Auffälliges Schweigen über Schweden. Hier ein Bericht von Henning Rosenbusch

Auffälliges Schweigen über Schweden. Hier ein Bericht von Henning Rosenbusch

Auffälliges Schweigen über Schweden. Hier ein Bericht von Henning Rosenbusch

Ein Artikel von Henning Rosenbusch

Obwohl die Erfahrung in Schweden und ein Vergleich der politischen Corona-Maßnahmen dort und hierzulande wichtig und nützlich für die eigenen Entscheidungen wäre, wird in Deutschland kaum über die dortige Entwicklung berichtet. Man muss den Eindruck gewinnen, dass auch die politisch Verantwortlichen hierzulande die schwedischen Erfahrungen nicht ernsthaft prüfen. Im Anhang finden Sie einen Deutschlandfunk-Bericht vom 28. Oktober und einen Beitrag von Capital vom Juli. Ansonsten wurde hierzulande weitgehend gegen Schweden polemisiert oder eben verschwiegen. Aus diesem Grund sind wir dankbar dafür, dass der deutsche Journalist und Fotograf Henning Rosenbusch angeboten hat, für die NachDenkSeiten aus Schweden zu berichten. Wir beginnen heute mit einem umfassenden Artikel zur Situation und setzen die Berichterstattung dann später fort. Redaktion NDS.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zunächst der Beitrag von Henning Rosenbusch:

Viel liest man derzeit nicht mehr über den schwedischen Sonderweg in den deutschen Gazetten. Der Grund dürfte einfach sein: Staatsepidemiologe Anders Tegnell setzt ihn unbeirrt fort und will es weiter „relaxed“ angehen, wie er vor einer Woche verkündete: „Wir rufen die ältere Bevölkerung auf, sich nicht mehr komplett zu isolieren, nur noch große Menschenansammlungen zu vermeiden.“ Denn ein Bericht habe gezeigt, dass sich die soziale Distanzierung bei vielen Älteren negativ auf ihre psychische Gesundheit ausgewirkt habe.

Weil Tegnell eben nicht nur auf Fallzahlen schaut, die in Schweden nach einer Verdreifachung der Tests derzeit massiv ansteigen. Wobei in Schweden die Inzidenz (Fälle/100.000 Einwohner) im europäischen Vergleich trotz massiver Anstiege niedriger liegt als in weiten Teilen Europas und in den letzten Tagen sogar knapp hinter Deutschland zurückgefallen ist. Weil er, wie die Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit sowie der Kassenärzte-Verband am Mittwoch es für Deutschland forderten, die Positivrate, die Krankenhauseinweisungen und vor allem die weiter gleichbleibend niedrigen Todesfälle mit Covid-19 im Blick hat. Übrigens gilt dabei auch in Schweden die Definition der Europäischen Seuchenbehörde. Diese schreibt bekanntlich vor, dass jeder, der binnen 28 Tagen nach positivem Befund verstorben ist, in die Statistik aufgenommen werden müsse. Das gilt auch für diejenigen, die ohnehin auch ohne Covid-19 verstorben wären.

Das alles gibt es in Schweden momentan nicht: Masken(pflicht), Beherbergungsverbote, Sperrstunden, kalte Klassenzimmer mit maskierten Kindern, Aufrufe zum Denunziantentum, Verordnungswahn, Corona-Polizeikontrollen, Diskussionen um die Unverletzlichkeit der Wohnung, Demonstrationen gegen die Corona-Politik, Bundeswehr im Innern, Schulklassen in Quarantäne, abgesagte Weihnachtsmärkte und vor allem: „Wir werden weitermachen wie bisher und Lockdowns vermeiden“, so der 64-Jährige.

Das ebenso wie Deutschland exportorientierte Schweden scheint so in punkto Wirtschaft besser zu fahren als die Länder, die mit strikteren Maßnahmen gegen die Pandemie vorgehen. Zwar brach auch das schwedische Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal während der Lockdowns im Ausland um nie dagewesene 8,2 Prozent zum Vorjahresquartal ein. Damit hielt sich die Wirtschaft aber besser als in Deutschland – hierzulande schrumpfte die Leistung im zweiten Quartal um 11,7 Prozent zum Vorjahr.

Laut dem staatlichen Unternehmensanalysebüro Tillväxtanalys wurden in den ersten sieben Monaten 2020 knapp 9 Prozent mehr Konkurse verzeichnet als im gleichen Vorjahreszeitraum. Vergleichszahlen aus Deutschland gibt es nicht: die in Deutschland bis zum Jahreswechsel ausgesetzte Insolvenzanmeldepflicht gilt in Schweden weiterhin. Die Auskunftei Creditreform schätzte im August die Zahl der sogenannten „Zombie-Unternehmen“ derzeit auf 550.000. Sollte die Insolvenzantragspflicht in Deutschland bis März 2021 ausgesetzt bleiben, was im Gespräch war, so könnte sich die Zahl der Zombie-Unternehmen laut Creditreform auf 700.000 bis 800.000 erhöhen: “Die Lage verschlimmert sich von Tag zu Tag. Denn die Insolvenzen werden derzeit nur verschoben”, warnte seinerzeit Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter Wirtschaftsforschung bei der Auskunftei Creditreform gegenüber der “Welt”. “Dadurch könnten viele derzeit noch gesunde Firmen mit in den Abgrund gerissen werden.” Das habe am Ende gravierende Auswirkungen auf die Zahl der Arbeitsplätze. Und: Weitere Lockdowns hatte die Creditreform seinerzeit noch gar nicht auf dem Schirm.

Tegnell stand bei der gestrigen Pressekonferenz in Stockholm einmal mehr wie ein Fels in der Brandung, wobei die Journalisten trotz der steigenden Fallzahlen lange nicht so eine Welle machen wie im April, als der Staatsepidemiologe für seinen vermeintlich laxen Umgang mit der Pandemie sogar Morddrohungen erhielt. Natürlich werden zwischenzeitlich verstummte Kritiker wieder lauter, aber sie finden in der Bevölkerung, die Umfragen zufolge zu größten Teilen hinter Tegnell steht, weniger Gehör als seinerzeit und werden in den sozialen Netzwerken schon für „unnötige Panikmache“ kritisiert.

Dort gibt es Tegnell-Fanclubs mit zehntausenden Mitgliedern, die geöffneten Clubs feiern Partys für ihn. Fanartikel und T-Shirts werden verkauft, er wird gemalt und modelliert, gestrickt und plakatiert und bei vielen Menschen ziert er nun die heimische Einrichtung. Einige Schweden haben ihn sogar auf ihrer Haut als Tattoo verewigt. Ihm wurde auch die besondere Ehre zuteil, in diesem Jahr das „Sommerinterview“ führen zu dürfen, wofür er sich traditionell mit einem schwedischen Blumenkranz schmücken ließ. Tegnell wird für seine ruhige und klare Art verehrt und vor allem auch dafür, dass er etwaige Kollateralschäden von Maßnahmen immer im Blick hat.

Einkaufen in Stockholm / © Henning Rosenbusch

Die allgemeinen Empfehlungen zur Verringerung der Corona-Ausbreitung wurden jedoch angesichts der steigenden Zahl der Neuinfektionen auf weitere Landesteile ausgeweitet: In der Hauptstadtregion um Stockholm, den Regionen Västra Götaland um Göteborg und Östergötland werden die Menschen in den kommenden Wochen dazu aufgefordert, Kontakt mit Personen aus anderen Haushalten, den Nahverkehr und Veranstaltungen wie Konzerte oder sportliche Wettkämpfe zu meiden. Ähnliches gilt bereits in der Region Uppsala und im südschwedischen Skåne (Schonen). Geschlossen wird allerdings nichts. Und eine Maskenpflicht stand für Tegnell nie zur Debatte, „da wir nicht glauben, dass Erwachsene oder gar Kinder Masken so handhaben, dass sie am Ende auch nützlich sind.“

„Schweden erwägt Lockdowns“, „Schweden überdenkt seine lockere Strategie“, die Überschriften der letzten Wochen in Deutschland sind angesichts verschärfter Empfehlungen also zumindest irreführend. Die Meldung „Schweden mit Rekord-Todesfällen im ersten Halbjahr seit 150 Jahren“ war sogar hanebüchen, da man die absolute Zahl der Todesfälle während einer Hungersnot 1869 mit dem heutigen Schweden verglich. Dass die Bevölkerung der heutigen parlamentarischen Monarchie in dieser Zeit von 4,1 Millionen auf 10,2 Millionen angewachsen ist, was natürlicherweise für mehr Todesfälle pro Jahr sorgt, wurde in diesen Berichten geflissentlich weggelassen.

Den Vogel schoss aber Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ab: „München ist ein Drittel größer als Stockholm, aber Stockholm hatte 16 Mal so viele Tote auf 100.000 Einwohner“, behauptete er während seiner Regierungserklärung am vergangenen Mittwoch vor dem Landtag. Der Corona-Hardliner stellte damit eine Falschbehauptung auf, denn auf den Faktor 16 kommt er nur, wenn er nicht Stockholm-Stadt, sondern die Region Stockholm mit München vergleicht. Und die hat 2,4 Millionen Einwohner, ist also nicht kleiner, sondern hat eine Million mehr Einwohner als München. Dabei ist Söder nicht der Bürgermeister der Landeshauptstadt: Wenn man Bayern, auf die Einwohnerzahl bereinigt, mit Schweden vergleicht, kommt man nicht einmal mehr auf den Faktor drei. Bayern liegt mit den restriktivsten Maßnahmen mit 21,2 Corona- Toten auf 100.000 Einwohner momentan an der Spitze aller Bundesländer und holt wie Gesamtdeutschland zu Schweden tagtäglich auf.

Dr. Sebastian Rushworth, tätig in der Notaufnahme einer der größten Kliniken Stockholms, kann über Lockdown-Diskussionen nur noch den Kopf schütteln. Der Mediziner betreibt einen englischsprachigen Internetblog, wo er evidenzbasierte medizinische Erkenntnisse in einem Format bieten will, das auch Nicht-Wissenschaftler verstehen. Seine Beiträge zum Thema Covid-19 wurden unter anderem auch ins Deutsche übersetzt, zuletzt war er vom australischen Sender Sky News auch in eine Expertenrunde geladen. Er vertritt seit einigen Monaten die These, dass alle Länder, ganz gleich wie hart die Restriktionen für die Bevölkerungen sind, am Ende die gleiche Anzahl an Toten durch Covid-19 zu beklagen haben werden und feuert seit einigen Tagen mit neuen Zahlen gegen die wiederholten Lockdowns in Mittel- und Südeuropa: „Der vergangene September war für Schweden der Monat mit der niedrigsten Sterblichkeit pro Einwohner aller Zeiten. Das Jahr 2020 ist bisher das Jahr mit der drittniedrigsten Sterblichkeit pro Einwohner aller Zeiten.“ Und die Schweden wären bekannt für ihre genauen Statistiken, unterstreicht er. Die fehlende Übersterblichkeit sei der Beleg, „dass die schwedischen Corona-Opfer aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Jahr ohnehin verstorben wären.“ Damit wiederholt er eine ältere Aussage von Anders Tegnell.

Sebastian Rushworth / © Henning Rosenbusch

Dass Schweden dünner besiedelt und nicht vergleichbar wäre, dem sei nicht so: „Das gilt für den Norden. Schweden habe einen Urbanisierungsgrad von 87 Prozent, zehn Prozent mehr als Deutschland.“ Auf Twitter setzt der praktizierende Arzt sogar noch einen drauf: „Lockdowns für ein Virus, das keine Übersterblichkeit in Schweden erzeugt?“ Es handele sich doch offensichtlich eher um eine „herkömmliche Erkältung, ein saisonales Virus, als um Ebola“. Und in Schweden hätten in vielen Regionen schon genug Menschen Immunität aufgebaut: Trotz zuletzt massiv steigender Fallzahlen im Großraum Stockholm gäbe es nur es einige wenige neue Covid-19-Patienten in den Intensivstationen, bei ihm in der Klinik, einem Zentrum des Corona-Sturms in Schweden im März und April, bisher gar nicht: „Und ich gehe davon aus, dass es lange nicht mehr so viele Todesfälle geben wird wie seinerzeit.“

Titelbild: © Henning Rosenbusch

Anhang:
Spärliche Berichterstattungen deutschen Medien. 2 Beispiele:

  1. Deutschlandfunk
    Umgang mit Corona-Pandemie
    Schwedens Gesundheitsbehörde setzt Kurs weitgehend fort
    Während in vielen Ländern die Corona-Restriktionen verschärft werden, geht Schweden in der Pandemie weiterhin einen Sonderweg. Statt auf strenge Restriktionen setzt die Regierung auf Eigenverantwortung der Bürger. Ein deutscher Virologe warnt vor „Überheblichkeit“ gegenüber dem schwedischen Weg.
    Von Christine Westerhaus. Vom 28.10.2020

    „Und wir werden es eben am Ende sehen, ob er auch aus schwedischer Sicht erfolgreich war.“
  2. Capital
    Geht Schwedens Corona-Strategie langfristig auf?
    Schweden verteidigt seine Corona-Strategie. Erst langfristig werde sich zeigen, ob die schwedische Bilanz nicht doch besser ausfalle als die anderer Länder, sagt Schwedens Chef-Epidemiologe Tegnell, der mit dieser Meinung nicht alleine dasteht
    von Klaus Wedekind
    vom 1. Juli 2020

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