ökologiethemen, einfach bewusst oder aus Blindheit ein politisches Vakuum hinterlassen hat. Damals waren es die Grünen, die in diese Lücke hineinstießen und sich als politisches und organisatorisches Auffangbecken anboten. Wer also spaltet eigentlich die Linke in Deutschland, diejenigen, die ein politisch potentiell linkes Spektrum preisgeben, oder diejenigen, die in eine sträflich offen gelassene Lücke hineinstoßen? Spalten statt versöhnen ist offenbar das Motto Gerhard Schröders: „Ich werden nie etwas mit dieser merkwürdigen Gruppierung am linken Rand machen“, sagte er bei der Vorstellung des Wahlmanifestes. Dabei hat diese „merkwürdige Gruppierung“ schon jetzt viel mehr mit der SPD gemacht, als dem Kanzler lieb sein kann.