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Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (WM/JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Russland lässt ersten Corona-Impfstoff zu – und erntet Kritik
  2. Joe Biden nominiert Kamala Harris – Wie wär’s mit uns, Biden?
  3. Folge der Pandemie: AOK erzielt im ersten Halbjahr Überschuss
  4. 14 Unternehmen wollen Kapital vom Staat
  5. Sollte Mietendeckel kippen, drohen hohe Nachforderungen
  6. Wertschätzung für Pflege-Personal in Coronakrise als „Show-Veranstaltung“ der Politik kritisiert
  7. Extreme Pfennigfuchserei: Wie die neuen Hartz-IV-Regelsätze kleingerechnet werden sollen
  8. Von wegen Mindestlohn von 12,00 Euro
  9. Kürzung, ja bitte!
  10. Nach Corona-Demo versetzt und suspendiert
  11. Mehrheit der Wirte befürchtet Pleite wegen Corona
  12. Bezahlen Steuerzahler die Flucht des spanischen Ex-Königs?
  13. Abgeblitzt in Moskau
  14. Die EU – ein Trümmerhaufen
  15. Trümmer globaler Machtspiele
  16. Hongkong-Streit: China antwortet mit eigenen Sanktionen gegen US-Personen
  17. Aggressive Türkei zündelt weiter
  18. Ahlams Schreie – Es gibt keine Freiheit ohne die Freiheit der Frauen

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Russland lässt ersten Corona-Impfstoff zu – und erntet Kritik
    Experten bemängeln: Ausreichend getestet sei das Mittel noch lange nicht. Es fehlen klinische Studien, die zeigen, dass es sicher und wirksam ist.
    Es klingt nach einem Fortschritt, aber genau betrachtet ist es ein Bluff – und dazu noch ein riskanter: Am Dienstag hat der russische Präsident Wladimir Putin die weltweit erste staatliche Zulassung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus bekanntgegeben. Die Registrierung sei am Dienstagmorgen erfolgt. Eine seiner beiden Töchter habe sich schon impfen lassen, sagte Putin.
    Hiesige Experten runzeln angesichts dieser Entwicklung die Stirn. „Diese Zulassung sagt nichts darüber aus, wie weit die russischen Forscher mit der Impfstoffentwicklung sind. Es ist im Grunde nur eine politische Absichtserklärung“, sagt Stephan Becker, Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Marburg, der zusammen mit Kollegen selbst an einem Impfstoff gegen Sars-CoV-2 forscht. Offenbar ändert man in Russland lediglich die Reihenfolge und lässt den Impfstoff zu, bevor er breit getestet wird. […]
    „Über den russischen Impfstoff ist hingegen noch nichts publiziert“, bemängelt Becker.Er hoffe, dass die Anwendung zunächst vielleicht nur eingeschränkt erfolgen darf. „Falls es sich aber nicht um eine solche konditionale Zulassung handelt und jeder Arzt in Russland den Impfstoff verabreichen darf, ist das in vielerlei Hinsicht leichtsinnig“, ergänzt der Experte. Er hat dabei nicht nur Bedenken, dass womöglich schwere Nebenwirkungen auftauchen. Er sorgt sich auch, dass dann keine systematische Handhabe da ist, um zu verstehen, ob der Impfstoff sicher ist und Schutz bietet. „Darüber hinaus ist diese Vorgehensweise Zündstoff für diejenigen Menschen, die ohnehin kritisch gegenüber Corona-Impfstoffen sind“, erklärt der Virologe.
    Quelle: Berliner Zeitung

    Anmerkung Jens Berger: Die Kritik am russischen Vorgehen ist im Kern gerechtfertigt. Die NachDenkSeiten haben erst vor zwei Wochen versucht, eine Debatte um die Covid-19-Impfstoffentwicklung anzustoßen und dabei insbesondere die verkürzten Testphasen bei methodisch neuen Impfstoffen kritisiert. Der russische Impfstoff gehört als Vektorimpfstoff dazu und die vorzeitige Zulassung wäre im Grunde nichts anderes als ein Überspringen der kompletten dritten und großen Teilen der zweiten klinischen Testphase. Das wäre in der Tat unverantwortlich, wenn der Impfstoff denn auch tatsächlich, wie es die Russen behaupten, von ihnen „zugelassen“ worden wäre. Das klingt aber auf der Internetseite des Impfstoffprojekts ganz anders

    Phase 3 clinical trial involving more than 2,000 people in Russia, a number of Middle Eastern (UAE and Saudi Arabia), and Latin American countries (Brazil and Mexico) will start on August 12. The vaccine has received a registration certificate from the Russian Ministry of Health on August 11 and under emergency rules adopted during the COVID-19 pandemic can be used to vaccinate the population in Russia. Mass production of the vaccine is expected to start in September 2020.

    Der Impfstoff wurde also nicht „zugelassen“, sondern „registriert“ und für die dritte Phase mit 2.000 Probanden freigegeben. Damit ist er der siebte Impfstoffkandidat, der in die dritte Phase geht. Vielleicht sollte man Putins Ankündigung daher mit einem Augenzwinkern lieber unter PR-Coup verbuchen. Schon lustig, dass ihm die Leitartikler da voll auf dem Leim gegangen sind und vor Wut schäumen. Nun dürfen wir gespannt sein, denn es ist davon auszugehen, dass sehr ähnliche – wenn auch nicht ganz so extreme – Verkürzungen auch bei den britischen, amerikanischen und deutschen Projekten durchgeboxt werden. Mal schauen, ob die Leitartikler dann ähnlich kritisch sind.

  2. Joe Biden nominiert Kamala Harris – Wie wär’s mit uns, Biden?
    Nicht zu links, nicht zu alt, nicht zu unerfahren, nicht weiß: Mit Kamala Harris kürt Joe Biden die Vizepräsidentenkandidatin, die für ihn das geringste Risiko darstellt. Das ist nur konsequent.
    Es hätte sachkundigere Kandidatinnen gegeben, wie die linke Senatorin Elizabeth Warren. Es hätte Frauen mit mehr Regierungserfahrung geben, wie Gretchen Whitmer, die Gouverneurin von Michigan. Val Demings, die Kongressabgeordnete aus Florida, wäre eine interessantere Wahl gewesen.
    Quelle: SPIEGEL Online

    Anmerkung Jens Berger: Diese Entscheidung ist in der Tat konsequent und durch und durch wahltaktisch. Harris hat sich vor allem durch eine Mischung aus „Law and Order“ und einer Politik einen Namen gemacht, die unsere Medien gerne mit dem Begriff „pragmatisch“ umschreiben. Außen- und sicherheitspolitisch setzt Harris konsequent den bedingungslos pro-israelischen und imperialistischen Kurs fort, den beispielsweise auch Hillary Clinton vertritt. Auch sozioökonomisch bleibt Harris weit hinter anderen potentiellen VP-Kandidatinnen wie Elizabeth Warren zurück. Sie ist eine Kandidatin des Establishments und ihre Nominierung ist ein Stinkefinger an den progressiven Teil der Basis. Doch was sollen diese Wähler tun? Trump wählen? Insofern kann Bidens Taktik durchaus aufgehen.

  3. Folge der Pandemie: AOK erzielt im ersten Halbjahr Überschuss
    • Die Vermutung hat sich bestätigt.
    • Das Freihalten von Intensivbetten und das Verschieben von Arztbesuchen im Frühjahr hat die Finanzen der Kassen massiv entlastet.
    • AOK-Chef Litsch warnt jedoch vor weiteren zusätzlichen Ausgaben und sinkenden Beitragseinnahmen.

    Die Corona-Pandemie hat im ersten Halbjahr bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) zu einem deutlichen Überschuss geführt. Nach Informationen des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) erzielten die AOK-Kassen bis Ende Juni ein Plus von 320 Millionen Euro. Im ersten Quartal gab es hingegen noch ein Defizit von 435 Millionen Euro.
    Ursache für diese Entwicklung ist ein bisher noch nie da gewesener Einbruch bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen nach Beginn der Pandemie. So wurden im Frühjahr praktisch alle planbaren Operationen in den Krankenhäusern verschoben, um Intensivbetten für Corona-Patienten freizuhalten. Aus Angst vor einer Ansteckung vermieden zudem viele Versicherte den Besuch beim Arzt oder beim Therapeuten…
    Quelle: RND

  4. 14 Unternehmen wollen Kapital vom Staat
    Infolge der Corona-Krise hat sich der Bund an Lufthansa beteiligt. Dabei wird es nicht bleiben.
    Nach der Teilverstaatlichung der Lufthansa prüft die Bundesregierung, sich an zahlreichen weiteren Unternehmen zu beteiligen. „14 Unternehmen haben bereits ausdrücklich Bedarf an einer Rekapitalisierung angezeigt“, sagte Wirtschaftsstaatssekretär Ulrich Nußbaum auf eine schriftliche Frage der Grünen-Politikerin Katharina Dröge nach einem Bericht des „Handelsblatt“.
    Bei der „weit überwiegenden Anzahl der Unternehmen“ stehe die Prüfung demnach am Anfang, fügte Nußbaum hinzu. Es ließen sich daher „zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine belastbaren Aussagen über die Art etwaiger Stabilisierungsmaßnahmen treffen“.
    Dass auf die Lufthansa weitere Unternehmen folgen, hatte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) unlängst im Interview mit der F.A.Z. wiederum schon angedeutet. Auf die Frage, wie viele Unternehmen der Bund in den kommenden Monaten ähnlich wie die Lufthansa unterstützen müsse, antwortete er: „Wir reden wahrscheinlich über einige Dutzend Fälle.“ […]
    „Dass so viele größere Unternehmen auf staatliche Unterstützung setzen, zeigt einmal mehr den Ernst der Lage“, sagte Grünen-Politikerin Dröge. Sie fügte hinzu: „Wenn es um direkte Staatsbeteiligungen geht, muss aber klar sein, dass es sich dabei um Rettungsbeteiligungen handelt und nicht um ein dauerhaftes Portfolio für Minister Altmaier.“ Die Bundesregierung müsse nun eine Strategie vorlegen, „wann und wie sie die Anteile wieder veräußern wird“.
    Quelle: FAZ

    Anmerkung unseres Lesers J.A.: Nicht “bitten um”, sondern “wollen” oder “fordern” Hilfe vom Staat (z. B. auch hier). Dieselbe Industrie, dieselbe Wirtschaft, die oder deren Interessenvertreter/Lobbyisten Mal für Mal fordern, der Staat solle sich aus der Wirtschaft heraushalten, insbesondere, wenn es um Arbeitnehmerschutz oder einen minimalen Mindestlohn – und das sogar jetzt, während der Staat den Unternehmen massiv hilft. Und schon immer (wsm-net.de/fileadmin/user_upload/wsm-net/documents/WSM_Nachrichten_3_2019_Web.pdf, handelsblatt.com/politik/deutschland/industrie-deutsche-unternehmen-fuerchten-im-internationalen-wettbewerb-abgehaengt-zu-werden/23801334.html?ticket=ST-3768205-VcVwO0mjf3fbE7sfSwvu-ap1), aber sogar während der Corona-Pandemie fordern der BDI, der DIHK, welcher Verbandschef auch immer unverdrossen Steuersenkungen – und gleichzeitig Hilfen vom Staat. Natürlich soll der Staat, so wurde viele Jahre lang gefordert, die Schulden abbauen, und der BDI befürwortete auch die Schuldenbremse; nur allmählich wächst die Erkenntnis, dass eine verrottete Infrastruktur doch nicht so toll ist. Die (für Unternehmen und Reiche) ohnehin viel zu geringen Steuersätze noch weiter senken, keine Schulden machen (trotz Rezession und Corona-Krise) und *gleichzeitig* der Wirtschaft mit Milliarden unter die Arme greifen: alle Forderungen zusammen genommen sind noch viel schwieriger als die Quadratur des Kreises. Aber: die Grundrente einzuführen (Kostenpunkt 1-3 Milliarden Euro pro Jahr, ein Klacks), “ruiniert die Wettbewerbsfähigkeit” und den Staatshaushalt gleich mit. Ist das eigentlich nur totale Unverschämtheit oder doch schon klinische Schizophrenie? Und dass den Grünen auch nur einfällt, dass sich der Staat so schnell wie möglich wieder aus seinen Beteiligungen zurück ziehen soll – dass der Staat sich aus der Wirtschaft raushalten soll -, zeigt doch auch nur, wes FDP-Geistes Kind diese Partei ist.

  5. Sollte Mietendeckel kippen, drohen hohe Nachforderungen
    Viele Vermieter sichern sich in Berlin jetzt mit zwei Mietpreisen ab – die Differenz ist mitunter enorm. Für die Mieter kann das noch sehr teuer werden.
    Wer derzeit eine Wohnung in Berlin sucht, findet schnell Angebote, in denen zwei Preise genannt werden. Da heißt es dann etwa in einem Inserat für eine Altbauwohnung in der Innenstadt, dass im Mietvertrag eine Nettokaltmiete von 1400 Euro für gut 110 Quadratmeter vereinbart werde. Solange jedoch der Mietendeckel gelte, sei der Zahlbetrag etwa halb so hoch.
    Ausdrücklich behalten sich die Vermieter zudem vor, die Differenz nachzuberechnen, wenn das Gesetz außer Kraft gesetzt werden sollte – und empfehlen dem Mieter, die Differenzbeträge dafür schon mal zurückzulegen.
    Der Hintergrund für die Regelung: Der günstigere Zahlbetrag orientiert sich an der gesetzlich festgelegten Obergrenze für Kaltmieten, die zum 23. Februar in Kraft trat. Der höhere Betrag spiegelt hingegen den Preis wider, den der Vermieter nehmen würde, wenn es das Gesetz nicht geben würde. Er soll dann fällig werden, wenn ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Mietendeckel kippen sollte…
    Quelle: SZ
  6. Wertschätzung für Pflege-Personal in Coronakrise als „Show-Veranstaltung“ der Politik kritisiert
    Der Vorsitzende des Vereins „Pflege in Bewegung“ und Leiter zweier Pflegeheime, Marcus Jogerst, hat den Umgang der Bundesregierung mit Pflegekräften kritisiert.
    Dass die Pflegebranche während der Corona-Pandemie als systemrelevant hervorgehoben worden sei, spüre man längst nicht mehr, sagte Jogerst im Deutschlandfunk (Audiolink). Die kurzzeitige Wertschätzung bezeichnete der Pflegeheim-Leiter als „Show-Veranstaltung“. Es sei einfach eine Pleite, die die Bundesregierung da hinlege. Es gebe weiterhin keine höheren Löhne und Arbeitsbedingungen. Nur Altenpfleger hätten einen einmaligen Bonus in der Corona-Krise erhalten, Krankenpfleger jedoch nicht. Dabei sei in den Krankenhäusern während der ersten Corona-Welle „eine massive Last“ getragen worden. Nach Jogersts Worten ist über Jahrzehnte die Lohnentwicklung in der Pflege hinter anderen Berufen zurückgeblieben. In der Industrie verdiene ein Facharbeiter an einer Maschine wesentlich mehr als ein „Facharbeiter am Mensch“. Das sei ein moralisches Unding, kritisierte der Pflegeheimleiter.
    Ähnlich äußerte sich der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus. Er warnte vor einer zunehmenden Personalnot in der Branche. Falls sich Bezahlung und Arbeitsbedingungen nicht verbesserten, drohe eine weitere Abwanderung von Pflegekräften, sagte Westerfellhaus der „Rheinischen Post“. Sie seien zu Beginn der Corona-Krise noch hochgejubelt und für systemrelevant erklärt worden. Doch schon jetzt gebe es großes Unverständnis, dass aus der Anerkennung bisher zu wenige nachhaltige Taten erwachsen seien, betonte Westerfellhaus. Er nehme beim Pflegepersonal eine Stimmung wahr, wonach sie in der Pandemie noch durchhalten, sich dann aber einen anderen Job suchen wollten.
    Quelle: Deutschlandfunk
  7. Extreme Pfennigfuchserei: Wie die neuen Hartz-IV-Regelsätze kleingerechnet werden sollen
    Politisch motiviert und methodisch unsauber
    Malstifte und die Kugel Eis für Kinder sind irrelevanter Luxus? Auf eine neue Waschmaschine soll man 13 Jahre sparen? Der DGB hat die Vorschläge des Arbeitsministeriums zur Neuberechnung von Hartz-IV analysiert. Und kommt zu einem vernichtenden Ergebnis: Die Regelsätze bekämpfen Armut nicht, sie zementieren sie.
    Alle fünf Jahre ist die Bundesregierung in der Pflicht, zu ermitteln, was ein Mensch im reichen Deutschland mindestens zum Leben braucht und die die Hartz-IV-Regelsätze neu festzusetzen. Am 12. August soll das Bundeskabinett über einen Vorschlag des Arbeitsministeriums zur Herleitung der Regelsätze beschließen. Der DGB hat den Gesetzentwurf analysiert und findet deutliche Worte: Die Regelsätze würden politisch motiviert kleingerechnet und Armut nicht bekämpft, sondern zementiert. Die Festsetzung sei methodisch unsauber und die Begründungen, die die neuen Regelsätze rechtfertigen sollen, seien teilweise unzutreffend und irreführend.
    (…) Methodisch fragwürdige Berechnungen
    Aus Sicht des DGB gehören viele der gestrichenen Ausgaben sehr wohl zu einem normalen Leben und zum Existenzminimum dazu. Die Verbrauchsstatistik zeige doch gerade, dass auch einkommensschwache Haushalte diese Ausgaben real tätigen, sie seien gesellschaftliche Normalität…
    13 Jahre sparen für eine Waschmaschine?
    Mit den Regelsätzen muss nicht nur der laufende Lebensunterhalt finanziert werden, sondern auch teure Anschaffungen bezahlt werden, etwa wenn die Waschmaschine oder der Kühlschrank kaputt geht und ein neues Gerät angeschafft werden muss. Auch die dafür in den Regelsätzen eingepreisten Ansätze werden aus den Verbrauchsausgaben der Vergleichsgruppe ermittelt. Aus Sicht des DGB ein „völlig untaugliches Verfahren, das zu realitätsfernen Kleinstbeträgen führt“…
    Quelle: DGB
  8. Von wegen Mindestlohn von 12,00 Euro
    der Mindestlohn steigt zum 01.01.2021 um 15 Cent auf 9,50 Euro brutto!
    Am 30. Juni 2020 hat die Mindestlohnkommission ihren Dritten Beschluss zur Anpassung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns gefasst und die Bundesregierung setzt den angepassten Mindestlohn durch eine Rechtsverordnung in Kraft. Am 01.01.2021 steigt der gesetzliche Mindestlohn auf 9,50 Euro, zum 01.07.2021 auf 9,60 Euro, zum 01.01.2022 auf 9,82 Euro und zum 01.07.2022 auf 10,45 Euro, jeweils brutto je Zeitstunde.
    Dieses Ergebnis ist nicht nur der Arbeit der Kommission „vor dem Hintergrund der vorliegenden Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Erkenntnisse zur Beschäftigungs- und Wettbewerbssituation“ geschuldet, sondern liegt einem Deal der Regierungsparteien zugrunde. Vor allem aber verdeutlicht es noch einmal, dass die Festlegung des Mindestlohns durch die staatlichen Institutionen die Gewerkschaften insgesamt vorführt und zeigt das Scheitern gewerkschaftlicher Lohnpolitik der letzten Jahrzehnte auf. (…)
    In Deutschland wurde im Jahr 2015 der Mindestlohn eingeführt. Heute, 5 Jahre später, werden immer noch viele Beschäftigte um ihren Lohn geprellt und dem Staat entgehen Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben.
    Neue Zahlen, die die Spezialeinheit Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) nun veröffentlichte zeigen, dass in Speditionen, Landwirtschaft, Pflegeheimen, Gastronomie- und Reinigungsgewerbe die Auszahlung des Mindestlohns viel zu selten kontrolliert wird. Die Unternehmen werden kaum vom Zoll behelligt, können ruhig schlafen…
    Die Umgehung der Zahlung des Mindestlohns ist in bestimmten Branchen besonders häufig anzutreffen, vor allem im Hotel- und Gaststättengewerbe, Einzelhandel und bei den privaten Haushalten. (…)
    Vor diesem Hintergrund und dem großen Rückhalt in der Bevölkerung für eine sofortige Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ist es völlig unverständlich, wie der DGB und seine Einzelgewerkschaften das Ergebnis der Erhöhung um 15 Cent pro Stunde brutto feiern können…
    Verschwiegen wird auch, dass die Gewerkschaften beim Prozess der Mindestlohnerhöhung hinter die Fichte geführt wurden. Laut Handelsblatt gab es einen Deal innerhalb der Großen Koalition: Die Union bekommt für die Zustimmung zur Grundrente von der SPD eine Stärkung der privaten Altersvorsorge. (…)
    Und damit ist eine moderate Lohnpolitik gefordert, mehr noch, sie wird für die nächsten Jahre in Stein gemeißelt.
    Der Beschluss der Mindestlohnkommission zeigt noch einmal, dass die Festlegung des Mindestlohns durch staatliche Institutionen die Gewerkschaften insgesamt am Nasenring durch die politische Manege führt und dokumentiert das Scheitern gewerkschaftlicher Lohnpolitik der letzten Jahrzehnte.
    Es ist aber ein hausgemachtes Problem, auch weil die Gewerkschaften die Zersplitterung des Arbeitsmarktes mit Leiharbeit, Werkverträgen und Solo-Selbständigkeit zugelassen haben und dass im Jahr 2018 nur noch für rund 46 Prozent der Beschäftigten in Deutschland das Beschäftigungsverhältnis durch einen Tarifvertrag geregelt war.
    Quelle: gewerkschaftsforum.de

    Anmerkung Christian Reimann: Interessant ist auch die recht lange Aufzählung der alltäglichen Tricksereien. Angesichts dessen klingt die Forderung der SPD-Chefin über Mindestlohn: “Das reicht bei weitem nicht” der Heuchelei zumindest ziemlich nahe.

  9. Kürzung, ja bitte!
    Viele übersehen, dass wir längst mittendrin in der Arbeitszeitverkürzung sind. Die Frage ist: Wer bezahlt dafür? – Derzeit die Beschäftigten und der Staat. So darf es nicht bleiben. Und auch die extreme Ungleichverteilung der Arbeitszeit zwischen Männern und Frauen muss sich dringend ändern – ganz besonders jetzt, wo Corona alles verschlimmert. Packen wir es an!
    Über eine Arbeitszeitverkürzung wollen sie nicht einmal diskutieren, heißt es aktuell vonseiten der Wirtschaftskammer, der Arbeitsministerin, der Wirtschaftsministerin und auch von allen anderen, die in der ÖVP etwas zu sagen haben. Eine Arbeitszeitverkürzung, das gehe gar nicht, meinen sie, diese würde der Wirtschaft schließlich massiven Schaden zufügen. Dabei hat die Verkürzung unserer Arbeitszeit vor über einem Jahrzehnt begonnen – wir sind also schon mittendrin! Denn egal ob es sich um die – auch von der Regierung gelobte – Kurzarbeit, Teilzeitarbeit oder die hohe Arbeitslosigkeit handelt, all das ist nichts anderes als eine Arbeitszeitverkürzung. Die Frage ist also in Wirklichkeit nicht, ob wir kürzer arbeiten sollen oder nicht, denn das tun wir ja ohnehin schon, die Frage ist vielmehr, wer dafür bezahlt. Bis jetzt sind das ausschließlich wir, die Beschäftigten, und das muss sich ändern…
    (…) Wir müssen also entweder die Löhne so radikal erhöhen, dass auch ein Teilzeiteinkommen zum Leben reicht, oder wir passen die gesetzliche Normalarbeitszeit endlich der Realität an. So sorgen wir gleichzeitig auch dafür, dass uns unser Arbeitsleben nicht krank macht und wir bis zur Pensionierung durchhalten, wir mehr Zeit für unsere Familien und Angehörigen gewinnen und den Sozialstaat entlasten – alles auf einmal. Einzig und allein die Scheuklappen der Nein-Rufer*innen müssten fallen, dann könnten wir alle einmal durchatmen und wieder optimistisch in die Zukunft blicken.
    Quelle: Arbeit & Wirtschaft
  10. Nach Corona-Demo versetzt und suspendiert
    Kritische Polizisten werden gemaßregelt
    Am Wochenende traten zwei Polizisten als Redner bei Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen in der Corona-Krise auf und kritisierten in deutlichen Worten die Rolle von Politik und Medien. Am Montag wurde einer der beiden suspendiert, der andere versetzt.
    Die beiden Polizisten, die am Wochenende auf verschiedenen Protestveranstaltungen gegen die Corona-Maßnahmen der Politik aufgetreten waren, haben bereits am Montag die ersten Konsequenzen ihres Handelns zu spüren bekommen.
    Michael Fritsch, ein Polizist aus Hannover, war am Sonntag in Dortmund auf der Veranstaltung der Initiative “Querdenken-231” aufgetreten. Dabei hatte er Politik und Medien Lügen vorgeworfen und die in der Corona-Krise getroffenen Maßnahmen als unrechtmäßig bezeichnet.
    Am Montagabend meldete die Hannoversche Allgemeine, dass die Polizeidirektion den Kriminalhauptkommissar suspendiert habe. Das Blatt wusste ferner zu berichten, dass die Polizei Hannover wegen des Auftritts “heftig in der Kritik stand”.
    Ähnlich erging es dem fränkischen Polizisten Bernd Bayerlein. Der Beamte hatte am Samstag in Augsburg auf einer Demonstration unter dem Motto “Fest für Freiheit und Frieden” über seine Erfahrungen in der Corona-Krise gesprochen und dabei mitunter beklagt, wie sich Deutschland durch das Verbreiten von Angst und Schrecken durch Politik und Medien in einen Denunziantenstaat verwandelt habe. Am Ende seiner Rede hatte er die anwesenden Polizisten aufgefordert, aufzustehen und sich dem Protest anzuschließen.
    Der Bayerische Rundfunk (BR) berichtete am Montagabend, dass das Polizeipräsidium Mittelfranken in Nürnberg den Mann intern versetzt habe…
    Quelle: RT
  11. Mehrheit der Wirte befürchtet Pleite wegen Corona
    Der Gaststättenverband Dehoga warnt vor einer „Pleitewelle ungeahnten Ausmaßes“. Besonders dramatisch sei die Lage bei den Clubs.
    Restaurants, Cafés und Hotels sind inzwischen zwar wieder geöffnet, doch zahlreiche Betreiber bangen wegen der Corona-Krise weiter um ihre Existenz. Etwa 60 Prozent der Betreiber von Gaststätten und Hotels in Deutschland kämpfen ums Überleben. Das ergab eine Umfrage des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga unter 7200 Gastronomen und Hoteliers.
    59,6 Prozent der Betriebe gaben an, dass sie die Corona-Krise inzwischen als Existenzbedrohung ansehen. Für den Zeitraum Januar bis Juli nannten die Befragten im Durchschnitt einen Umsatzverlust von 60,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Besonders dramatisch fiel das Minus mit 86,8 Prozent im April aus. Bezogen auf das Gesamtjahr rechnen die Betriebe mit einem Umsatzrückgang im Schnitt von mindestens 51 Prozent. Ein Grund für die Umsatzverluste sind auch die coronabedingten Vorschriften. Aufgrund der Abstandsgebote ist die Kapazität der Betriebe um durchschnittlich 42 Prozent eingeschränkt.
    Quelle: Berliner Zeitung
  12. Bezahlen Steuerzahler die Flucht des spanischen Ex-Königs?
    Der frühere Staatschef, der sich vor Korruptionsermittlungen ins Ausland abgesetzt hat, wird jedenfalls von aus Steuermitteln finanzierten Zivilgarden begleitet
    Der Skandal über die Flucht des ehemaligen spanischen Regierungschefs, der sich vor einer Woche vor laufenden Ermittlungen wegen Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Korruption ins Ausland abgesetzt hat, weitet sich aus. Es gibt mehr Drama. Längst war klar, dass die sozialdemokratische Regierung in die gesamten Planungen eingebunden war.
    (…) Ausgehen darf man davon, dass ein Exil-Land gewählt wird, das ihn sicher nicht an die Schweiz ausliefern wird. Denn wohl nur die Justiz der Eidgenossen könnte mit ihren Ermittlungen dafür sorgen, dass Juan Carlos zur Verantwortung gezogen wird. Von der politisierten Justiz in seiner Heimat hat der Ex-König von Diktator Francos Gnaden wenig zu befürchten. Für die Regierung ist die Flucht dienlich, denn sie muss sich nun nicht mit möglichen peinlichen Auslieferungsgesuchen der Schweiz herumschlagen. Dort wird nicht nur wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung ermittelt, sondern auch wegen Korruption…
    Mit allen Mitteln wollen die monarchistischen Sozialdemokraten erneut die Debatte abwürgen, die schon 2014 aufkam, als Juan Carlos wegen seiner ständigen Skandale abdanken musste…
    Einer Demokratie ist das unwürdig. Das gilt auch für die Tatsache, dass der König für seine Verbrechen während der Amtszeit “Unantastbarkeit” genießen soll. Deshalb wurden lange nicht einmal Ermittlungen gegen Juan Carlos in Spanien eingeleitet. Erst als die Schweiz aktiv wurde, sah man plötzlich auch in Madrid, dass er Gelder auch noch nach seinem Abdanken verschoben und keine Steuern bezahlt hat.
    Quelle: Telepolis

    Anmerkung Marco Wenzel: Zu dem Thema Spanien hatten auch die Nachdenkseiten gestern einen ausführlichen Beitrag gebracht: Ich bin dann mal weg: Ein König auf der Flucht.

  13. Abgeblitzt in Moskau
    Heiko Maas (SPD) hatte für seine Reise in die russische Hauptstadt am Dienstag einen Anlass: Am 12. August vor 50 Jahren war im Kreml der »Moskauer Vertrag« zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik unterzeichnet worden. Willy Brandt (SPD) schuf mit dem Abkommen die Voraussetzung für alle folgenden »Ostverträge«, vor allem die mit der DDR. Das hinderte allerdings den damaligen bundesdeutschen Außenminister Walter Scheel (FDP) nicht, bei der Vertragsunterzeichnung seinem sowjetischen Amtskollegen Andrej Gromyko einen Brief zu überreichen, in dem Bonn seinen Anspruch auf Einverleibung der DDR »in freier Selbstbestimmung« anmeldete…
    Maas würdigte auf einer Pressekonferenz mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow insofern zu Recht den Vertrag als Voraussetzung für die »deutsche Einheit« 1990. Die »freie Selbstbestimmung« hatten die Bonner jedoch wie die damals in Moskau Regierenden vergessen – und so geht seither permanent von deutschem Boden Krieg aus. 30 Jahre später mischt die BRD, sei es bewaffnet, sei es mit Sanktionen oder Drohungen, so ziemlich überall auf der Welt wieder mit, und ihr Außenminister führt sich entsprechend auf. In Moskau nahm er den Mord an einem tschetschenischen Dschihadisten im August 2019 im Kleinen Tiergarten von Berlin-Moabit zum Anlass, mit »weiteren Reaktionen« zu drohen, wenn Moskau nicht die Beweise liefert, die Berlin nicht hat. Dort wird nämlich behauptet, die Tat sei »im Auftrag von staatlichen Stellen der Russischen Föderation« oder Tschetscheniens als deren Teil verübt worden.
    Unter solchen Vorzeichen – Ausdruck neuer Aggressivität und neuen Größenwahns – wurde Maas am Dienstag nicht im Kreml empfangen. Er und Lawrow schauten sich lediglich das Original des »Moskauer Vertrages« an und würdigten ihn jeder auf seine Weise: Lawrow sprach von den sowjetischen Bemühungen um Frieden, Maas vom Anschluss. Der Rest war Routine, von einem Neustart wie 1970 keine Spur. Man war sich einig, dass man sich zu Syrien, Libyen, Sanktionen und Belarus uneinig ist.
    (…) Am heutigen Mittwoch gedenkt Maas als vermutlich erstes bundesdeutsches Regierungsmitglied offiziell der mehr als einer Million Opfer der Leningrader Blockade. Die am Dienstag geäußerte Hoffnung der Außenpolitikerin Sevim Dagdelen (Linke) allerdings, das könne »Auftakt sein für eine neue Entspannungspolitik«, wird sich nicht erfüllen. Maas hatte in Moskau anderes im Kopf.
    Quelle: junge Welt
  14. Die EU – ein Trümmerhaufen
    von Hannes Hofbauer, Wien
    (…) Der erste analoge Gipfel mit physischer Anwesenheit seit den Lockdowns war ein einziges Wundenlecken. Mitte März hatte die Europäische Union ihre bisher dunkelste Stunde erlebt. Ein Virus, oder besser: das Virus-Management, förderte zutage, was Worthülsen wie „europäische Solidarität“, „Grenzenlosigkeit“ und „Weltoffenheit“ wert sind, wenn es auf sie ankäme: nichts. Die ausschließlich nationalstaatlich verordneten Notstandsgesetze und Grenzschließungen hatten für EU-Kommission und EU-Rat den Charakter eines politischen Offenbarungseids. Brüssel war abgemeldet. Dazu kam der nun endgültige Rückzug der zweitgrößten Volkswirtschaft, Großbritannien. Der Vollzug des Brexit machte es für die übrig gebliebenen Mitglieder deutlich: Es wird teurer…
    (…) Was das Corona-„Rettungspaket“ noch offenbart, ist die Fortschreibung der ökonomischen Ungleichheit im „Euro“-Raum. Denn die Kreditvergabe von 360 Milliarden Euro (bei 390 Milliarden Zuschüssen) an hauptsächlich Staaten des europäischen Südens garantiert den Bestand des Systems, wonach Export-Länder wie Deutschland den Euro und billige Arbeitskräfte dazu nützen können, im Geschäft zu bleiben, und die Peripherie mittels Zuschüssen und Krediten notgefüttert wird. Damit kann ihre Nachfrage nach hochwertigen Industriegütern aus den Zentralräumen aufrechterhalten werden…
    (…) Der EU-Gipfel vom Juli 2020 hat zudem einen Vorgeschmack auf künftige Auseinandersetzungen gegeben. Blockbildungen innerhalb der Europäischen Union werden in Zukunft häufiger und nicht mehr hinter den Kulissen stattfinden. Die erfolgreiche Allianz der vier oder fünf Sparmeister wird Nachahmer finden. Zudem wurde deutlich, wie labil die entscheidende Achse Berlin-Paris ist, sie kann bereits nach dem nächsten Wahlgang der Vergangenheit angehören. Damit ist nicht nur die Abhängigkeit von den Urnengängen in Deutschland und Frankreich gemeint, sondern auch von jenem in den USA. Die Frage, wer nach dem Ausscheren Großbritanniens aus der EU das Liebkind Washingtons sein wird, kann auch Einfluss auf die deutsch-französischen Beziehungen haben. Sich von den USA zu lösen, dazu waren die westeuropäischen Einigungsbestrebungen seit dem Kohle-Stahl-Pakt des Jahres 1950 nicht gemacht und das scheint auch heute nicht auf der Tagesordnung zu stehen…
    Quelle: Das Blättchen
  15. Trümmer globaler Machtspiele
    Während Beirut die Toten betrauert, zeigt sich einmal mehr, wie die gesamte Region ins Chaos gestürzt worden ist: Einmischung aus dem Ausland hat viel dazu beigetragen
    Seit Jahren gilt die Region als instabilste der Welt, als ein Pulverfass, das jeden Moment in die Luft gehen kann. Die schreckliche Tragödie der vergangenen Woche wirft die größere Frage auf, wie viele Schocks solche fragilen, verletzlichen Staaten verkraften können, bevor sie zerreißen, zusammenbrechen und auseinanderfliegen. Ist der ganze Nahe Osten dabei, zu explodieren?
    Fast zehn Jahre, nachdem die Reformhoffnungen des Arabischen Frühlings in einem Sturm von Gewalt und Konterrevolution zerschlagen wurden, und zu einem Zeitpunkt, an dem die regionalen Spannungen erneut auf einen Höhepunkt zulaufen, steht möglicherweise ein Wendepunkt bevor.
    Schon lange ein gescheiterter Staat
    In vielerlei Hinsicht befand sich die libanesische Republik, die 1943 mit dem Ende der französischen Mandatszeit gegründet wurde, bereits vor der Explosion in einer existenziellen Krise. Ein gescheiterter Staat ist laut Definition einer, der seine Bevölkerung nicht schützen, ernähren und in Arbeit bringen, seine Grenzen nicht schützen und seine Schulden nicht bezahlen kann. Auf den Libanon treffen alle diese Kriterien zu.
    Die offizielle Fahrlässigkeit, die das Desaster am Dienstag vermutlich verursacht hat, ist ein typisches Ergebnis von Regierungssystemen, die von Parteigeist, Sektierertum, Korruption und fehlender demokratischer Verantwortlichkeit ausgehöhlt sind. Wieder lassen sich für die Regierung in Beirut in alle Kästchen ein Häkchen setzen. Und doch ist die Pest der Einmischung aus dem Ausland von all den Übeln vielleicht das schlimmste – und der Libanon ist ein Hauptopfer…
    Quelle: Der Freitag

    Anmerkung unseres Lesers K.B.: Dass Sie den Literaturhinweis # 15 Trümmer globaler Machtspiele unkommentiert verlinken, hat mich gewundert.

    Formulierungen wie:

    “Was auf den Libanon und den Irak zutrifft, trifft auch auf weite andere Teile des Nahen Ostens zu. Syrien wird allein durch die grenzenlose Brutalität der Assad-Regierung zusammengehalten, unterstützt von einem weiteren neoimperialistischen Räuber, Russlands Präsident Wladimir Putin. Aber die Provinz Idlib widersetzt sich weiter. Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass sich auch andernorts erneute Opposition regt. Ob der syrische Staat als Ganzes überleben wird, steht weiter in Frage.”

    scheinen mir keineswegs eine zutreffende Einschätzung der komplexen Lage in Syrien darzustellen, viel eher klingen sie wie NATO-Propaganda.

    Ich hoffe, es handelt sich um ein Versehen, denn ich schätze Ihre Website u.a. deswegen, weil sie normalerweise derartig einseitigen und verfälschenden “Informationen” eher Aufklärung entgegensetzen.

    Anwort von Jens Berger: Das ist in der Tat ein Versehen und ein Fehler, der passieren kann aber nicht passieren sollte. Tut mir leid. Wir haben den Hinweis so von einem Leser bekommen und nicht sorgfältig genug geprüft.

    Dazu auch: Hilfe mit kolonialem Gestus
    Beirut Nach der Explosion inszenieren sich verschiedene Staaten als Helfer. Doch sie alle haben ihre eigene Agenda. Echter Wandel kann nur aus der Zivilgesellschaft kommen
    (…) Das System Libanon, sein Staatsversagen und seine klientilistisch-religiöse aufgesplitterte Verwaltung und Politik, die unfähig ist für ein Gemeinwohl aller zu sorgen, ist ohne die internationalen Einflüsse, die ihre jeweilige Klientel gezielt fördern, nicht zu denken und zu erklären. Jede internationale staatliche Hilfe hat eine eigene politische Agenda, die sich den Floskeln der Humanität bedient. Wenn die alte Kolonialmacht Frankreich mit Präsident Macron als erstes im Libanon aufschlägt und strukturelle Veränderungen verlangt, lässt das wenig hoffen und viel fürchten. Es ist ein Wettrennen um politische Einflussnahme und Vormachtstellung, das jetzt über das Vehikel der Nothilfe stattfindet.
    Bei allen guten Ankündigungen besteht das vornehmliche Ziel darin, den Libanon – angesichts der unsicheren Lage der gesamten Region – zu stabilisieren. Diese eher hilflose Versuch den Status Quo zu wahren will verhindern, dass sich Flüchtlinge von dort nach Europa aufmachen, dass der Einfluss des Irans zu groß wird, dass die Banken wieder funktionieren und man die Hölle der Armut, zu der große Teile des Libanons geworden sind, nicht allzu offensichtlich sieht.
    Eine solche interessensgeleiteter Hilfe ist Teil der Katastrophenursache und nicht Teil ihrer Lösung sein. Wenn Macron so tut, als wisse er, wie die schwierige Lage im Libanon zu lösen ist, dann verbirgt sich dahinter nur die Fixierung auf alte Rezepte und die Hoffnung auf schnelle Ergebnisse, die sich, wie das aus anderen humanitären Krisen schon bekannt ist, im Nachhinein als fatale Konzepte neoliberaler Provenienz erweisen….
    Quelle: Der Freitag

    Und auch: Massenproteste, Besetzungen und Selbstorganisation im Libanon:
    Was da explodiert ist, ist der Kapitalismus. Pur. Und wer im Land von „Stuttgart 21“ jetzt nur „Korruption“ ruft – hilft jenen, die dieses System entwickelt haben…
    Die gewaltigen Massenproteste am Samstag, 8. August 2020, in Beirut hatten sich regelrecht angekündigt: Sowohl durch die Wut nach der tödlichen Explosion, als auch durch die monatelangen Proteste zuvor – und erst recht durch die tiefe Krise des kapitalistisch-korrupten Proporz-Systems. „Alle meint alle“ – die Parole der Besetzungen („alle sollen gehen“) ist die aktualisierte Version des argentinischen „Que se vayan todos“ vor rund 20 Jahren. So hatten es die Besetzerinnen und Besetzer der Ministerien in Beirut unterstrichen – dass sie ein Ende des Systems haben wollen und keinen der verschiedenen Repräsentanten, die von den Proporz-Kapitalisten hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden. Was auch deutlich macht, dass es viele geben wird, die die nun angekündigten Neuwahlen keineswegs mit Begeisterung zur Kenntnis nehmen werden. Die Polizei reichte nicht mehr – es musste die Armee „ran“ zur Verteidigung des Regimes. Und während die reaktionäre Hizbollah Drohungen gegen Demonstrierende ausstößt, sehen die diversen imperialistischen Kräfte eine Chance, eben diese Organisation los zu werden, beziehungsweise ihren Einfluss zu reduzieren. Die Trump-Mannschaft unterstrich, es müsse Freiheit für Demonstrationen geben – nicht in den USA, wo sie dagegen den Polizeistaat auffahren, sondern im Libanon – und die französische Polizei-Regierung tut dasselbe. (Über den wenig freundlichen Empfang der Bevölkerung Beiruts für Macron hatten wir bereits in unserem ersten Beitrag berichtet). Kein Grund, in diesem (zweitrangigen) Aufeinanderprallen reaktionärer Kräfte eine andere Partei zu ergreifen, als die jener Dritten, die auf den Straßen nicht nur Beiruts für eine Veränderung des Systems gegen die Wünsche von Hizbollah und Kapitalisten jeglichen Ursprungs eintreten. Siehe zu den aktuellen Auseinandersetzungen im Libanon, ihren Ursachen, Hintergründen und Perspektiven unsere ausführliche und kommentierte Materialsammlung „Beirut brennt weiter – jetzt vor Protesten“ vom 09. August 2020
    Quelle: LabourNet

  16. Hongkong-Streit: China antwortet mit eigenen Sanktionen gegen US-Personen
    Als Reaktion auf die US-Sanktionen gegen Politiker und Beamte in Hongkong und China hat die Regierung in Peking eigene Strafmaßnahmen gegen elf US-Bürger verhängt. Darüber informierte das chinesische Außenministerium am Montag.
    Sanktionen wurden demnach gegen die US-Senatoren Marco Rubio, Ted Cruz, Pat Toomey, Josh Hawley und Tom Cotton sowie den Kongressabgeordneten Chris Smith verhängt.
    Auf der Liste stehen auch Kenneth Roth von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und Michael Abramowitz, Präsident der von der US-Regierung finanzierten Organisation Freedom House. Es gab keine Informationen dazu, wie die Sanktionen konkret aussehen.
    „Als Reaktion auf das falsche Verhalten der USA hat China ab heute Sanktionen gegen diejenigen verhängt, die sich in Hongkong-Angelegenheiten abscheulich verhalten haben“, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums.
    Die USA hatten am Freitag wirtschaftliche Sanktionen gegen Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam und weitere Politiker in Kraft gesetzt. Ihre Vermögenswerte in den USA, falls sie solche haben, sollen eingefroren werden, außerdem dürfen US-Amerikaner mit ihnen keine Geschäfte mehr führen. Die betroffenen Personen sollen Washington zufolge „die Autonomie Hongkongs eingeschränkt“ und „die Rede- und Versammlungsfreiheit der Bürger Hongkongs untergraben haben“…
    Quelle: Sputnik

    Anmerkung Marco Wenzel: Dies ist nicht das erste Mal, daß China mit gleicher Münze zurückzahlt. Die Zeiten ändern sich, das neue, selbstbewußte und auch erfolgreiche China wird auf keinen Fall nochmals die Demütigungen der Vergangenheit, insbesondere wie damals von Großbritannien hinnehmen. Und das ist auch gut so!

  17. Aggressive Türkei zündelt weiter
    Erneut Kriegsgefahr im östlichen Mittelmeer: Die Türkei nimmt ihre umstrittene Suche nach Gasvorkommen vor griechischen Inseln wieder auf, Griechenland versetzt das Militär in höchste Alarmbereitschaft. Und was macht die EU? Sie ruft zum “Dialog” auf.
    Athen kündigte eine Sondersitzung des Regierungsrates für Außenthemen und Verteidigung (KYSEA) unter Vorsitz von Regierungschef Mitsotakis an, wie die staatliche Nachrichtenagentur ANA-MPA meldete. Zahlreiche Schiffe der Kriegsmarinen der beiden Nato-Staaten sind in dieser Region unterwegs, hieß es in Athen.
    Die Spannungen dürften bis zum 23. August anhalten – denn so lange will die Türkei ihre Gas Suche fortsetzen. Ende Juli hätte eine ähnliche Situation beinahe zum Krieg geführt. Kanzlerin Merkel konnte die Lage in letzter Minute entspannen – doch offenbar war ihr Vermittlungserfolg nur von kurzer Dauer.
    Denn Merkel setzt auf “Dialog”, während Sultan Erdogan eine Politik des “fait accompli” verfolgt. So hatte Erdogan mit der Übergangsregierung in Libyen die Seegrenzen im östlichen Mittelmeer neu gezogen. Athen ist nun nachgezogen – und hat und ein ähnliches Abkommen mit Ägypten geschlossen.
    Das will Erdogan nicht hinnehmen. Anders als vor wenigen Wochen will er offenbar auch keine Vermittlung Merkels mehr akzeptieren. Wer in dieser Lage auf die EU hofft, dürfte enttäuscht werden. Außenkommissar Borrell setzte zwar ein Statement ab, kündigte aber keinerlei Taten an.
    Dabei hätte die EU einen mächtigen Hebel: Das Zollabkommen mit der Türkei. Borrell könnte mit der Kündigung drohen – angesichts der akuten, sich täglich zuspitzenden Wirtschaftskrise in der Türkei wäre dies ein wirksames Instrument. Stattdessen setzen Merkel und Borrell weiter auf Appeasement…
    Quelle: Lost in Europe

    Dazu: Erdogan lehnt neues ägyptisch-griechisches Abkommen im Mittelmeerraum ab
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Freitag, dass das ägyptisch-griechische Abkommen über die Demarkation der Seegrenzen „wertlos und nichtig“ sei.
    Der türkische Präsident betonte, dass sein Land die Erschließung des östlichen Mittelmeers fortsetzen werde. Er wies darauf hin, dass sie auf Wunsch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel vorrübergehend gestoppt worden sei, dies für Griechenland und Ankara jedoch nicht verpflichtend sei: „Deshalb haben wir ein Schiff zur Erschließung des östlichen Mittelmeers geschickt, um nach Gas zu suchen“.
    Erdogan fuhr fort: „Wir brauchen nicht mit denen zu verhandeln, die keine Rechte im Bereich der maritimen Nutzungszonen haben“.
    Der türkische Präsident fügte hinzu, dass sich sein Land weiterhin „mit großer Entschlossenheit“ an die mit Libyen unterzeichneten Abkommen halten werde.
    Am Donnerstag unterzeichneten Griechenland und Ägypten ein Abkommen über die Demarkation ihrer Seegrenzen im Mittelmeer, das eine Antwort auf das Vorgehen der Türkei in der Region darstellt.
    Quelle: Linke Zeitung

  18. Ahlams Schreie – Es gibt keine Freiheit ohne die Freiheit der Frauen
    Hunderte Menschen versammelten sich am 22. Juli 2020 vor dem jordanischen Parlament, um gegen häusliche Gewalt zu protestieren und Gerechtigkeit und Sicherheit für Frauen einzufordern. Auslöser war die Ermordung von Ahlam, einer etwa 30-jährigen Jordanierin, die Augenzeugenberichten zufolge brutal von ihrem Vater erschlagen worden war.
    (…) Allgemein besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem moderaten Image, das Jordanien im Ausland pflegt, und der politischen Realität vor Ort. Am härtesten trifft es jene Frauen, die kein Einkommen haben oder über ihr Einkommen nicht selbst verfügen dürfen. Sie haben kaum praktische Möglichkeiten, sich gefährlichen Situationen in ihren Familien zu entziehen. Internationale Projekte, die performativ Initiativen zur Gleichberechtigung fördern, sind in vielen Fällen ungenügend und können die für Frauen gefährlichen Machtgefälle sogar stabilisieren. In dem Maße, in dem sich Jordanien als stabiles und sicheres Land inszenieren kann oder inszeniert wird, wird nicht danach gefragt, für wen diese Sicherheit gilt. Für Frauen wie Ahlam augenscheinlich nicht. Welchen Preis zahlen wir also für diese Stabilität, die uns angeblich schützt? Oder, um es wie die britisch-ägyptische Journalistin Yousra Imran auszudrücken: Jordanien hat zwar glitzernde Shopping Malls, Tech Start-ups, und schnelles Internet, die Gesetzeslage ist aber entschieden anachronistisch.
    Quelle: Rosa Luxemburg

    Anmerkung Marco Wenzel: Die Situation der Frauen präsentiert sich ähnlich besonders in den islamischen Ländern, aber nicht nur dort.

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