Liebe Reichsbürger, ich hätte da eine Bitte!

Liebe Reichsbürger, ich hätte da eine Bitte!

Liebe Reichsbürger, ich hätte da eine Bitte!

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Spätestens nach dem in letzter Sekunde von tapferen Berlinern Schupos verhinderten „Sturm auf den Reichstag“ ist klar: Nicht die Umverteilung von unten nach oben, der alltägliche marktkonforme Wahnsinn oder die immer aggressiver werdende Hurra-Humanismus des Wertewestens bedrohen die Grundfeste unserer Gesellschaft, sondern ein Häufchen verwirrter Heilpraktiker, die denken, das Kaiserreich hätte immer noch Bestand. Dabei sind die medial omnipräsenten Reichsbürger nur die skurrile Spitze eines Eisbergs, der bei unseren schlaueren Mitbürgern, zu einem sorgsam von den Medien konditionierten Reiz führt – sobald so ein Verschwörungstheoretiker, ein Trump- oder Putin-Fan oder – Gott bewahre – ein rechtsoffener oder gar rechtspopulistischer Rechtsextremist etwas vor sich hin schwurbelt, ist dies für die Stützen der Demokratie der ultimative Beleg dafür, dass das genaue Gegenteil richtig sein muss. Denn wer will sich schon mit solchen Leuten gemein machen? Diese „Deppen-Dialektik“ bietet – geschickt eingesetzt – eine große Chance, endlich was in dieser Gesellschaft zu bewegen. Eine Glosse von Jens Berger.

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Sobald auf einer Demo ein Hanswurst mit einer schwarz-weiß-roten Flagge gesichtet und nicht sofort von anderen Demonstranten gelyncht wird, steht fest: Diese Demo ist mindestens rechtsoffen, wenn nicht sogar was Schlimmeres. Das Praktische daran: Sobald der Gesinnungs-TÜV aufgrund solcher unentschuldbaren Vorkommnisse verweigert werden kann, spielen die Inhalte keine Rolle mehr. So geschehen bei den „Corona-Demos“ in Berlin und anderen Städten, so geschehen allerdings auch schon bei der Großdemonstration gegen das Handelsabkommen TTIP, bei der vor fünf Jahren eine viertel Millionen Menschen in Berlin den Aufruf von Gewerkschaften und Umweltverbänden folgten. Da darunter jedoch auch eine Handvoll „ganz Brauner“ waren, attestierte der SPIEGEL der Demo und damit auch deren Forderungen eine „im Kern eine dumpf nationalistische Geisteshaltung“. Vollkommen klar, wenn so ein „ganz Brauner“ sagt, es regnet, muss die Sonne scheinen und wenn die AfD eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland fordert, muss man als aufrechter Demokrat eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland fordern. Die beliebte Deppen-Dialektik ist halt losgelöst vom Inhalt und schon das „Ditfurth-Theorem“ besagt: Wenn Menge A sagt, Aussage B ist richtig und ein Wirrkopf oder Rechter Bestandteil der Menge A ist, gilt – Aussage B ist falsch. Daran gibt es nichts zu rütteln.

Dummerweise begibt es sich aber zu dieser Zeit, dass die Deppen-Dialektik stets nur dann Anwendung findet, wenn es um Forderungen und Aussagen geht, die dem Gruppenbekenntnis der in der Berliner Blase versammelten Altvorderen aus Politik und Hauptstadtjournalismus zuwiderlaufen. Doch das muss ja nicht so bleiben. Wenn die Deppen-Dialektik denn stets die reine unstrittige Wahrheit zutage bringt, dann ließe sie sich doch auch im guten, im progressiven Sinne gegen ihre Urheber einsetzen.

Was wäre beispielsweise, wenn ein dahergelaufener Reichsbürger plötzlich sagen würde: „Die demografische Entwicklung zwingt uns dazu, das Renteneintrittsalter zu erhöhen und die Renten zu kürzen“ und die Reichsbürger ihre schwarz-weiß-roten Flaggen beim nächsten FDP-Parteitag schwingen würden? Die Folgen wären kaum auszudenken! Angesehene Journalisten, wie die Kollegin Dorothea Siems von der WELT, stünden fortan unter Querfront-Verdacht und engagierte Wikipedia-Vielschreiber würden dies fix unter „Kritik“ in ihrem Eintrag vermerken. Jutta Ditfurth würde endlich die Linken in Ruhe lassen und künftig müssten die Mächtigen ihren heiligen Zorn fürchten. Professoren wie Bernd Raffelhüschen würden fortan als rechtsoffen gelten und um ihren Lehrauftrag bangen müssen. Sicher würde die SPD dann auch spontan ihr bisheriges Rentenkonzept in den Mülleimer werfen und im Namen des Antifaschismus eine Erhöhung der Renten fordern. Das wäre doch mal was. Nicht „Merkel muss weg!“, sondern „Merkel muss bleiben!“ ist die Forderung, die – wenn sie aus den richtigen Mündern kommt – unsere Gottkanzlerin zum sofortigen Rücktritt bewegen könnte.

Was wäre, wenn die AfD der Welt endlich ihre unverbrüchliche Freundschaft mit dem Lande Obamas erklären und für eine massiv Stärkung der friedenswahrenden Anstrengungen der NATO gegen die Bedrohung unserer Demokratie und unserer Werte durch den bösen Russen eintreten würde? Das müsste doch vor allem bei den Grünen zu einer geharnischten Gegenreaktion führen – wenn die Faschisten wieder gen Osten marschieren wollen, kann die Antwort darauf nur Abrüstung und eine Entspannungspolitik sein. Robert Habeck würde sich sicherlich im Namen der Friedenspolitik die Finger wund twittern und Cem Özdemir sich solange vor der US-Botschaft anketten, bis der letzte GI das Land verlassen hat. Nicht RT Deutsch, sondern die New York Times gälte dann als Fake-News-Schleuder, nicht Andrej Hunko, sondern Annegret Kramp-Karrenbauer wäre nun für die wohlmeinende Edelfedern des Tagesspiegels dann eine persona non grata.

Die Möglichkeiten, die eine geschickte Ausnutzung dieser antrainierten Reflexe bieten würde, sind wahrlich grenzenlos; allein es mangelt noch an Kooperation durch die üblichen Verdächtigen. Daher, liebe Reichsbürger, liebe Nazis und liebe Wirrköpfe jeglicher Couleur: Überrascht die Öffentlichkeit doch einmal mit unkonventionellen Forderungen. Ich zähle auf Euch, nur Ihr könnt uns noch retten.