Die mediale Ermordung von Jeremy Corbyn

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Die NachDenkSeiten haben in den letzten Jahren immer wieder über Jeremy Corbyn und die unsäglichen Kampagnen gegen diesen bemerkenswerten Politiker geschrieben. Nun hat Corbyn – politisch leider postum – Schützenhilfe von ungewöhnlicher Seite erhalten. In einem äußerst lesenswerten Artikel rekapitulieren Peter Oborne und David Hearst den medialen Mord an Jeremy Corbyn. Oborne und Hearst sind Urgesteine des britischen Journalismus – Oborne gehört sogar zu jenen konservativen Stimmen, aus deren Reihen der mediale Mord begangen wurde. Susanne Hofmann hat diesen Artikel, der im Original auf „Middle East Eye“ erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung der Autoren für die NachDenkSeiten ins Deutsche übersetzt. Dabei sollte man auch immer im Hinterkopf behalten, dass auch die deutschen Medien die Lügen und Manipulationen der britischen Medien meist 1:1 übernommen haben.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die mediale Ermordung von Jeremy Corbyn

Der frühere Labour-Chef wurde Opfer eines sorgfältig geplanten und brutal durchgeführten politischen Attentats.

Während seiner gesamten parlamentarischen Laufbahn hat der sanftmütige, aufreizend ruhige Jeremy Corbyn immer starke Emotionen geweckt.

In den Augen seiner Gegner wird er als einer der schlechtesten Labour-Parteivorsitzenden in die Geschichte eingehen. Er ist daran gescheitert, seine Partei zu einen. Er sandte zu viele widersprüchliche Botschaften zum Brexit aus, dem wichtigsten Thema seiner Zeit. Er hat sich nie um Labours Antisemitismus-Problem gekümmert. Und bei den Parlamentswahlen erlitt er schließlich eine katastrophale Niederlage.

Für eine so lautstarke wie leidenschaftliche Schar von Bewunderern steht Corbyn dafür, dass er die Anzahl der Parteimitglieder verdreifacht, Austerität verbannt, den Diskurs des politischen Mainstreams nach links verschoben und eine wirklich radikale Alternative zum Sumpf des post-industriellen Kapitalismus präsentiert hat.

Wahrhaftiger Journalismus

Wir sind keine Corbyn-Anhänger.

Keiner von uns ist ein Labour-Parteimitglied, ja, einer von uns hat als Politikredakteur und Kommentator für den Spectator, den Daily Telegraph und die Daily Mail gearbeitet, drei Bollwerke politischer Meinungsmache im Sinne der Tories. Uns beiden liegt sorgfältiger, ehrlicher Journalismus am Herzen. Wir beide schätzen als britische Bürger die Tradition von Fair Play und Anstand.

Aus diesem Grund sind wir davon überzeugt, dass es jeden etwas angeht, welches Bild die britischen Medien von Corbyn während der vier Jahre seines Parteivorsitzes gezeichnet haben.

Corbyn war nie die monströse Figur, als die man ihn dem britischen Volk hingestellt hat. Er war nie Marxist. Er war nicht versessen darauf, den westlichen Kapitalismus zu zerstören. Er war Sozialist. Auch war er kein Antisemit, dafür gibt es keine stichfesten Beweise, was nicht heißt, dass wir ihn vom Vorwurf falscher Entscheidungen freisprechen, die zum Beispiel darin bestanden, sich als einfacher Abgeordneter in verschiedenen Internetforen getummelt zu haben.

Er war auch keine polarisierende Figur, was so viele seiner Gegner vom rechten Flügel gegen ihn ins Feld führten.

Politischer Mord

Eines von Corbyns Problemen bestand vielmehr darin, dass er mit seinen internen Feinden zu sanft umging, als er 2015 versuchte, die Labour-Partei nach seiner überraschenden Wahl zum Vorsitzenden zu einen. Er war ein unvollkommener Politiker, der Fehler machte.

Er besaß aber auch persönlichen Anstand und Authentizität, was man inmitten der tausenden verleumderischen Attacken, die in der Presse und in den Medien überhaupt gegen ihn lanciert wurden, kaum honoriert hat. Darum hielten wir es für wichtig, das erste große Interview mit Corbyn seit seinem Rücktritt als Labour-Vorsitzender am 3. April dieses Jahres zu führen.

Wir wollten ihm eine Chance geben, seine Sicht der Geschichte zu erzählen, was ihm als Labour-Chef weitgehend verweigert wurde. Wir wollten außerdem eine finstere Wahrheit ans Licht bringen; Corbyn fiel einem sorgsam geplanten und brutal ausgeführten politischen Attentat zum Opfer.

Man hat ihm nie eine Chance gegeben. Weder das Gros der Labour-Fraktion und viele Beamte, von denen einige, wie wir jetzt erfahren, heftiger gegen ihren gewählten Parteichef kämpften als gegen die Tory-Regierung. Noch hochrangige Persönlichkeiten, die mit dem britischen Staat in Verbindung stehen, einschließlich ehemaliger Spionagechefs, Militäroffiziere und Beamter, die es alle viel besser hätten wissen sollen.

Nehmen wir zum Beispiel die Behauptung, dass Corbyns Strategiechef Seumas Milne in Regierungsfunktion keine Unbedenklichkeitserklärung bekommen würde, weil er mit Putin „auf vertrautem Fuß“ war.

Der ehemalige Chef des Inlandsgeheimdienstes MI6, Sir Richard Dearlove, sagte der Mail on Sunday: „Man würde niemanden mit einem vergleichbaren Hintergrund auch nur in die Nähe vertraulicher Informationen lassen. Das käme nicht in Frage.“

„Das bedeutet, dass Corbyn die Urteile und Entscheidungen, die ein Premierminister treffen muss, nur treffen kann, wenn er ihn nicht mehr zurate zieht.“ Dearloves Nachfolger beim MI6 und ehemaliger Vorsitzender des Joint Intelligence Committee, Sir John Scarlett, war ein Jahr, ehe Milne ging, „auf du und du“ mit Putin und nahm seine Gastfreundschaft im Valdai-Club an.

Einer von uns trank in einer Bar in Moskau ein Gläschen mit einem extrem entspannten Scarlett, der sein Gespräch mit Putin und seinen Freunden offensichtlich genoss.

Unwahrheiten und falsche Darstellungen

Eine Lüge nach der anderen wurde Tag für Tag, Monat für Monat über Corbyn verbreitet. In den vergangenen vier Jahren haben sich nur wenige Journalisten darum geschert, ihre Arbeit zu machen, also Behauptungen auf Fakten zu überprüfen und fair über ihn zu berichten.

In unserer Rezension von Tom Bowers Buch „Ein gefährlicher Held” haben wir einen Mischmasch von Unwahrheiten und falschen Darstellungen untersucht und aufgedeckt. Dabei wurde das Buch als wichtige Biographie des Labour-Chefs von Harper Collins, einem der bedeutendsten britischen Verlage, veröffentlicht.

Wir haben aufgezeigt, wie Bower ein Treffen mit dem Palestinian Return Centre PRC falsch darstellte. Bower warf dem PCR vor, eine Gruppe zu sein, die die Schuld des Holocausts den Juden gab. Niemand, der mit dem PCR zu tun hat, hat jemals eine solche Ansicht geäußert, das hat eine Untersuchung unter der Aufsicht der Commissioner for Standards (Commissioner for Standards: aktuell Lucy Scott-Moncrieff – sie überwacht die Einhaltung des Verhaltenscodex im britischen Oberhaus; Anmerkung der Übersetzerin) dargelegt.

Der Verlag Harper Collins und Autor Bower erklärten sich damit einverstanden, die Behauptung nicht zu wiederholen. Die Mail on Sunday, die Bowers Buch als großangelegte Serie veröffentlichte, zog die Behauptung zurück und entschuldigte sich. Der entscheidende Punkt hier ist, dass solche Behauptungen kaum Bestand haben, wenn die Aussicht besteht, dass sie vor Gericht von Richtern, die sich an Fakten und Beweisen orientieren, ordentlich und in einem korrekten Verfahren geprüft werden.

Sir Keir Starmer, ausgebildeter Rechtsanwalt, bitte beachten Sie: Ein rechtmäßiges Verfahren ist unerlässlich. Davon war in den vergangenen vier Jahren in der Partei, deren Vorsitzender Sie nun sind, nicht die Rede. Wir haben gezeigt, wie Bower Corbyns Umgang mit dem National Health Service NHS falsch dargestellt hat. Er berichtet, dass der Streik der Assistenzärzte im Jahr 2016, den die British Medical Association BMA organisiert hatte, „unter der Kontrolle von Momentum (Momentum: politische Bewegung in Großbritannien zur Unterstützung Jeremy Corbyns und seiner Positionen; Anmerkung der Übersetzerin) gestanden hätte.“

Sowohl die BMA als auch Momentum bestritten dies. Die BMA sagte, „es gibt keinerlei Beweise, dass dies der Fall war.“ Bower hat jedenfalls sicherlich keine vorgelegt. Wir haben gezeigt, wie Bower eine Konfrontation zwischen dem Labour-Aktivisten Marc Wadsworth und der Labour-Abgeordneten Ruth Smeeth bei der Vorstellung von Shami Chakrabartis Antisemitismus-Bericht im Juni 2016 falsch dargestellt hat.

Dies war ein anderer Vorfall, auf den die Medien sich stürzten, um Corbyn zu attackieren. Bower schreibt, „Wadsworth fuhr sie an, dass sie nicht nur ‚Hand in Hand‘ mit den rechten Medien zusammenarbeite, indem sie mit dem Journalisten sprach, sondern dass sie auch Jüdin sei“.

Der kurze Vorfall wurde per Video aufgezeichnet. In dem Material sagt Wadsworth nirgends, dass Smeeth jüdisch sei. MEE hat mit zwei Augenzeugen dieser Veranstaltung gesprochen, beide haben bekräftigt, dass Wadsworth zu keinem Zeitpunkt gesagt habe, dass Smeeth jüdisch sei.

Gegen jede Form von Rassismus

Als die Wahl drohend näher rückte, haben große Teile der Presse Boris Johnson, Corbyns Tory-Gegner, als nationale Figur und als Retter der Nation dargestellt.

Dies war – wie die Nation jetzt auf die harte Tour lernt – eine ebenso schlimme Lüge wie alles, was über Corbyn erzählt wurde. Es ist eine seltsame Ironie, wie sie das Leben manchmal so hervorbringt, dass sich Johnson, im Gegensatz zu Corbyn, in der Tat schuldig gemacht hat, kränkende antisemitische Stereotype in die Welt gesetzt zu haben.

Eine Gruppe jüdischer Akademiker und Aktivisten wies darauf hin, dass einer von Johnsons Romanen eines der bösartigsten antisemitischen Stereotype ins Feld führte, als er „jüdische Oligarchen“ beschreibt, die, in den Worten der Wissenschaftler, „die Medien beherrschen und mit Zahlen tricksen, um die Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen“.

Wie uns Corbyn sagte, und wir halten ihn darin für aufrichtig, ist Antisemitismus ein Übel, das in der britischen Gesellschaft viel zu lange toleriert und akzeptiert wurde. Es ist allerdings nicht die einzige Form von Rassismus, die in politischen Kreisen geduldet wird. Der Kampf gegen diese Geißel sollte weder parteipolitisch sein, noch sollte der Kampf gegen Rassismus auf Rassismus gegen Juden beschränkt sein.

Rassismus gegen jedwede religiöse Minderheit ist inakzeptabel in unserer Gesellschaft, und aus diesem Grund sollte Islamophobie ebenso leidenschaftlich aufgespürt und bekämpft werden, wenn sie auftritt. Die beiden Kampagnen sollten Hand in Hand gehen, im Gleichschritt.

Tun sie aber nicht.

Lynchmob-Justiz

Eine andere Ironie besteht darin, dass Johnson, als er die Wahl gewonnen hatte, eine Reihe von Corbyns politischen Ideen umsetzte, die er zuvor als nicht praktizierbar abgelehnt hatte.

Seit er Premierminister ist, hat Johnson auf geplante Unternehmenssteuersenkungen verzichtet, er hat angekündigt, Northern Rail zu verstaatlichen und 100 Milliarden Pfund in Infrastrukturprojekte zu stecken.

Traditionell hat das, was in der Zeitung steht, in Großbritannien ein weitaus größeres Gewicht als beiläufige Bemerkungen in einer Kneipe oder am Arbeitsplatz. Es ist schwer vorstellbar, wie ein anständiger Mensch, der viel Zeitung liest oder die Berichterstattung der letzten Jahre mitbekommen hat, je für Jeremy Corbyn hätte stimmen können.

In der Tat äußerte sich Corbyn entsprechend in seinem Interview mit MEE und stellte fest, dass die Berichterstattung so feindselig gewesen sei, dass selbst er „nicht in derselben Straße leben möchte“ wie der Mann, über den er in einigen britischen Zeitungen gelesen hatte. Die Medien ließen jede Form von Objektivität oder Faktenprüfung fahren, die sie für fast alle anderen anwenden.

Ankläger wurden zu Richtern, Geschworenen und Henkern

Es gab kein rechtmäßiges Verfahren, keine unabhängige Prüfung von Fakten, kein Aufschieben des Urteils, bis die Tatsachen aufgedeckt wurden. Innerhalb von Sekunden wurde der Vorwurf zur neuen Realität. Dies war Lynchmob-Justiz.

Der Mob setzte sich durch. Corbyn ist wieder dort, von wo aus er seinen seltsamen Weg begann, er ist wieder Abgeordneter, der in North Islington und auf den Hinterbänken hoch angesehen ist. Seine Verbündeten wurden aus den vorderen Rängen verbannt.

Doch diese Episode sollte uns alle betroffen machen, die sowohl an Mittel glauben als auch an Ziele. Die einfache Frage, die sich jeder Abgeordnete jeglicher politischen Couleur stellen sollte, lautet: Was würde er tun, wie sich fühlen, wenn dieselbe Taktik gegen ihn angewendet würde? Sie würden dagegen als Foulspiel aufbegehren. Und damit lägen sie ganz richtig.

Diese Art von Mob-Politik bedroht die Demokratie selbst, denn ohne wahrheitsgemäßen und ehrlichen, öffentlichen Diskurs machen sich dunkle Mächte bemerkbar.

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