Strom gesperrt: Wenn einkommensarme Verbraucher in eine Abwärtsspirale geraten

Strom gesperrt: Wenn einkommensarme Verbraucher in eine Abwärtsspirale geraten

Strom gesperrt: Wenn einkommensarme Verbraucher in eine Abwärtsspirale geraten

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Jedes Jahr sperren die Energieversorgungsunternehmen mehreren hunderttausend Haushalten den Strom. Die Folgen für die Betroffenen sind oft weitreichend. Bei der Sperrpraxis liegt vieles im Argen, wie Stephanie Kosbab, Leiterin Projekt „Energiearmut“ bei der Verbraucherzentrale in Nordrhein-Westfalen, im NachDenkSeiten-Interview aufzeigt. Kosten für das Sperren und Entsperren, oft zu hohe Raten bei vereinbarten Tilgungsplänen, eine fehlende Deckelung der Kosten: Das sind einige der Punkte, die dafür sorgen, dass die ohnehin finanziell ins Straucheln geratenen Haushalte noch weiter belastet werden. Im NachDenkSeiten-Interview erklärt Kosbab, was sich ändern muss, und schildert, wie die Verbraucherzentrale Betroffenen hilft. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Angaben der Netzbetreiber zufolge wurde 2018 etwa 300.000 Haushalten der Strom gesperrt. Die Sperrungen haben finanzielle Folgen für die Haushalte. Warum?

Bevor gesperrt wird, sind im Vorfeld schon meist einige hundert Euro Energieschulden aufgelaufen. Bei 678 Euro liegt der Durchschnitt (Median) zum Zeitpunkt der Erstberatung im Landesprojekt „NRW bekämpft Energiearmut“ bei der Verbraucherzentrale NRW. Hinzu kommen unterschiedliche Inkassokosten. Energieversorger berechnen neben Mahnentgelten auch Kosten für Vor-Ort-Inkasso, Telefoninkasso, Sperrversuche, Versorgungsunterbrechung und Wiederanschluss. Wenn der betroffene Verbraucher das geschuldete Geld nicht in einer Summe bezahlen kann, können auch noch Kosten für Ratenpläne und Zinsen anfallen. Das ist von Versorger zu Versorger unterschiedlich. Der Strauß an Entgelten ist bunt und groß – was nicht heißt, dass alle Entgelte dem Grunde oder auch der Höhe nach zulässig sind. Sowohl die Sperrungen als auch die Entsperrungen kosten etwas.

Welche Kosten werden von den Energieversorgern in Rechnung gestellt?

Auch das ist sehr unterschiedlich. Die Spannbreite liegt bei zwei bis 199 Euro für die Anschlussunterbrechung und von zwei bis 150 Euro für die Wiederherstellung der Versorgung, so der Monitoringbericht der Bundesnetzagentur aus dem Jahr 2019. Diese Zahlen decken sich grob mit einer Recherche der Verbraucherzentrale NRW aus dem Jahr 2017. Damals hatten wir die Entgelte der NRW-Grundversorger unter die Lupe genommen und kamen zu vergleichbaren Ergebnissen.

Die hohen Kosten dürften die ohnehin finanziell unter knappen Mitteln leidenden Haushalte noch weiter unter Druck setzen. Wie sehen Sie das?

Das ist richtig. Meistens sind Menschen mit geringen Erwerbseinkommen oder Sozialleistungen von Energieschulden oder -sperren betroffen. Nach den Auswertungen unserer Budget- und Rechtsberatung bei Energiearmut sind 17 Prozent der Betroffenen mit Erwerbseinkommen oder Rente auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen, weil das Geld sonst nicht bis zum Monatsende reicht. Der Anteil für Haushaltsenergie in den Sozialleistungen bildet zudem nicht den durchschnittlichen Stromverbrauch der Haushalte ab. Dementsprechend können die Betroffenen weder Rücklagen bilden noch Zahlungsrückstände in Höhe von mehreren hundert Euro in einer Summe ausgleichen. So geraten Verbraucher in eine Abwärtsspirale, wenn sie die laufenden Abschläge bezahlen und gleichzeitig Energieschulden tilgen müssen. Häufig liegen bei den Betroffenen noch weitere Lebensbereiche im Argen, das erschwert die Problematik zusätzlich.

Welche Position vertritt die Verbraucherzentrale NRW?

Die Verbraucherzentrale NRW sieht Handlungsbedarf bezüglich der Transparenz von Nebenforderungen – also den Kosten, die im Zusammenhang mit dem Forderungseinzug stehen. Es ist überwiegend nicht nachvollziehbar, welche Kosten durch diese Vorgänge wirklich beim Versorger bzw. Netzbetreiber entstehen und durch die Entgelte ausgeglichen werden sollen. Daher fordern wir eine Deckelung der Mahn- und Inkassokosten sowie der Sperr- und Entsperrkosten. Ein Kostendeckel darf gleichwohl nicht bedeuten, dass Anbieter, deren Kosten niedriger sind, ihre Entgelte ohne Grundlage erhöhen.

Wie genau würde diese Deckelung aussehen? Wie hoch sollten die Kosten maximal sein dürfen?

Das ist einer der wesentlichen Knackpunkte in dieser Diskussion. Bei den Mahnentgelten sind Kosten über 2,50 Euro regelmäßig zu hoch. Das gilt im Übrigen nicht nur für Energieversorger, sondern auch für andere Gläubiger. Vor einigen Jahren haben wir die Auffassung vertreten, dass Sperr- und Entsperrkosten über 50 Euro nicht zulässig sind. Ich glaube heute, dass wir da zu hoch gelegen haben. Welche Kostenhöhe tatsächlich angemessen wäre, können wir derzeit wegen der Intransparenz bei den Versorgern nicht konkret beziffern. Hierzu ist ein neutraler Blick hinter die Kulissen der notwendigen Prozesse und der Kosten erforderlich.

Eine solche Obergrenze darf allerdings nicht allein von der Branche und ihren Beratern bestimmt werden. Eine Kommission aus Branchenvertretern, Verbraucherschützern und weiteren Experten wäre in der Lage, eine realistische und faire Größenordnung festzulegen. Dann müsste der Gesetzgeber den Deckel beschließen. Denn die Rechtsprechung gibt zwar schon länger Rahmenbedingungen für Mahn-, Sperr- und Entsperrkosten vor. Dennoch gibt es Wildwuchs bei den Entgelten. Dies lässt sich auch nicht allein mit der unterschiedlichen Infrastruktur in den Versorgungsgebieten begründen.

Lassen sich die derzeitigen Kosten überhaupt rechtfertigen?

Wenn wir von den niedrigeren Entgelten ausgehen, beispielsweise Sperrkosten von 20 Euro, mag das angehen. Sperrkosten über 50 Euro lassen sich aus unserer Sicht nicht rechtfertigen. Hier raten wir dazu, sich vom Energieversorger die Bemessungsgrundlage für die Entgelte nachweisen zu lassen.

Gibt es denn auch betroffene Haushalte, die sich aufgrund der Kosten für die Sperrungen bzw. Entsperrungen an Sie wenden?

Ja, wenn die Kosten für das Sperren und Entsperren besonders hoch sind oder die Entgelte für Mahnung und Inkasso im Vergleich zur ursprünglichen Forderung für die gelieferte Energie außer Verhältnis stehen. Dann wehren sich Verbraucher auch dagegen. In erste Linie kommen die Menschen aber zu uns, weil sie Sorge haben, gesperrt zu werden, oder schon gesperrt sind. Das bedeutet für sie den Verzicht auf Licht, Kühlschrank, warmes Wasser oder auch Heizung. Dann geht es darum, die akute und existenzielle Bedrohung abzuwenden oder zu beheben. Wahrscheinlich würden Verbraucher aus der Not heraus auch noch höhere Kosten bezahlen, obwohl sie wissen, dass sie die Gesamtkosten nicht stemmen können oder diese nicht zulässig sind. Meistens ist ihre Verhandlungsposition aber schlecht und sie bezahlen diese Entgelte dann trotzdem. Dabei achten sie dann nicht darauf, ob sie ihre Zahlungen auf Dauer durchhalten können.

Was sagen Sie den Betroffenen?

Die eigentliche Forderung ist meistens zumindest teilweise berechtigt. Wir versuchen dann häufig, mit dem Versorger eine tragbare Ratenzahlung zu vereinbaren. Gleichzeitig schauen wir uns gemeinsam mit dem Verbraucher sein monatliches Budget an und versuchen, einen Weg zu finden, dass er künftig seine Energierechnung stemmen kann. Damit die aktuell geschuldete Summe nicht durch zu hohe Kosten aufgebläht wird, versuchen wir auch, mit dem Energieversorger darüber zu verhandeln oder geben Verbrauchern den Hinweis, dass sie sich die Berechnungsgrundlage für diese Entgelte vom Energieversorger nachweisen lassen sollten. Die Deckelung der Mahn-, Sperr- und Entsperrkosten ist übrigens nur ein Aspekt von vielen bei der Vermeidung von Energieschulden, Energiesperren und Energiearmut. Hier braucht es weitere Maßnahmen und Instrumente, zum Beispiel die bedarfsgerechte und dynamische Anpassung der Kosten für Haushaltsenergie in den Sozialleistungen, den Ausbau nutzerfreundlicher Förderprogramme für effiziente Haushaltsgeräte oder ganz generell die bessere Messbarkeit von Energiearmut.

Titelbild: andriano.cz/shutterstock.com

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