Gedanken zur Qualität politischer Entscheidungen – aus Anlass der Corona-Entscheidungen

Gedanken zur Qualität politischer Entscheidungen – aus Anlass der Corona-Entscheidungen

Gedanken zur Qualität politischer Entscheidungen – aus Anlass der Corona-Entscheidungen

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Politik kann so oder so entscheiden: Auf der Basis eindimensionaler Daten und Emotionen oder auf der Basis differenzierter Analysen. Oder irgendwo dazwischen. Bundesregierung und Länderregierungen mussten im März schnell entscheiden, sie entscheiden auch heute wieder. Tun sie das auf der Basis differenzierter Analysen? Haben sie sich breit genug informiert, nicht nur von Virologen? Gehen die vermutlichen Folgen der Entscheidungen in die Erwägungen und Entscheidungsgründe ein? Wir haben Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten auch deshalb nach den Folgen, den Risiken und Nebenwirkungen der Corona-Maßnahmen gefragt und diese am Montag dokumentiert, weil wir ein Bild davon vermitteln wollten, welche Folgen die Corona-Politik hat, und weil wir zeigen wollten, wie ungenügend die Entscheidungsbasis der verantwortlichen Politiker in Deutschland oft ist. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Entscheidungen sind getroffen worden, ohne die Folgen ausreichend in die Abwägungen einzubeziehen. Das ist schon oft in der jüngeren Geschichte so geschehen. Wie am Rande der Dokumentation angekündigt, lade ich Sie dazu ein, in einem kleinen historischen Rückblick und anhand einiger so oder so getroffener Entscheidungen beispielhaft zu untersuchen, ob und welchen Grad der Umsicht und der Weitsicht es in Entscheidungen der Politik von 1949 bis heute gegeben hat. In der kurzen Übersicht wird sichtbar, dass von der Nachkriegszeit bis heute gravierende Fehlentscheidungen getroffen worden sind – wegen unzureichender Entscheidungsbasis, wegen der Unfähigkeit und/oder der mangelnden Bereitschaft, einen weiteren Kreis von absehbaren Folgen mit zu bedenken.

Ich beziehe – quasi zum Vergleich – auch Entscheidungen mit ein, die auf einer differenzierteren Basis von Informationen getroffen worden sind. Dabei greife ich auch auf persönliche Beobachtungen zurück, auch auf Erfahrungen, die ich in der politischen Zentrale der Bundesrepublik West, als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt, gemacht habe.

Bei unseren Leserinnen und Lesern, die in der DDR gelebt haben, muss ich mich zuvor dafür entschuldigen, dass die meisten der folgenden 9 Beispiele aus der Zeit der Trennung stammen. Aber sie waren und sind, wie das erste Beispiel schon zeigt, auch von Bedeutung für Bürgerinnen und Bürger in der DDR.

Noch eine Vorbemerkung: Ich werde mich teilweise auf Stichworte beschränken, um den Text nicht zu lang werden zu lassen. Vielleicht baue ich dann später das Ganze zu einem umfassenderen Essay über die Qualität politischer Entscheidungen aus. Da sich die politische Wissenschaft in Deutschland aus meiner Sicht viel zu wenig um dieses Anliegen kümmert, könnte das sinnvoll sein.

Eines kann man schon vorhersagen: Die Vertreterinnen und Vertreter der Quasi-Staatspartei CDU/CSU hatten durchgehend die Neigung, einfach zu erläuternde und emotional eingängige Entscheidungen zu treffen. Sie haben damit Wahlen gewonnen, auch wenn hinterher der angerichtete Schaden als erheblich notiert werden konnte und musste.

Neun Beispiele für wichtige politische Entscheidungen:

1. Die Entscheidung für die Wiederbewaffnung und damit für die Trennung der beiden Teile Deutschlands

Der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, überraschte den Innenminister seines Kabinetts, Gustav Heinemann (damals noch CDU), mit dem Angebot an die westlichen Alliierten, die Bundesrepublik Deutschland wieder aufzurüsten und letztlich auch in die westlichen Militärbündnisse einzubringen. Heinemann trat deshalb Ende 1950 als Innenminister zurück, dann später aus der CDU aus und gründete eine eigene Partei, die Gesamtdeutsche Volkspartei. Er und seine neuen Parteifreunde wollten verhindern, dass die Bundesrepublik Deutschland mit der Re-Militarisierung, dem Eintritt in die NATO und der sogenannten Westbindung die Chance vergibt, und stattdessen unserem Volk damals auf der Basis der politischen und militärischen Neutralität die Chance erhalten, die beiden Teile Deutschlands wieder zu vereinigen.

Adenauer und seine Freunde haben nicht die negativen Folgen ihrer Entscheidung für die Deutschen in der DDR beachtet. Sie haben nicht beachtet, was an Kaltem Krieg bis hin zum Mauerbau ins Haus stand. Dafür sprachen sie umso mehr von „Brüdern und Schwestern“.

Ihre einseitige und egoistisch auf den Vorteil der Bürgerinnen und Bürger im Westen bedachte Entscheidung war im Westen leicht zu verkaufen. Die Westbindung und die Freundschaft mit den USA tat der Seele gut. Wir gehörten zum Verein der Guten und grenzten uns ab von den bösen Kommunisten und „Soffjets“, wie Adenauer zu sagen pflegte. Alles passte. Die emotionale Gewalt des Kampfes der Nazis gegen Kommunisten und Slawen floss in die westdeutsche Agitation ein. Wahlpolitisch war das exzellent für CDU und CSU. Sie erreichten 1957 die absolute Mehrheit.

An diesem Beispiel kann man schon zeigen, dass in der jüngeren Geschichte unseres Landes die Konservativen, namentlich die CDU/CSU, von Entscheidungen, die auf einer verkürzten, aber emotional fruchtbaren Entscheidungsbasis getroffen worden sind, profitierten. So ist es vermutlich heute noch. Merkel und Söder spielen auf diesem Klavier. „Die im Dunkeln sieht man nicht“, die dort eintretenden Folgen waren damals wie heute unbedeutend für die großen Entscheidungen.

Wahrscheinlich vertritt mit mir nur eine kleine radikale Minderheit diesen Blick auf die Geschichte unseres Volkes in einer entscheidenden Zeit – 5 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber das ändert ja nichts daran, dass man die Qualität der damaligen politischen Entscheidung zugunsten der Westbindung und der Trennung unseres Volkes für schlecht halten kann.

2. Die Nutzung der Kernenergie

Ende der Fünfzigerjahre ist in Deutschland-West die Entscheidung getroffen worden, Atomkraftwerke zu bauen. Das erste ist 1962 ans Netz gegangen. In die Ende der Fünfzigerjahre getroffene Entscheidung ist die Entsorgungsproblematik nicht eingegangen. Es ist eindeutig nicht beachtet worden, dass die Endlagerung für eine Million Jahre gesichert werden muss. Das kann aus heutiger Sicht keine Politikerin und kein Politiker verantworten. Deshalb muss man feststellen, dass die damaligen Entscheidungen auf der Basis mangelhafter Folgenabschätzung getroffen worden sind. Vermutlich war die Lobby so stark, dass die politisch Entscheidenden die Bedenken über Bord geworfen haben.

3. Chemisierung der Landwirtschaft und Flurbereinigung und die Folgen: dramatischer Verfall der Tierarten

Am 19. Oktober berichtete die Tagesschau von einem EU-Bericht unter dem Titel: „Wenn die Feldlerche nicht mehr singt“. Im Anhang wird der gesamte Text wiedergegeben. Der Bericht gibt wieder, welche Folgen die Chemisierung und Intensivierung der Landwirtschaft und die dafür als notwendig erachtete Flurbereinigung und Zersiedelung der Landschaft hatte und hat.

Nun könnte man behaupten, dass die Entwicklung der Landwirtschaft, wie wir sie heute vorfinden, notwendig war, um die Europäer zu ernähren. Dass dies eine falsche Diagnose ist, sieht man schon daran, dass Europa in andere Kontinente exportiert und dort wie zum Beispiel in Teilen von Afrika zu einem Ruin der dortigen Landwirtschaft beiträgt.

Man könnte auch behaupten, man habe die dramatische Entwicklung des Artenverfalls nicht vorhersehen können und nicht gewusst, dass zum Beispiel die Flurbereinigung solche Folgen haben wird. Dass diese Behauptung falsch ist, kann ich persönlich bezeugen: In meiner Heimatgemeinde Meckesheim im Kraichgau wurde die Flurbereinigung und damit kombiniert auch die Aussiedlung von landwirtschaftlichen Betrieben, die bisher im Dorf selbst wirtschafteten, in der 2. Hälfte der Fünfzigerjahre diskutiert. 1959 wurde der Flurbereinigungsbeschluss gefasst. Im konkreten Fall sah die Flurbereinigung vor, dass die Hügellandschaft, die durch Hohlwege und sogenannte Klingen – das waren mit Hecken und Bäumen bestandene Abbrüche – reich gegliedert war, plattgemacht wird. Hohlwege und Klingen wurden eingeebnet und der landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt. Damit waren die Rückzugsflächen für Vögel und anderes Getier vernichtet. Obendrein verringerte die unter menschlichen und ökonomischen Gesichtspunkten völlig abstruse Aussiedlung und Zersiedelung die Anzahl zusammenhängender, beruhigter Flächen. Den großen Rest erledigte die Chemie. So oder ähnlich lief es in anderen Teilen unseres Landes.

Ich erwähne diesen Vorgang deshalb, weil ich belegen kann, dass die Folgen damals schon absehbar waren. Eine kleine Gruppe von Jüngeren hat schon damals gegen diese Art von Flurbereinigung gestritten. Und wir haben auch vorhergesagt, wie unsinnig die Aussiedlung und Zersiedelung ist. Man konnte die Folgen kennen, aber man hat den Hinweis auf die Folgen beiseitegeschoben. Die Hauptverantwortlichen für diese massive Umgestaltung der Landschaft waren in Baden-Württemberg die von der CDU gestellten Landwirtschaftsminister und ihre Regierungen.

Wenn wir damals schon darauf bedacht gewesen wären, in Deutschland und in der EU wirklich gute politische Entscheidungen zu treffen, dann hätten wir die – heute noch gültige – Agrarpolitik so nicht eingetütet. Insofern ist das Beispiel auch für die heutige Debatte um die Corona-Politik von Relevanz.

Übrigens gibt es zum Vorgang „Flurbereinigung“ – diesem entsetzlichen Wort – eine eher heitere Episode: Eine der Klingen im freien Feld zwischen meinem Heimatdorf und einem schönen Wald, dem Rückwald, war nach einem in Höhlen lebenden Italiener mit dem Namen Francesco benannt – „Dachsenfranz-Klinge“. Er lebte vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg in unserer Gegend. Die „Dachsenfranz-Klinge“ ist auch zum Opfer der Flurbereinigung geworden, sie gibt es nicht mehr, stattdessen ein nach ihm benanntes Bier.

Noch eine Anmerkung zum Gesamtthema „intensive landwirtschaftliche Nutzung und Folgen für Natur und Umwelt“: Moritz Müller macht darauf aufmerksam, dass das, was bei uns mit der Flurbereinigung betrieben worden ist, in Irland unter dem Begriff „land making“ läuft. Der Guardian hat sich am 28. September dieses Jahres mit den nicht bedachten Folgen – unser Thema – befasst. Siehe hier.

4. Aufwertung der D-Mark im Jahre 1969 statt eines hohen Lieds auf die Exportweltmeisterschaft

Im Jahre 1968 war deutlich sichtbar geworden, dass die D-Mark unterbewertet ist. Es gab Spekulationen gegen den Dollar. Im damaligen Währungssystem war es dann Aufgabe der Bundesregierung, den damals staatlich bestimmten Wechselkurs zu verändern, die D-Mark aufzuwerten. Der damalige, für die Währungspolitik zuständige Bundeswirtschaftsminister Professor Dr. Karl Schiller hat diese Aufwertung in internen Gesprächen und auf Konferenzen schon im Jahre 1968 und dann definitiv am 9. Mai 1969 vorgeschlagen. Der damalige Bundeskanzler Kiesinger (CDU) hat auf Betreiben des Bundesfinanzministers Franz Josef Strauß (CSU) die Zustimmung verweigert. Das Thema wurde zum Wahlkampfthema. Ich wurde als Redenschreiber von Schiller damals mit der Umsetzung dieses schwierigen Themas im Wahlkampf beauftragt.

Die Neinsager um Franz Josef Strauß hatten alle populären Argumente auf ihrer Seite: unsere Exportüberschüsse waren riesig groß. Wir waren fast schon Exportweltmeister. Und die Rüstungs- und Flugzeugindustrie im Raum München machte Druck gegen die Aufwertung.

Schiller und seine Partei, die SPD, hätten sich damals der populären Linie anschließen können und Propaganda machen können, wie Schäuble und Merkel es im letzten Jahrzehnt gemacht haben. Sie hätten sich als Helden für die hohen Leistungsbilanzüberschüsse feiern lassen können. Aber damals hat man die Folgen dieser Währungsschieflage bedacht und auf andere Völker Rücksicht genommen und deshalb das Auseinanderdriften beendet. So verschieden fällt Politik aus, wenn man die Folgen der eigenen Entscheidungen bedenkt oder nicht bedenkt.

5. Vorschlag für eine Geburtsprämie von 2000 DM

Mitte der Siebzigerjahre, es muss 1976 gewesen sein, tagte im Umfeld des Statistischen Bundesamtes und des Bundesinnenministeriums ein Kreis von „Bevölkerungsexperten“ meist konservativer Herkunft. Aus diesem Kreis kam ein Vorschlag für den damaligen Bundesinnenminister Maihofer (FDP): Für jedes neugeborene Kind sollte eine Prämie von 2000 DM gezahlt werden. Dieser Vorschlag wurde auch dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt präsentiert und in mehreren Medien wurde mit der Drohung vom angeblich „sterbenden Volk“ Stimmung gemacht. Insbesondere die CDU/CSU hat sich bei diesem Thema engagiert.

Die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes hat dem Bundeskanzler vorgerechnet, was das für den Bundeshaushalt bedeuten würde. Viel wichtiger waren aber die Argumente erstens, dass die Parole vom sterbenden Volk eine Schimäre, eine Propagandaparole, ist, und dass zweitens mit einer einmaligen Zahlung von 2000 DM Frauen, die man mit dieser Prämie locken wollte, und ihren daraufhin geborenen Kindern nicht geholfen ist. Wir haben dafür plädiert, die Folgen zu bedenken.

Die Planungsabteilung wurde in der öffentlichen Debatte publizistisch tätig, um den Vorstoß der Bevölkerungspolitiker zu kontern. Der Vorschlag der „Experten“ für Demographie und des Bundesinnenministers wurde nicht akzeptiert.

6. Fortsetzung des Dialogs mit der Sowjetunion und den Warschauer Vertragsstaaten trotz militärischer Intervention der Sowjetunion in Afghanistan 1980

Die meisten Beobachter des Geschehens – zeitgenössische Journalisten, Politologen, Historiker – haben nicht notiert, dass die Entspannungspolitik und damit letztlich auch die Wiederherstellung der deutschen Einheit zwischen Dezember 1979 und dem 11. Mai 1980 gefährdet war. Ich skizziere den Vorgang in Stichworten, einschließlich der notwendigen Einzelheiten:

  • Am 24. Dezember 1979 intervenierte die Sowjetunion mit einer militärischen Invasion in Afghanistan.
  • Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß und kommende Kanzlerkandidat der Union verkündete daraufhin, dies sei das Ende der Entspannungspolitik.
  • Innerhalb der damaligen Bundesregierung Schmidt war die Reaktion zunächst unklar.
  • Die Planungsabteilung beauftragte im Februar 1980 das Sinus-Institut in Heidelberg mit einer qualitativen Studie zur Frage, wie die Menschen den mit der Entspannungspolitik Willy Brandts ab 1966/1969 begonnenen Dialog mit der Sowjetunion beurteilen. Das Ergebnis war klar. Es gab eine eindeutige Mehrheit für die Fortsetzung der Entspannungspolitik, auch trotz der Intervention der Sowjetunion in Afghanistan.
  • Unter anderem mit dieser Studie überzeugten wir den Bundeskanzler Helmut Schmidt von der Notwendigkeit, die bisherige Linie beizubehalten. Wir ließen gleichzeitig die Ergebnisse der Studie im „Spiegel“ lecken. Das führte zu einer ungewöhnlichen Intervention des Bundesaußenministers und Vorsitzenden des Koalitionspartners FDP beim Bundeskanzler. Hans-Dietrich Genscher beklagte sich über die Planungsabteilung. Helmut Schmidt gab diese Kritik an mich weiter. Halb ernst, halb zustimmend.
  • Im April 1980 meldete der Stern, dass es zwischen Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl, dem Vorsitzenden der CDU, Gespräche über einen Koalitionswechsel von Sozialliberal zu Schwarz-Gelb gegeben habe. Der „Entspannungspolitiker“ Genscher wollte also erkennbar die Intervention der Sowjetunion in Afghanistan nutzen, um die Koalition zu wechseln.
  • In dieser Gemengelage entschied sich die nordrhein-westfälische SPD, den Landtagswahlkampf in NRW auf das bundespolitische Thema der Entspannungspolitik und des Friedens auszurichten. Es erschien im Zuge dieser Kampagne eine bundesweit wahrgenommene Anzeige mit 49 Kriegerwitwen und der Überschrift „Nie wieder Krieg“.
  • Bei der Wahl am 11. Mai 1980 erreichte die SPD mit 48,4 % die absolute Mehrheit der Mandate, die FDP flog mit 4,9 % aus dem Düsseldorfer Landtag.
  • Am Abend des 12. Mai tagte das Präsidium der Bundes-FDP und beriet über die Konsequenzen.
  • Vom Beratungsergebnis berichtete der Redenschreiber Helmut Schmidts am 13. Mai in der morgendlichen Lagebesprechung im Bundeskanzleramt. Rolf Breitenstein war FDP-Mitglied und hatte wegen seiner Redenschreiber-Funktion beim Bundeskanzler das Recht, an Präsidiumssitzungen der FDP teilzunehmen. Er war ein Mensch mit einem lustigen Anflug zum Zynismus. Entsprechend war seine Einlassung bei unserer Lagebesprechung, nahezu wörtlich: Hiermit kann ich Ihnen mitteilen, dass das FDP-Präsidium gestern Abend beschlossen hat, wieder für die Entspannungspolitik zu sein.

Diesen Vorgang habe ich ausführlich geschildert, weil es erstens ja um eine für unser Volk quasi lebensentscheidende Frage ging – Fortsetzung der Friedenspolitik oder Rückkehr zur Konfrontation – und weil zweitens daran sichtbar wird, dass auch so große und weltpolitisch relevante Entscheidungen oft von wirklich minder relevanten Erwägungen geprägt sind – im konkreten Fall von der Absicht der FDP, aus gesellschaftspolitischen Gründen die Koalition zu wechseln, was ja dann 2 Jahre später im September 1982 tatsächlich gelang, und dann zum Beispiel von der Erwägung des CSU-Vorsitzenden Strauß, die Rückkehr zum Kalten Krieg für die Mobilisierung der eigenen Anhänger zu nutzen. Fast hätten solche vergleichsweise unsachlichen Entscheidungsgründe damals zum Ende der Entspannungspolitik geführt. Mit weitreichenden Konsequenzen – in diesem Fall auch für die Bürgerinnen und Bürger der DDR.

7. Vermehrung und Kommerzialisierung der Fernseh- und Hörfunkprogramme

Im Frühjahr 1978 haben die von der CDU/CSU regierten Bundesländer im Vorfeld eines Treffens mit dem Bundeskanzler und dann bei der Sitzung selbst im Mai 1978 den Vorschlag präsentiert, der Bund solle mit 200 Millionen D-Mark die Vermehrung der Fernsehprogramme durch Flächenverkabelung in 11 Städten fördern. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat sich geweigert, diese Subvention für die Programmvermehrung und damit verbundene Kommerzialisierung der elektronischen Medien durch den Bund zahlen zu lassen. Er hat in einem öffentlichen Plädoyer für einen „fernsehfreien Tag“ Öffentlichkeitsarbeit über die Folgen von Vermehrung und Kommerzialisierung betrieben. Er hat dies bis zur Ablösung im September 1982 durchgehalten. Die Regierung Kohl hat unter der Leitung des damaligen Postministers Schwarz-Schilling sofort die Wende eingeleitet und dann im Jahre 1984 auch vollzogen. Seitdem explodierten die Programme und die Kommerzialisierung konnte durchgesetzt werden.

Die Regierung Kohl hat die Folgen nicht bedacht. In späteren Äußerungen haben mehrere CDU/CSU-Politiker dann ihre Entscheidung als Fehlentscheidung bedauert. Da war aber das Kind schon in den Brunnen gefallen. Ein typisches Beispiel dafür, dass in der praktischen Politik Fehlentscheidungen deshalb getroffen werden, weil die Folgen nicht bedacht werden. Auch ein typisches Beispiel dafür, dass bei solchen Gelegenheiten immer mit dem Argument „Arbeitsplätze“ gearbeitet wird und große Interessen entscheidend sind.

8. Digitalpakt

Es ist nicht zu bestreiten, dass die Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft um sich greift und auch staatlich gefördert werden sollte. Aber es spricht überhaupt nichts dagegen, bei der praktischen Gestaltung die Frage nach den Folgen zum Beispiel für Kinder geringen Alters zu stellen. Auch bei einer solchen Entscheidung muss man doch danach fragen, welche Risiken und Nebenwirkungen zum Beispiel damit verbunden sind, wenn Kinder im Alter von 4-10 oder 14 Jahren vornehmlich mit Tablets umgehen. Man muss doch bei einer solchen Entscheidung wenigstens zuhören, was Hirnforscher zu sagen haben. Das geschieht bei uns nicht. Die Entscheidung für den Digitalpakt um die Zahlung von Milliarden ist ohne Rücksprache mit den fachkundigen „Bedenkenträgern“ gefasst worden.

9. Stuttgart 21 – ein nicht durchdachtes Großprojekt

Die Entscheidungsgrundlage für dieses Projekt war ausgesprochen eng, zum Teil auf primitive Weise propagandistisch unterfüttert: „Wir brauchen eine Verbindung von Paris nach Bratislava ohne Kopfbahnhof in Stuttgart!“ – So lautete die wirklich dämliche Hauptparole.

Stuttgart 21 wurde von der Bundeskanzlerin im September 2010 zum Maßstab der “Zukunftsfähigkeit Deutschlands” gemacht, bei einem Scheitern wäre “Deutschland unregierbar” und “Europa in Gefahr”. Siehe die entsprechenden Zitate und Quellen hier.

Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 16.9.2010:

„Politische Gegner werden sich die Hände reiben, weil Merkel keine inhaltliche und damit keine überzeugende Antwort dafür liefert, warum sie sich für Stuttgart 21 so starkmacht.“ „Je intransparenter Politik organisiert wird, desto größer ist die Pflicht zur Begründung. Genau das hat Merkel auf fast provozierende Art vernachlässigt.“

Diese 10 Jahre alten Feststellungen über die Entscheidungsgrundlagen für Stuttgart 21 kann man ohne Zögern auf heutige Entscheidungen zu sehr wichtigen Fragen übertragen. Das gilt für die Aufrüstung wie für die Corona-Politik und vieles mehr.

Schlussbemerkung:

Diese „Gedanken zur Qualität politischer Entscheidungen“ sollten zeigen, dass es insgesamt ein Defizit bei der Planung und Entscheidung zu wichtigen politischen Projekten und Entscheidungen gibt. Zusammenfassend:

  • Oft werden die Folgen nicht bedacht.
  • Es wird danach entschieden, was gerade populär ist.
  • Und es werden Interessen bedient.

Selbst wenn die notwendige Schnelligkeit von Entscheidungen es schwierig macht, gleich alle wichtigen Folgen zu bedenken, gilt:

Eine Regierung sollte erstens fähig sein, den notwendigen breiten Sachverstand auch schnell zu organisieren, jedenfalls Kontrollinstanzen einzubauen. Die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes war früher eine solche notwendige Kontrollinstanz mit dem Ziel der breiteren Analyse der Entscheidungsbedingungen und Konsequenzen.

Eine Regierung sollte zweitens fähig und willens sein, ungenügende Entscheidungen schnell zu korrigieren. Das hat die Bundesregierung im Falle von Corona im Frühjahr 2020 nicht geleistet. Ob das heute bei den Beratungen zwischen Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten/In anders läuft, wird sich zeigen.

Anhang:

EU-Bericht
Wenn die Feldlerche nicht mehr singt

19. Oktober 2020 Quelle: tagesschau

Es sind dramatische Zahlen zum Biodiversitätsverlust in der EU. Vögeln, anderen Tieren und gesamten Ökosystemen geht es immer schlechter. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Landwirtschaft.

Von Gudrun Engel, ARD-Studio Brüssel

1998 und 2019 wurde die Feldlerche in Deutschland zum Vogel des Jahres gekürt. Eine Auszeichnung, die auf die Gefährdung der Tiere und Lebensräume aufmerksam machen soll. Der heute veröffentlichte Bericht zum “Zustand der Natur in der EU” der Europäischen Umweltagentur bestätigt genau das: Die Natur leidet, die Artenvielfalt schwindet.

Besonders Flora und Fauna in Gebieten, die exzessiv von der Landwirtschaft genutzt werden, geht es überwiegend schlecht: 39 Prozent  der Vögel, 63 Prozent der anderen Tiere und sogar 81 Prozent der Ökosysteme, die in der Europäischen Union nach der FFH-Richtlinie (FFH ist die Abkürzung für Fauna-Flora-Habitat) geschützt sind, seien in unzureichendem oder schlechtem Zustand. Vor allem Grasland,  Wiesengebiete sowie Meere und Küsten werden genannt.

Zu viel Druck auf die Tier- und Pflanzenwelt

“Der ‘Bericht zum Zustand der Natur’ in Europa ist die größte und umfassendste Datensammlung, die jemals zum Zustand von Flora und Fauna in der EU zusammengetragen wurde”, freut sich der Chef der Europäischen Umweltagentur, Hans Bruyninckx.

Doch die Hauptnachricht ist keine gute: “Während einige wenige Arten und Lebensräume sich auf dem gleichen Niveau wie bei der letzten Erhebung bewegen, befindet sich die Mehrheit der Tiere und Ökosysteme in einer schlechten oder sogar sehr schlechten Verfassung”, so Bruyninckx. Denn die verschiedenen Faktoren, die Druck auf die Tier- und Pflanzenwelt ausübten, seien einfach zu viele und zu groß, stellt der Belgier fest.

Immer weniger Brutpaare in der EU

463 verschiedene Wildvogelarten gibt es in der Europäischen Union – aber nur 47 Prozent aller Vogelarten geht es gut. Vor sechs Jahren waren es noch 52 Prozent gewesen. Ein Rückgang um fünf Prozentpunkte. 39 Prozent der Vögel haben zwischenzeitlich einen schlechten oder sogar sehr schlechten Status.

Es gibt immer weniger Brutpaare. Vor allem auf Wiesen und Feldern ist die Entwicklung deutlich rückläufig – dies sind genau die Landschaften, die Feldlerche und Rebhuhn benötigen. Ein weiteres Problem: 86 verschiedene Vogelarten werden nach wie vor bejagt – vor allem in Südeuropa.

Wie geht es den Meeren?

Der Bericht fokussiert sich nicht alleine auf die etwa 2000 gefährdeten Tierarten, sondern blickt auch auf die Ökosysteme und Lebensräume dieser Tiere. 233 verschiedene Landschaftstypen in Europa gelten als besonders schützenswert. Dies sind etwa Moore, Dünenlandschaften oder Urwälder. Insgesamt befinden sich 81 Prozent dieser Lebensräume aus Sicht des Artenschutzes in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Vor allem die landwirtschaftlich genutzten Grünflächen, aber auch Seen und Moore sind betroffen. Und die Lage verschlechtert sich laut den Verfassern der Studie stetig weiter.

Besonders schwierig sind laut dem Forscherteam Aussagen zum Zustand der Meere: Obwohl neun europäische Regionen sogar eine maritime Schutzzone ausgewiesen haben, gibt es keine konkreten Zahlen zu Artenvielfalt und Vorkommen – nicht einmal für gut bekannte Arten wie Seeschildkröten oder Zwergwale.

Ehrenamtliche haben eine wichtige Rolle

Der Bericht zum “Zustand der Natur in der EU” erscheint alle sechs Jahre und basiert auf den eingereichten Daten der Mitgliedsländer. Zum ersten Mal ist auch Kroatien mit dabei. Die Zahlen aus Rumänien seien allerdings nur lückenhaft, heißt es von den Verfassern der Studie. Aus Deutschland werden die Daten des FFH-Monitorings zu Grunde gelegt.

Eine wichtige Datenbasis liefern die Vogelzählungen von vielen Tausend Ehrenamtlichen zwischen 2013 und 2018. In etwa 14.000 Stichproben erfassten sie den Zustand von Tieren, Pflanzen und Lebensräumen. Aus all diesen europäischen Daten lassen sich Rückschlüsse auf die Lage der Natur insgesamt ziehen.

Laut NABU gibt es zu wenige freie Flächen

Die Situation in Deutschland unterscheidet sich laut Naturschutzbund Deutschland, NABU, nicht vom allgemeinen EU-Trend: Besonders Feldvögel wie die Lerche oder das Haselhuhn verschwinden auch hierzulande.

Was fehle, seien unbewirtschaftete Flächen, auf denen die Vögel Nahrung finden und in Ruhe brüten könnten. “Europa ist ein intensiv genutzter Lebensraum, insbesondere die Landwirtschaft richtet große Schäden an der Artenvielfalt an, ebenso wie die Zersiedelung und der Ausbau sinnloser Verkehrsachsen”, konstatiert Magnus Wessel vom BUND.

Als wesentliche Ursachen für die Probleme nennt die Europäische Umweltagentur die Landwirtschaft: Dünger und Pestizide, die intensive Nutzung und Versiegelung von Flächen durch Bebauung, aber teils auch das Abholzen von Wäldern, die Energieproduktion, bis hin zu Tourismus und Freizeitaktivitäten wie Sport.

EU debattiert über gemeinsame Agrarpolitik

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts passt zur politischen Agenda in Brüssel: In dieser Woche steht im EU-Parlament die Abstimmung über die Agrarreform an. Entschieden wird über die künftige gemeinsame Agrarpolitik bis 2027. Dabei geht es unter anderem darum, wie viel Platz landwirtschaftliche Betriebe für den Schutz der Artenvielfalt vorhalten müssen, also etwa Blühflächen, Grünstreifen oder Hecken, wenn sie künftig noch Subventionen aus EU-Töpfen bekommen wollen.

Im Zustandsbericht finden sich aber auch gute Nachrichten: Auf regionaler Ebene entstünden durch gezielte Schutzmaßnahmen wahre Erfolgsgeschichten, so die Umweltagentur. Als Beispiel nennt sie etwa die Papageientaucher in Nordeuropa. Die Zahl der Brutpaare habe sich wieder erhöht. Und beim europäischen Biber habe sich der Bestand immerhin stabilisiert.

Titelbild: 360b / shutterstock.com

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