Hinweise des Tages

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Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (JK/JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Tönnies: Die Geduld ist aufgebraucht
  2. Tod im Göttinger Ghetto
  3. Wirecard
  4. EU-Ratspräsidentschaft: Deutschland muss Sponsoring-Verbot durchsetzen
  5. Impulse für eine zukunftsfähige Ökonomik
  6. Untersucht die Corona-Folgen für die Politik – Politologe Prof. Wolfgang Merkel
  7. Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß
  8. Städtebund warnt vor sozialen Konflikten durch Corona
  9. Favelas kämpfen allein gegen das Virus
  10. Wie gefährlich ist Covid-19 im Vergleich zur saisonalen Grippe?
  11. Sicherheitsstaat 4.0
  12. Blocking Overblocking
  13. Manipulationen am Tatort?
  14. Einsprachigkeit kann töten
  15. MH17-Prozess: Viele Fragen offen, Verteidigung will mehr Zeugen hören
  16. Überraschender Inhalt: Putins Artikel über den Zweiten Weltkrieg wurde veröffentlicht
  17. Wieso soll das verboten sein?
  18. Stuttgart – Erklärungen jenseits von Alkohol und Testosteron

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Tönnies: Die Geduld ist aufgebraucht
    Karl-Josef Laumanns Gesichtszüge verraten selten, was er wirklich denkt oder fühlt. Enttäuschung? Wut vielleicht? Er habe sich abgewöhnt, sich über die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie zu ärgern, sagt Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister, als er vor die Presse tritt. “Ich weiß schon lange, wie sie sind”, fügt er hinzu. Das große Problem sei, “dass eine Struktur geschaffen wurde, in der es keine Transparenz gibt”, beklagt der CDU-Politiker. “Und wenn es keine Transparenz gibt, kann es auch kein Vertrauen geben.” Es müssten jetzt klare gesetzliche Regeln zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Branche her. Freiwillige Lösungen könne es nicht mehr geben. …
    Klar ist, Deutschlands größter Schlachtbetrieb hat eine gewaltige Marktmacht und könnte vorangehen. Rund 16.000 Beschäftigte arbeiten für die weltweit aktive Unternehmensgruppe. 2019 verzeichnete Tönnies eigenen Angaben zufolge einen Rekordumsatz von 7,3 Milliarden Euro. Der Marktanteil bei Schweineschlachtungen liegt laut Branchenangaben bei rund 30 Prozent.
    Es ist jedoch zu bezweifeln, dass bei Tönnies plötzlich ein grundlegender Sinneswandel eingetreten ist oder das Thema Arbeitsschutz künftig oberste Priorität hat. Die anfangs versprochene Kooperation mit den Behörden sollte vor allem dem Ziel dienen, den Schlachtbetrieb so schnell wie möglich wieder aufnehmen zu können. Zudem mutmaßte das Unternehmen, dass osteuropäische Arbeitskräfte das Virus aus dem Heimaturlaub mitgebracht haben könnten. Die Situation in den Unterkünften könne nicht der alleinige Grund für die Größe des Ausbruchs sein, hieß es. Ehrliche Einsicht klingt anders.
    Quelle: Zeit

    Anmerkung unseres Lesers D.G.: Gesetzliche Regeln müssen her zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen! Wer könnte diese Gesetze auf den Weg bringen? An welche Partei könnte der CDU Politiker sich wenden? In welcher Parte ist noch die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz? Wie bekommt der CDU Politiker Laumann Kontakt zur Partei von Julia Klöckner? Fragen über Fragen!

    Anmerkung JK: Die Empörung der politischen Elite grenzt durchaus an Zynismus. Die Zustände in der Fleischindustrie sind seit Jahren bekannt und es wurde bisher kein Finger dafür daran etwas zu ändern.

  2. Tod im Göttinger Ghetto
    700 Menschen in marodem Wohnkomplex unter Quarantäne. Polizei riegelt Hochhaus ab, währenddessen stirbt ein Bewohner […]
    Am Montag räumte die Stadt Göttingen gegenüber junge Welt ein, dass »in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag« ein Mann des Geburtsjahrgangs 1977 im Gebäude verstorben sei. »Der Tod der vorerkrankten Person steht in keinerlei Zusammenhang zum örtlichen Infektionsgeschehen«, so ein Sprecher. Der Rettungsdienst sei »unverzüglich nach Alarmierung« vor Ort gewesen, »Wiederbelebungsversuche waren jedoch vergeblich«.
    Die Situation der im Gebäude lebenden Menschen ist prekär, viele sind Migranten, des Deutschen oft nicht mächtig. Die Wohnungen sind nur 19 bis 39 Quadratmeter groß – hier leben Familien mit bis zu vier Kindern. Lediglich zwei Waschmaschinen sollen zur allgemeinen Verfügung stehen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln wird von den »Tafeln« organisiert, zu Beginn der Quarantäne mangelte es an vielem, darunter auch Babynahrung. Erkrankte wohnen mit negativ Getesteten auf engstem Raum, einzelne kampieren in den Fluren. Die Medizinstudentin Setare Torkieh, die bei den Massentests im Haus mitarbeitet, berichtete am Montag gegenüber jW von schwierigen Bedingungen: Viele Menschen hätten einen schlechten allgemeinen Gesundheitszustand, unabhängig von Corona würden Infektionskrankheiten grassieren.
    Quelle: Junge Welt

    Lesen Sie dazu auch auf den NachDenkSeiten: Alle Menschen sind gleich? Nicht in Corona-Zeiten.

  3. Wirecard
    1. Nicht effektiv genug, um so etwas zu verhindern
      Der Skandal um mutmaßlich erfundene Umsätze und Profite des Wirecard-Konzerns ist auch ein Debakel für die Finanzaufsicht und legt ein Kontrollversagen offen.
      Der Skandal um mutmaßlich erfundene Umsätze und Profite des Wirecard-Konzerns ist auch ein Debakel für die Finanzaufsicht und legt ein Kontrollversagen offen, das sich wohl hätte vermeiden lassen. Davon zeugt nicht zuletzt die Reaktion von Bafin-Präsident Felix Hufeld am Montag in Frankfurt, wonach die Aufsicht “nicht effektiv genug” gewesen sei, “um so etwas zu verhindern”. Dass sie also nicht genau hingeschaut hat bei einem Konzern, der möglicherweise jahrelang Investoren und Banken, seine Wirtschaftsprüfer und die Öffentlichkeit genauso getäuscht hat wie gute Teile der eigenen Belegschaft. ….
      Das sah zunächst aus, als werde eine Schutzmauer um Wirecard gebaut: Weil es in den vorigen Jahren schon derartige Unstimmigkeiten gegeben hatte, passte das Vorgehen der Bafin zur Erzählung von kriminellen Spekulanten, die sich auf Kosten von Wirecard und dessen Aktionären bereichern wollten. Der Linken-Bundestagsabgeorndete Fabio de Masi urteilt: “Die Bafin betrieb offenbar eher Standortpflege als Aufsicht.” Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sieht das anders: Die Aufsicht habe sehr hart gearbeitet und ihren Job gemacht, und das sehe man jetzt, sagte er am Montag in Frankfurt.
      Quelle: SZ
    2. Wirecard ist der größte Börsenskandal Deutschlands. Und es ist auch ein Aufsichtsskandal
      Seit vor gut einem Jahr eine Zeitung dem Wirecard-Management in mehreren Artikeln Bilanzmanipulationen vorwarf, sind die Gerüchte nicht mehr abgerissen. Jetzt ist das Kartenhaus von Wirecard zusammengebrochen, die Aktie stürzt ab. 1,9 Milliarden Euro sollen sich auf Konten in den Philippinen, die laut der dortigen Banken gar nicht existieren, in Luft aufgelöst haben. Fabio De Masi spricht vom größten Börsenskandal Deutschlands. “Die Altersvorsorge von vielen Menschen ist kaputt – auch weil die Aufsicht in Deutschland gepennt hat”, sagt der finanzpolitische Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag. “Die Vermögen der Ex-Vorstände Markus Braun und Jan Marsalek müssen abgeschöpft werden und sie müssen sich endlich strafrechtlich verantworten.”
      Quelle: Fraktion DIE LINKE via facebook
    3. Was Anleger aus dem Wirecard-Debakel lernen sollten
      Das Finanzdrama um Wirecard dürfte deutsche Sparer nicht gerade dazu ermutigen, ihr Geld in Aktien anzulegen. Sie sollten es trotzdem tun – und dabei leichte Fehler vermeiden.
      Der Kurssturz der Wirecard-Aktie ist ohne Beispiel in der deutschen Börsengeschichte. Binnen 25 Stunden hat der Dax-Konzern mehr als 80 Prozent seines Börsenwerts verloren. Dabei galt das Unternehmen aus Aschheim bei München lange als größte Tech-Hoffnung Deutschlands.
      Der gigantische Kurseinbruch dürfte deutsche Sparer nicht gerade dazu ermutigen, ihr Geld in Aktien anzulegen. Der eine oder andere wird sich zu Recht fragen, wie es um die Finanzbranche bestellt ist, wenn ein im Chaos versinkendes Unternehmen zu den 30 wichtigsten deutschen Börsengesellschaften gehört. “Die Causa Wirecard könnte das Misstrauen der Deutschen gegenüber dem Kapitalmarkt zementieren”, schreiben meine Kollegen im aktuellen SPIEGEL-Leitartikel. Der Schaden, den Wirecard der Aktienkultur zufüge, sei bereits jetzt immens. …
      Daraus zu schließen, dass Aktien generell nicht für die Altersvorsorge geeignet seien, ist aber falsch. Trotz aller zwischenzeitlichen Unternehmenskrisen bleibt es dabei: Wer in Zeiten von ultraniedrigen Zinsen noch eine Rendite auf sein Erspartes erzielen will, kommt an Aktien nicht vorbei. Die Erfahrung zeigt, dass es sich trotz aller Krisen in der Regel lohnt, dauerhaft auf Aktien zu setzen. Da sind sich so gut wie alle Ökonomen und Finanzexperten einig.
      Quelle: SPIEGEL

      Anmerkung unseres Lesers J.A.: Für das “Young Money Blog” (cooler Titel übrigens!!) ist klar, was “Anleger” (sprich: Spekulanten) “aus dem Wirecard-Desaster lernen sollten”: Aktien kaufen. Weil das ja klar ist und “sich so gut wie alle Ökonomen und Finanzexperten einig [sind]”. Dass diese Finanzexperten alle eigene Interessen haben (z. B. am Aktienhandel mitverdienen), wird nicht erwähnt, und dass eben ein paar (wahrscheinlich abseitige) Ökonomen darauf hinweisen, dass die ausgewiesenen angeblichen Renditen am Aktienmarkt (“positive Rendite über 20 Jahre immer sicher” usw.) viel mit dem “Survivorship Bias” (sogar hier in der FAZ) zu tun haben: pleitegegangene Fonds oder Firmen werden einfach nicht mitgezählt/betrachtet. Fairerweise erwähnt auch dieser Artikel Aktien-Katastrophen wie ThyssenKrupp und Lufthansa, aber leider nicht “solide Blue Chips” wie die Deutsche Bank oder die Commerzbank. Wie da ein Fonds (also die Aufteilung der Gelder auf mehrere Aktien) vor Verlusten schützen könnte, wird nicht klar: ein Fonds auf den DAX-30 enthält z. B. sowohl Lufthansa als auch Wirecard, und auch die Luftnummer Enron war sicher in wichtigen Fonds notiert. Die Beispiele von Firmen, die durch Missmanagement, Betrug oder einfach sich ändernde Wirtschaftsumstände gescheitert sind, sind Legende. Mit anderen Worten, theoretisch kann der “Anleger” immer Gewinne machen, aber nur dann, wenn er jeweils bei den richtigen Titeln (oder Fonds) zum richtigen Zeitpunkt ein- und aussteigt, was in der Realität ein Wunschtraum bleibt und, im globalen Maßstab, unmöglich ist, weil es bei jeder Wette (Kauf oder Verkauf) immer einen gibt, der Recht hat, und einen, der falsch liegt. Nachdem der SPIEGEL sich aktiv an der Zerstörung der gesetzlichen Umlagerente beteiligt hat (und sich die jungen Leser des “Young Money Blog” deshalb völlig zurecht Sorgen über Altersarmut machen), muss er wohl weiterhin gegen jede Erfahrungstatsache immunisieren und die Fiktion aufrecht erhalten, dass mit “privater”, “kapitalgedeckter” Altersvorsorge ein Blumentopf zu gewinnen wäre. Auch insofern völlig widersinnig, als ein guter Teil der Firmengewinne (und der Aktienrenditen) das Ergebnis der radikalen Lohnsenkungen (auch durch Rentenkürzungen) ist. Würde man die Löhne und die Renten auf ein vernünftiges Niveau anheben – das Geld ist ja ganz offensichtlich vorhanden, erkennbar an den Überrrenditen der Firmen), dann bräuchte kein Mensch den Aktienquatsch. Aber wenn der SPIEGEL schon seit 20 oder 30 Jahren auf der völlig falschen Fährte ist, dann konsequent, bis der Karren wie Sondermüll an der Wand klebt. Auch beim nächsten Aktiencrash wird es wieder heißen, “jetzt erst recht” – nachdem Millionen Menschen tatsächlich große Teile ihrer Altersvorsorge verloren haben.

  4. EU-Ratspräsidentschaft: Deutschland muss Sponsoring-Verbot durchsetzen
    Rumänien hat sich von Coca-Cola unterstützen lassen, Österreich von Audi, Bulgarien von BMW: Sponsoring-Praktiken im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft sind hoch umstritten. Die Bundesregierung könnte ein Verbot durchsetzen – doch offenbar kann sie selbst nicht auf Sponsoren verzichten.
    Der Vorsitz im Rat der Europäischen Union rotiert unter den 27 EU-Mitgliedstaaten im Halbjahres-Rhythmus. Ab Juli übernimmt ihn Deutschland. Es wäre die Chance für die Bundesregierung, endlich Schluss zu machen mit dem Sponsoring von Unternehmen für die Präsidentschaften – eine Praxis, die seit Jahren existiert. 2018 hat sich Österreich zum Beispiel von Audi und der Versicherungsgruppe VIG sponsern lassen, Bulgarien vom Verband der bulgarischen Getränkeindustrie und von BMW. 2011 unterstützte Coca-Cola die polnische Präsidentschaft. Unter anderem lieferte der Konzern 140.000 Liter Getränke für die Meetings. Zur gleichen Zeit wurde die EU-Lebensmittelinformationsverordnung beschlossen und eine EU-weit verbindliche Nährwertkennzeichnung in Ampelfarben verhindert. …
    Doch Deutschland tut sich offenbar schwer damit, selbst auf Sponsoren zu verzichten. Im Mai äußerte sich der Repräsentant der Ständigen Vertretung von Deutschland in Brüssel, Michael Clauß, zu Sponsoring-Maßnahmen gegenüber foodwatch so: „Der Verzicht auf Sponsoring wird als politisches Zeichen der Unabhängigkeit betrachtet und soll zeigen, dass die Durchführung der EU-Ratspräsidentschaft ohne Sponsoring durch die Privatwirtschaft möglich ist.“ Diese Erklärung steht jedoch im Widerspruch zu Protokollen aus einer Ratssitzung vom Februar. Demnach hat die deutsche Präsidentschaft „einige Sponsoring-Verträge mit kleineren lokalen Unternehmen“ abgeschlossen, um „informelle regionale Veranstaltungen“ zu unterstützen.Was denn nun: Beabsichtigt die deutsche Ratspräsidentschaft, während ihrer Präsidentschaft in irgendeiner Form Sponsoring anzunehmen oder nicht? Die Bundesregierung muss unverzüglich bekannt geben, welche dieser Aussagen zutrifft und welche Unternehmen die Ratspräsidentschaft unterstützen.
    Quelle: Foodwatch
  5. Impulse für eine zukunftsfähige Ökonomik
    Diese Frage scheint berechtigt, wenn trotz Klimakrise und wachsender sozialer Ungleichheit die alten ökonomischen Dogmen wie “freie Märkte” und “mehr Wachstum” wiederholt werden. Es ist an der Zeit, Wirtschaft neu zu denken – menschlicher, gerechter, ökologischer!
    Das Netzwerk Plurale Ökonomik e.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Vielfalt zukunftsweisender, ökonomischer Ideen in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft zu fördern und aktiv einen Wandel in Forschung und Lehre zu gestalten.
    In diesem Impulspapier präsentieren wir Vorschläge für eine umfassende, transparente und konstruktive Modernisierung der Ökonomik.
    Quelle: Netzwerk Plurale Ökonomik
  6. Untersucht die Corona-Folgen für die Politik – Politologe Prof. Wolfgang Merkel
    Das novellierte Infektionsschutzgesetz vom 25. März 2020 erteilt dem Gesundheitsministerium und der Regierung weitreichende Kompetenzen im Fall einer Epidemie von “nationaler Tragweite”. Erst in letzter Minute wurde verhindert, dass die Regierung selbst diesen Notstand erklären und dann administrieren kann. Legislative und Exekutive wären schlicht eins geworden. So analysiert der Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Merkel. Und er fragt: Was bedeutet die Corona-Krise für das deutsche Parteiensystem? Demokratieforschung gehört zu seinen Forschungsschwerpunkten an der Humboldt-Universität in Berlin. Seit 2004 ist er Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Und er sagt: “Dauernd die Krise der Demokratie auszurufen, hilft nicht – schadet aber womöglich.”
    Quelle: SWR1 Leute via You Tube
  7. Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß
    Eine verantwortliche Politik hätte sich bemüht, ein möglichst genaues Bild von den negativen Folgen eines Lockdowns zu verschaffen (…)
    Eine verantwortungsvolle Politik hätte aber zwingend versuchen müssen (auch im Verlauf des Lockdowns), die negativen Folgen des Lockdowns einzuschätzen und daher Experten beauftragen müssen, Antworten auf Fragen wie diese zu finden:

    • Wie viele Menschen sterben voraussichtlich aufgrund fehlender medizinischer Versorgung, da wichtige Operationen verschoben werden müssen, um Krankenhauskapazitäten für Covid-19-Patienten freizuhalten?
    • Wie viele Menschen (gerade ältere) werden voraussichtlich aufgrund der sozialen Isolation sterben?
    • Wie viele Menschen werden voraussichtlich aufgrund der Isolation im Shut-down Selbstmord begehen?
    • Wie viele Menschen werden voraussichtlich sterben, weil aufgrund fehlender medizinischer Vorsorge eine sich ankündigende tödliche Krankheit nicht entdeckt wurde?
    • Wie viele Menschen werden sich voraussichtlich aufgrund ihrer plötzlich katastrophalen wirtschaftlichen Lage selbst töten?
    • Um wie viele Lebensjahre wird voraussichtlich die Lebenserwartung der Menschen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Gesamtsituation im Schnitt sinken?
    • Um wie viele Lebensjahre wird voraussichtlich die Lebenserwartung der Menschen aufgrund der gesundheitsschädigenden Erfahrung des Lockdowns im Schnitt sinken?


    Eine möglichst genaue Einschätzung der negativen Folgen durch den Lockdown sind auch nach dessen Ende von besonderer Bedeutung. Denn zum einen können Teilaspekte sehr wichtig für die Entscheidungen sein, wie schnell nun die Gesellschaft in allen Aspekten möglichst zu einer neuen Normalität zurückkehrt, zum anderen um möglichst klare Lehren für die Zukunft zu ziehen.
    Die Betrachtung und Abwägung der Risiken angesichts der drohenden Ausbreitung von Covid-19 und der möglichen Antwort auf den Lockdown sind aber auch in einer weiteren Hinsicht hilfreich: Sie führen zu einer möglichen Strategie, die kaum von Regierung und Öffentlichkeit diskutiert wurde, aber sich durchaus als die Alternative erweisen kann, die die geringsten Risiken und Schäden gezeitigt hätte. Eine Strategie, die Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer unterstützt, und die Julian Nida-Rümelin schon sehr früh vorschlug: “Cocooning” statt “social distancing”. Die Menschen, die zu den Risikogruppen gehören, sollten “systematisch und konsequent geschützt werden”, wobei “diese Menschen auch selbst entscheiden können, ob sie ein Infektionsrisiko eingehen oder nicht. Cocooning heißt nicht soziale Isolation, (…) sondern lediglich räumliche Distanz wahren und alles tun, damit jedes Infektionsrisiko minimiert wird.”
    Die Menschen hingegen, die nur ein sehr geringes Gefährdungsrisiko haben, sollten hingegen möglichst ihrem Leben normal nachgehen können.
    Quelle: Telepolis

  8. Städtebund warnt vor sozialen Konflikten durch Corona
    Der Corona-Ausbruch bei Deutschlands größtem Fleischproduzenten Tönnies in Nordrhein-Westfalen droht, außer Kontrolle zu geraten. Angesicht der teils heftigen Ausbrüche und einhergehenden Einschnitten im Alltag warnt der Deutsche Städte- und Gemeindebund nun vor möglichen sozialen Konflikten.
    “Wir dürfen Menschen nicht diskriminieren oder benachteiligen, die zum Beispiel im Niedriglohnbereich unter schlechten Wohnverhältnissen die preiswerte Fleischproduktion in bestimmten Betrieben gewährleistet haben”, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Er hob hervor, man dürfe Menschen, die in beengten Verhältnissen wohnen, keinen Vorwurf machen, weil es dort eher zu Infektionen kommen kann.
    Es seien insbesondere die Betriebe gefordert, für anständige Löhne und Arbeitsbedingungen zu sorgen, aber insbesondere auch für Wohnverhältnisse, in denen ausreichende Hygienestandards gewährleistet werden können. ….
    Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter rief die Supermarktketten zu einem Boykott von Produkten des Konzerns auf. “Das Gebaren der Fleischbarone, die nur auf Profit setzen, und meinen, sich an keine Regeln halten zu müssen, ist ein Skandal”, sagte Hofreiter der “Bild am Sonntag”. Es sei an der Zeit, dass sich die großen Supermarktketten “nicht länger mitschuldig machen”, sagte Hofreiter. “Sie sollten die Tönnies-Produkte aus ihrem Angebot nehmen.”
    Von einem Boykott riet Heil jedoch ab: “Ich bin nicht für Boykottaufrufe. Ich bin dafür, dass wir Regeln einhalten, weil wir reden nicht über dieses eine Unternehmen nur.” Er sei auch die Personalisierung ein bisschen leid, auch in anderen Fleischfabriken habe es Fälle gegeben. “Es ist insgesamt in dieser Branche etwas umzukrempeln und aufzuräumen.”
    Quelle: SPIEGEL

    Anmerkung unseres Lesers J.A.: Die Krokodilstränen fließen, jeder zieht seinen Stiefel durch (“was ich schon immer sagen wollte…”), alle haben jahrelang weggeschaut oder sogar die Zustände überhaupt erst möglich gemacht (massenhafte Ausweitung der Leiharbeit und Erlaubnis zur mehr oder weniger unregulierten Sklavenarbeit von Osteuropäern durch Rot/Grün bis 2005 bzw. Schwarz/Rot nach 2005), und plötzlich sind alle ganz betroffen. Man kann gar nicht so viel essen… Der Deutsche Städte- und Gemeindebund “warnt […] vor sozialen Konflikten”, wobei man den Niedriglöhnern “keinen Vorwurf” für ihre schlechten Wohnverhältnisse machen solle. Nein – warum sollte man auch? Die Schuld tragen nicht die ausgebeuteten Arbeiter, sondern die Firma Tönnies, die eine unsägliche Arbeitsgesetzgebung ausnutzen, und noch viel mehr der Bundesgesetzgeber, der geschlagene 15 Jahre diese unfassbaren Verhältnisse geduldet, wo nicht sogar gefördert hat – und auch die EU, die massenhafte Arbeitsmigration quer durch den Wirtschaftsraum für niedrigstmögliche Löhne als Garant für höchstmögliche Firmengewinne zum Daseinszweck erkoren hat (man denke nur an die hart wirtschaftsliberale Bolkesteinrichtlinie mit dem unsäglichen Herkunftslandprinzip – , die zwar zum Glück entschärft wurde, aber immer noch von der EU gegen die Mitgliedstaaten durchgedrückt wird). Die Grünen fordern “Boykotte” durch die Supermärkte, angesichts der Marktmacht von Tönnies – und bei der Suche nach dem niedrigstmöglichen Preis – völlig unrealistisch, oder schieben dem Verbraucher, der selbst bei bestem Willen praktisch keine Chance hat, die Lieferkette zu durchschauen, die Verantwortung zu. Der Staat muss – und nur er kann! – durch Gesetze und Kontrollen für vernünftige Arbeitsbedingungen und halbwegs akzeptable Bedingungen bei der Tierhaltung sorgen, auch wenn das den wirtschaftsliberal gewordenen Grünen nicht passt. Und die SPD, vertreten durch Heil, droht gesetzliche Regelungen und Kontrollen an – jetzt, 15 Jahre zu spät und in seinem dritten Jahr als Bundesarbeitsminister, erst unter dem massiven Druck von Corona. Dass Tönnies (angeblich) für den Schaden und die Gesundheitskosten aufkommen soll, ist eigentlich selbstverständlich, denn die osteuropäischen “Werkvertragsarbeiter” zahlen vermutlich keine Beiträge zur Krankenversicherung – m. a. W., im Moment kommt die Allgemeinheit für Kosten auf, denen keine Beiträge gegenüber stehen. Ob Heil Ernst macht oder wieder (was ich befürchte) das Prinzip “Gewinne privatisieren, Kosten sozialisieren” zum Tragen kommt, wird man sehen. Und, wie gesagt: ohne die Corona-Katastrophe hätte das die nächsten 20 Jahre keinen Politiker ernsthaft gestört.

  9. Favelas kämpfen allein gegen das Virus
    Brasilien hat die Marke von einer Million Infizierten durchbrochen. Mehr als 50.000 Patienten sind tot. Die Armenviertel von Rio de Janeiro und São Paulo leiden besonders. Mangels Staat organisieren sich die Bewohner dort selbst.
    Während die Regierung des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro die Coronakrise am liebsten aussitzen würde, organisieren sich die Bewohner der Armenviertel selbst. Die Favela Paraísópolis in São Paulo, wo 100.000 Menschen leben, hat nun sogar Ärzte und Krankenwagen unter Vertrag.
    Die reguläre Ambulanz kommt nicht mehr. “Wir haben erkannt, dass die Sache groß wird und die öffentliche Politik die Favelas nicht erreicht”, sagte Gilson Rodrigues, eine der Verantwortlichen. “Also machen wir unsere eigene Politik”.
    Auch Bewohner anderer ärmlicher Siedlungen haben Informationskampagnen gestartet, Lebensmittel und Hygieneartikel verteilt sowie Datenbanken erstellt. “Alles bereitet uns Sorgen”, sagt Neila Marinho vom “Krisenkabinett” der Favela Complexo do Alemão in Rio de Janeiro. “Angefangen damit, dass die Leute wissen, was passiert. Bis dahin, dass wir ihnen Essen und Seife bringen.”
    In Europa kehrt wieder Normalität zurück, aber Brasilien hat gerade die Marke von einer Million Corona-Infizierten durchbrochen. Wie das brasilianische Gesundheitsministerium am Sonntagabend (Ortszeit) mitteilte, sind inzwischen mehr als 50.000 Menschenleben der Pandemie zum Opfer gefallen.
    Damit liegt das größte Land Lateinamerikas sowohl bei der Zahl der Infektionen als auch bei den Toten auf Platz zwei der am meisten betroffenen Länder der Welt. Nur in den USA ist es noch schlimmer. Die tatsächliche Zahl dürfte in Brasilien jedoch weit höher sein – auch, weil das Land sehr wenig testet.
    Die Armensiedlungen von Rio und São Paulo, wo viele Schwarze leben, leiden besonders. Den Bewohnern fehlt es oft am Nötigsten. “Wer hier wohnt, hat kein Wasser, um sich die Hände zu waschen”, sagt Gabriela Anastácia von der Sozialhilfe-Organisation “Observatório das Favelas”.
    Quelle: web.de
  10. Wie gefährlich ist Covid-19 im Vergleich zur saisonalen Grippe?
    Die Letalität von Covid-19 ist wahrscheinlich fünf- bis zehnmal höher als bei der Influenza
    In einer ersten Bilanz habe ich am 17.4.2020 in Telepolis beschrieben, dass es sich bei Covid-19 um eine gefährliche neue Viruserkrankung handelt. Grundlage dieser Einschätzung waren nicht so sehr Zahlen und Statistiken, die bis heute teilweise verwirrend sind, sondern vor allem die praktischen Erfahrungen, die die Behandler in den Kliniken mit der neuen Covid-19-Patientengruppe gemacht haben.
    In einem zweiten Artikel habe ich dann am 7.5.2020 dargestellt, dass das Virus im menschlichen Organismus “vom Kopf bis zu den Zehen” schwere Zerstörungen und erhebliche Schäden anrichten kann. Diese betreffen vor allem die Lunge, aber auch andere Organsysteme wie Herz und Kreislauf, Nieren, das Gehirn und die Blutgerinnung.
    Auch wenn es sich dabei um noch vorläufige Erkenntnisse aus den letzten Monaten handelt, die von vielen Ärzten und Wissenschaftlern weltweit zusammengetragen worden sind, so gibt es doch aus meiner Sicht keinen Zweifel daran, dass wir Covid-19 nicht unterschätzen oder auf die leichte Schulter nehmen dürfen.
    In den letzten Monaten sind allerdings auch eine Reihe von Veröffentlichungen in von mir bisher geschätzten alternativen Medien ins Netz gestellt worden, in denen die Position vertreten wird, dass eine besondere Gefährlichkeit von Covid-19 wissenschaftlich nicht belegt sei und die Sterblichkeit durch Covid-19 im Bereich der saisonalen Grippe (Influenza) liege.
    Quelle: Klaus-Dieter Kolenda auf Telepolis
  11. Sicherheitsstaat 4.0
    Neu ist, dass im Gegensatz zu früher – etwa bei den stark umkämpften Grundgesetzänderungen beim Erlass der Notstandsgesetze – die Verfassung einfach nicht mehr beachtet wurde. Wesentliche Grundrechte wurden unter Ausschaltung des Parlaments per Regierungsdekret faktisch außer Kraft gesetzt. Dies unter Rückgriff auf ein Seuchengesetz, das exekutive Ermächtigungen nur sehr vage definiert. Das im März 2020 neu gefasste Infektionsschutzgesetz enthält eine Generalklausel ohne jegliche Spezifizierung und bietet der Exekutive einen fast unbeschränkten Spielraum. Das ist nach den herrschenden Verfassungsgrundsätzen eigentlich unzulässig. Außer Kraft gesetzt wurden nicht nur Freiheits- und Eigentumsrechte, sondern auch das Demonstrationsrecht und damit ein zentrales Moment politischer Beteiligung. Eine bei Grundrechtseinschränkungen notwendige Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen fand nicht statt. Ein vom Grundgesetz überhaupt nicht vorgesehenes, aus der Kanzlerin und den Ministerpräsident*innen bestehendes Gremium wurde zum Gesetzgeber. Heraus kam ein autoritärer Staat unter Beibehaltung eines institutionell-demokratischen Beiwerks. (…)
    De facto wurde also eine Art von Notstands- oder Ausnahmestaat eingeführt, begründet mit der Gesundheitsbedrohung durch die Pandemie. Eine genaue und empirisch abgestützte Prüfung der Sinn- und Zweckhaftigkeit sowie der rechtsstaatlichen Zulässigkeit getroffenen Maßnahmen fand nicht statt. Und es wurde überhaupt nicht in Erwägung gezogen, die Einhaltung von Schutzmaßahmen den Leuten zu überlassen, was angesichts der insgesamt verbreiteten Einsicht in ihre Notwendigkeit durchaus sinnvoll gewesen wäre. Auch dies ist ein Aspekt des autoritären Staates.
    Die Frage ist, welche Interessen hinter dieser Entwicklung standen. Dies ist nicht ganz einfach zu beantworten, zumal man nicht davon ausgehen kann, dass hinter der Entwicklung ein planmäßig operierender Akteur steht. Vielmehr handelt sich um einen Komplex von Interessen, die in ihrem Zusammenspiel eine eigene Dynamik entstehen ließen. (…)
    Eine ganz zentrale Rolle spielte Kanzlerin Merkel, die schon früh auf rigide Schutzmaßnahmen drängte. Es lässt sich vermuten, dass es ihr auch darum ging, die Fehler nicht zu wiederholen, die die Flüchtlingskrisenpolitik 2015 gekennzeichnet hatten. Für die Politik insgesamt war wohl wichtig, auf jeden Fall nichts zu tun oder zu unterlassen, für das man hätte die Verantwortung hätte tragen müssen. Die weitgehend ungeprüft übernommenen und in ihrem jeweiligen Zusammenhang kaum bewerteten Horrorzahlen aus China und Italien gaben dazu einigen Anlass. (…)
    Man muss keiner Verschwörungstheorie anhängen wenn man vermutet, dass die Pandemie von einigen Akteuren dazu benutzt wird, den Sicherheits- und Ausnahmestaat auszubauen und nach Möglichkeit auf Dauer zu stellen. Die bevorstehende schwere Wirtschaftskrise mit ihren noch kaum abschätzbaren gesellschaftlichen Folgen dürfte dazu einigen Anlass geben. Ganz abgesehen von den sozialen Verwerfungen, die der Lockdown selbst auf längere Sicht nach sich ziehen wird. Es bedarf gar nicht einer zweiten Infektionswelle ab dem Herbst 2020: Die nächste Grippewelle kommt mit Sicherheit. Ein Indiz dafür ist wiederum der Umgang mit Zahlen. Angesichts abnehmender Infektionsfälle wird nun wieder die sogenannte Reproduktionszahl, die das Verhältnis zwischen bereits Infizierten und neu Infizierten bezeichnet. Diese muss tendenziell steigen, je weniger Infizierte es gibt. Ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin wenig aussagekräftig ist, solange die effektive Zahl der Infizierten gar nicht bekannt ist. Ihre Größe hängt wesentlich davon ab, in welchem Umfang getestet wird. Jetzt soll sie dazu herhalten, bereits bestehende Lockerungen wieder rückgängig machen zu können.
    Quelle: Links-Netz

    Anmerkung unseres Lesers S.R.: Joachim Hirsch hatte in den 80er Jahren als Professor für Politikwissenschaften an der Universität Frankfurt zentrale Arbeiten zur Form- und Funktionsbestimmung des bürgerlichen Staates veröffentlicht. Interessant ist, dass er in dem von ihm und anderen betriebenen Blog „links-netz“ am 14. April 2020 noch begründet hatte, warum die Redaktion sich einen Beitrag zur Corona-Krise erspart und lieber auf die virologischen Experten vertraut. Allerding schon verbunden mit der Kritik, dass der „autoritäre Ausnahmestaat per Regierungsdekret kommt.“ Erfreulich ist, dass er bereits fünf Wochen später dann diese kritische Bewertung geschrieben hat, die viele Aspekte beinhaltet, die auch auf den NachDenkSeiten diskutiert werden. Ich denke es wäre sinnvoll auf diesen Text hinzuweisen.

  12. Blocking Overblocking
    Das französische Gesetz gegen Hasskriminalität im Internet ist zu weiten Teilen verfassungswidrig – das hat der Conseil Constitutionnel am Donnerstag entschieden. Nach einem langwierigen und in Politik und Öffentlichkeit kontrovers diskutierten Gesetzgebungsverfahren hatte die französische Nationalversammlung das Gesetz am 13. Mai 2020 beschlossen. Das Inkrafttreten war bereits für den 1. Juli geplant. Daraus wird nun nichts: Die Kernelemente des Gesetzes verstoßen laut Conseil Constitutionnel gegen die Meinungsfreiheit, garantiert in Art. 11 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Just am selben Tage, an dem der Conseil Constitutionnel seine Entscheidung verkündete, sendete Deutschland gegenteilige Signale: Der Bundestag hat am Donnerstag das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität verabschiedet. Der deutsche Gesetzgeber ändert darin unter anderem das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) und bestätigt den auch in Deutschland umstrittenen Ansatz, Netzwerkanbieter im Kampf gegen Hass im Netz stärker in die Verantwortung zu nehmen. Was folgt aus der französischen Entscheidung für die verfassungsrechtliche Bewertung des deutschen NetzDG?
    In Frankreich wie in Deutschland ist die Befürchtung groß, dass bußgeldbewehrte gesetzliche Vorgaben, Meldewege einzurichten und Prüf- und Entfernungspflichten bestimmter strafbarer Inhalte auszugestalten, die Anbieter sozialer Netzwerke dazu verleiten, auch solche Inhalte zu löschen oder zu sperren, die nicht rechtswidrig sind – sogenanntes Overblocking. Der Conseil Constitutionnel stellt fest: „…les dispositions contestées ne peuvent qu’inciter les opérateurs de plateforme en ligne à retirer les contenus qui leur sont signalés, qu’ils soient ou non manifestement illicites“ – die angegriffenen Vorschriften setzen den Plattformanbietern Anreize, die ihnen gemeldeten Inhalte zu entfernen, seien sie offensichtlich rechtswidrig oder nicht (Rn. 19). Der Verfassungsrat teilt also die Befürchtungen nicht nur der Senator*innen, die aus Furcht vor Overblocking den Normenkontrollantrag gestellt und damit die verfassungsgerichtliche Entscheidung herbeigeführt haben. Auch in der französischen Öffentlichkeit wird die Entscheidung überwiegend positiv aufgenommen (vgl. etwa hier und hier, anders aber gestern in Le Monde). (…)
    Vom französischen Gesetz gegen Hass im Netz ist nun kaum noch etwas übrig. Dennoch bleibt angesichts dieses weiteren nationalen Vorstoßes eines marktmächtigen Mitgliedsstaats der Druck auf die EU groß, binnenmarkt-einheitliche Vorgaben für die Bekämpfung von Hass und Hetze in sozialen Netzwerken zu schaffen. Die Entscheidung des Conseil Constitutionnel verdeutlicht, welchen Herausforderungen die EU in einem so grundrechtssensiblen Bereich gegenübersteht. Wie sie im geplanten Digital Services Act mit dieser Aufgabe umgeht, bleibt abzuwarten. Bis dahin lohnt der regelmäßige gegenseitige Blick über die Grenze, um die Bekämpfung von Hass und Hetze im Netz ohne Schaden für die Meinungsfreiheit der Bürger*innen weiter zu optimieren.
    Quelle: Verfassungsblog
  13. Manipulationen am Tatort?
    Einer der ersten Zeugen am Tat-LKW auf dem Berliner Breitscheidplatz war Michael Roden, Schausteller mit eigener Bude auf dem Weihnachtsmarkt und als Vorsitzender des Berliner Schaustellerverbands zugleich einer der Verantwortlichen der Veranstaltung. Im Untersuchungsausschuss des Bundestags schilderte er jetzt seine Wahrnehmungen. Sein Stand lag etwa 80 Meter von der Anschlagsschneise entfernt. Als er etwa eine Minute später am LKW ankam, stand die Fahrertür sperrangelweit offen, die Beifahrertüre war geschlossen. Er sah im Cockpit nach rechts gebeugt einen toten Mann liegen.
    Seine Beschreibung des LKW-Inneren deckt sich nicht mit den Fotos, die die Spurensicherung später gemacht hat. Er sah innen ein “benutztes Fahrzeug”, wie es “in einem LKW eben aussieht”, so der Zeuge, aber “kein Chaos”. Die Bilder der Tatortermittler zeigen dagegen etwas anderes: ein wildes Durcheinander. Als ihm die Fotos im Ausschuss vorgelegt wurden, war er überrascht: Nein, so habe er die Kabine nicht in Erinnerung. Vor allem eine Stoffdecke, die auf den Bildern zu sehen ist, habe seiner Meinung nach dort nicht gelegen.
    Unter der Decke fanden die Spurensicherer der Tatortgruppe am Folgetag die Geldbörse, in der Anis Amris Duldungsbescheinigung steckte. Es ist das entscheidende Fundstück, das zu der Festlegung des Täters führte. Die zwei anderen Fundstücke, zwei Handys, waren nicht direkt als Eigentum Amris zu erkennen. Ein Handy wurde außen in einem Karosserieloch gesichert, das andere ebenfalls im LKW-Inneren. Doch während dieses Gerät mit Glasstaub bedeckt war, also tatsächlich im Fahrzeug gelegen haben muss, als es zu den Kollisionen auf dem Weihnachtsmarkt kam, fehlte auf der Geldbörse der Glasstaub. Sie lag unter jener Decke, die noch nicht dagewesen sein soll, als der Schausteller Michael Roden kurz nach dem Anschlag in die Kabine schaute.
    “Dann muss jemand den Tatort verändert haben”, so Ausschussmitglied Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) – oder wie sonst sei das Chaos in den LKW gekommen? Ist die Unordnung vielleicht durch die Bergung des toten Fahrers entstanden? Aber würde das auch das Gesamtbild und den fehlenden Glasstaub an der Geldbörse erklären?
    Quelle: Telepolis
  14. Einsprachigkeit kann töten
    In Bremen scheitern Polizisten daran, sich mit einem Mann in einer psychosozialen Krise zu verständigen – mit tödlichen Folgen
    Wenn ein Mensch infolge eines Polizeieinsatzes stirbt, ist ein entsetzlicher Fehler passiert. Immer. Wer schuld ist, dass am Donnerstag ein Mann im Gröpelinger Breitenbach-Hof erschossen wurde, spielt dabei eine geringe Rolle. Politisch relevant ist hingegen die Frage: Was im System hat dazu geführt, dass hier geschossen wurde? Ließe sich das künftig vermeiden?
    Darauf geben Smartphone-Videos vom Vorfall mehr Hinweise als auf die Frage, wohin der Todesschütze traf: Ob jemand verblutet, weil eine Polizeikugel seine Oberschenkel-Arterie durchtrennt – so starb ebenfalls am Donnerstag ein 23-Jähriger im Kreis Emsland – oder ob ein Vitalorgan beschädigt wurde, ist unwichtig. Gut lässt sich jedoch nachvollziehen, wie die Kommunikation scheitert zwischen den Polizist*innen und dem Mann, der später sterben wird.
    Und das macht klar, dass es kein Zufall ist, sondern Folge systeminhärenter Xenophobie, dass mal ein Marokkaner, mal ein Guineer Opfer werden. Denn die sehr erregte Ansprache der Profis verfängt sich sofort in rasendem Leerlauf: „Sie legen das sofort aus der Hand!“ – „Was haben Sie da?“ – „Leg das Messer weg!“ – -„Legen Sie das Messer auf den Boden, dann machen wir die Waffen auch weg!!!“ – „Mit Messer.“ – „Das Messer!“ – „Das Messer!!“ – „Legen Sie das Messer weg!!!“ – „Messer weg!“ – „Mach Pfeffer klar!“ – „Das Messer weg!!!“ – „Das Messer!“
    Es fehlt jeder Versuch, zu klären, ob der Umzingelte auch versteht, wozu er da aufgefordert wird. Es fehlt ein Versuch, in eine andere Sprache zu wechseln, Arabisch wäre gut, aber oft reichen schon Englisch, Französisch oder Spanisch, um einen gemeinsamen Kanal zu finden. Sich auf das Gegenüber, das gerade eine psychische Krise erlebt, einstellen zu können, das ist in einem Einwanderungsland oft eine Frage um Leben und Tod; in diesem Fall war es eine. Benötigt wird dafür eine Polizei, die nicht im monolingualen Habitus gefangen bleibt. Denn der ist tödlich.
    Quelle: taz

    Anmerkung unseres Lesers J.A.: Nun traue ich mir kein Urteil zu, was da passiert ist; selbst in einem anderen Artikel in der taz wird auf die ganz unterschiedlichen Bewertungen hingewiesen. Offenbar ist ein Mann aus Marokko in einer psychischen Extremsituation erschossen worden; ein Missverständnis, Tragik, eventuell Vorsatz der Polizei, was ich aber nicht hoffe und nicht glauben kann… Was ich aber weiß: dass die taz wirklich mit jedem Tag bekloppter wird. Für den Verfasser dieses Artikels ist das Geschehen “kein Zufall […], sondern Folge systeminhärenter Xenophobie”, weil (wieder einmal) ein Ausländer gestorben ist. Der Fehler der Polizei bestand nämlich darin, den Mann nur auf Deutsch angesprochen zu haben und nicht “in eine andere Sprache zu wechseln, Arabisch [oder wenigstens] Englisch, Französisch oder Spanisch”. Englisch mag noch nachvollziehbar sein, aber wer in Deutschland spricht Arabisch oder (ausreichend gut) Französisch oder Spanisch? Wissen wir, ob der Mann überhaupt Englisch verstand? Die Forderung (!) kommt von derselben Zeitung, die vor ein paar Tagen denselben (allen) Polizisten jedwede Qualifikation abgesprochen hat und sie zum Abfall schicken wollte, wo sie “unter ihresgleichen” wären. Aber die “Xenophobie” (Fremdenfeindlichkeit) bestand laut taz darin, dass die Polizisten nicht wenigstens eine Kommunikation auf Arabisch versucht haben. Bei einem Armenier also Armenisch, und bei einem Indonesier hätte die taz der Polizei mangelnde Fertigkeiten im Indonesichen vorgeworfen bzw. die angeblich *Weigerung* (?), diese Sprachen zu versuchen. Im Übrigen ist so ein Kommentar eine phantastische Negativwerbung für die von der taz postulierte Einwanderungsgesellschaft.

  15. MH17-Prozess: Viele Fragen offen, Verteidigung will mehr Zeugen hören
    Das JIT habe einseitig am Buk-Szenario festgehalten, die Verteidigung bringt den Abschuss durch ein ukrainisches Kampfflugzeug wieder ins Spiel
    Gestern wurde der MH17-Prozess nach der Verlesung der Anklage mit der Verteidigung fortgesetzt. Von den vier Angeklagten ist keine nach Den Haag gekommen, nur Oleg Pulatow, ein Reserve-Oberstleutnant der russischen Arme, lässt sich von Anwälten, einer russischen Anwältin und den niederländischen Anwälten Sabine ten Doesschate und Boudewijn van Eijck, vertreten. Die Angeklagten werden beschuldigt, führend in der Kommandokette zum Transport und zur Bereitstellung des Buk-Systems gestanden zu haben.
    Warum sich Pulatow, der die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zurückweist, durch Anwälte vertreten lässt, ist nicht bekannt. Manche vermuten, dass Russland interessiert ist, ein Bein in der Verhandlung zu haben und an Informationen zu kommen. Allerdings wäre ohne auch nur einen Vertreter der Angeklagten der Prozess eine groteske Veranstaltung. Die niederländischen Anwälte hatten sich von Beginn an kritisiert, nicht genügend Zeit zu haben, um die mittlerweile fast auf 40.000 Seiten angewachsene Gerichtsakte zu lesen.
    Quelle: Telepolis
  16. Überraschender Inhalt: Putins Artikel über den Zweiten Weltkrieg wurde veröffentlicht
    Ende 2019 hat Putin angekündigt, einen Artikel über die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges zu schreiben. Der sehr lange Artikel ist am Freitag veröffentlicht worden und sein Inhalt dürfte viele überraschen. Ich habe Putins Artikel übersetzt.
    Da Putins Artikel in der Tat sehr lang ist, erlaube ich mir dazu ein paar einleitende und zusammenfassende Worte, die aus meiner Sicht beim Verständnis des Artikels helfen.
    In seinem Artikel schlägt Putin einen sehr weiten Bogen. Er schreibt über das, was er in Archiven über den Weg in den Zweiten Weltkrieg und über den Verlauf des Krieges gefunden hat und beruft sich auf neue, in Russland veröffentlichte Originaldokumente. Das macht den größten Teil des Artikels aus.
    Aber Putin schlägt dann den Bogen weiter zur Nachkriegszeit und bis heute. Er plädiert dafür, aus der Vergangenheit zu lernen, nicht die Geschichte umzuschreiben oder bestehende Regeln und Institutionen, die seit 1945 einen neuen Weltkrieg verhindert haben, zu schwächen. Im Gegenteil plädiert Putin für die Beibehaltung und die Achtung des nach 1945 entstandenen Völkerrechts und er plädiert für das, was manche Journalisten als „neue Jalta-Konferenz“ bezeichnet haben, wie Putin ganz am Ende des Artikels schreibt. Auf dieser Konferenz – so Putins Wunsch – sollen sich die „Großen Fünf“ auf Regeln einigen, die auch in Zukunft einen globalen Konflikt verhindern können.
    Quelle: Anti-Spiegel
  17. Wieso soll das verboten sein?
    taz-Anwalt Johannes Eisenberg vertritt die taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah. Hier schätzt er Horst Seehofers Anzeigeankündigung ein.
    undesinnenminister Seehofer hat ein gestörtes Verhältnis zu Persönlichkeits- und Grundrechten: In Bremen hat er in grober Weise die Rechte der früheren Leiterin der Ortstelle des BAMF verletzt und diese verleumden lassen. Er weiß noch nicht einmal, was er über die AfD auf der Webseite seines Ministeriums veröffentlichen darf.
    Aber er weiß, und tut dies lautsprecherisch kund, dass sich die taz-Autor*in Yaghoobifarah strafbar gemacht hat mit dem Artikel „All cops are berufsunfähig“. Der Mann ist Verfassungsminister, er kennt die Verfassung nicht und missachtet das Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit.
    Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Vielzahl von Entscheidungen, zuletzt am 19. Juni 2020, auf die erforderlichen Abwägungsprozesse bei der strafrechtlichen Sanktion von Meinungsäußerungen hingewiesen. (Ein Anwalt wurde durch die Instanzgerichte verurteilt, weil er über einen Behördenvertreter im Kampf um das Recht geschrieben hatte, dessen Verhalten „sehen wir mittlerweile nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber an“.)
    Quelle: taz
  18. Stuttgart – Erklärungen jenseits von Alkohol und Testosteron
    In Stuttgart lebt man gut und glaubt, das Glück erfunden zu haben. Aber irgendetwas muss fehlen, wenn dort nun einige ihre Erfüllung in sinnfreier Randale suchen. […]
    Und doch gilt es, jenseits der notwendigen Bekundung von Solidarität mit den Ordnungskräften und Abscheu gegen sinnfreie Gewalt, auch nach Erklärungen zu suchen jenseits von Alkohol und Testosteron, obwohl diese Stoffe ziemlich viel erklären. Es gilt, sich der existenziellen Tristesse zu nähern, die sich Stuttgart nennt. […]
    Es ist etwas Verkrampftes und Unfrohes in der Stuttgarter Luft. Reich, aber unsexy. Als ich damals zu den Lehrbuchdiskussionen einflog, wusste ich schon, dass die Hälfte meiner Ideen scheitern würde an der genauen Lehrplankenntnis der mitarbeitenden Stuttgarter Lehrkräfte. “Hier steht aber unter Paragraf fünf, Absatz drei …”. Mein Einwand, dass in Berlin jedenfalls kein Mensch den Lehrplan liest, stieß auf blankes Unverständnis. “Mystiker ohne Phantasie” nannte Heinrich Heine die deutschen Pietisten, doch die Mystik der Stuttgarter Pietisten entzündet sich an Regeln: Lehrpläne und Bauordnungen, Kehrwoch und nach der Arbeit Viertele schlotzen. Ich weiß, dass schwäbische Bodenständigkeit mit Ursache für Deutschlands Wohlstand ist, aber sie ist auch zum Schreien. Oder zum Ausflippen nachts in der Fußgängerzone. Der Ministerpräsident des Landes, Ex-Maoist zwar, doch einer, von dem es heißt, er habe schon beim KBW vor allem das huldvolle Grüßen geübt, illustriert Heines Diktum perfekt.
    Quelle: Alan Posener in der ZEIT

    Anmerkung Jens Berger: Es ist erstaunlich und ärgerlich, wie Alan Posener eine Verbindung zwischen den gewalttätigen Krawallen am Wochenende und dem Widerstand gegen Stuttgart 21 zieht und dabei sogar noch mehr oder weniger elegant die Querfronthese hinausposaunt.

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