Ein Bundeskanzler kniet nieder – wo gibt‘s denn sowas?

Ein Bundeskanzler kniet nieder – wo gibt‘s denn sowas?

Ein Bundeskanzler kniet nieder – wo gibt‘s denn sowas?

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Vor 50 Jahren, am 7.12.1970 besuchte der damalige Bundeskanzler Willy Brandt anlässlich der Unterzeichnung des sogenannten Warschauer Vertrags die Gedenkstätte für die Opfer des Warschauer Gettos. Spontan kniete er bei der Kranzniederlegung nieder. Näheres dazu siehe hier. Was damals geschah, scheint nicht in unsere Zeit zu passen – genauso wenig wie die richtige Passage in Brandts Regierungserklärung von Oktober 1969: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – nach innen und nach außen“. Heute werden wir darauf getrimmt, sowohl im Innern – Junge, du musst dich durchsetzen! Schlag zurück – als auch nach außen, Gewalt anzuwenden und Gewalt anzudrohen, statt niederzuknien oder auch nur den Anspruch zu erheben und den Willen zu bekunden, sich mit anderen Völkern verständigen zu wollen. Völkerverständigung, Frieden, aufeinander Zugehen. Das ist nicht in. – Nutzen Sie bitte das Ereignis des Kniefalls von Warschau, um Ihren Kindern und Enkeln nahezubringen, dass wir zurzeit auf dem falschen Weg sind und dass es produktivere, friedlichere Wege des Umgangs miteinander gibt. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Gute Nachbarn im Innern?

Seit der Kommerzialisierung der elektronischen Medien und mit dem härteren Existenzkampf, wie er schon in Schulen eingeübt wird, wurde im Innern unseres Landes zumindest in wichtigen Segmenten Egoismus und Gewalt, Sich-Durchsetzen und Schlag-zurück hoffähig. Man kann es den einzelnen Menschen, auch den Kindern und Jugendlichen, nicht übelnehmen. Der Zeitgeist scheint so zu sein. Und Medien wie auch viele Erwachsene predigen diese vom Ego geprägte Lebensphilosophie.

Das kommerzielle Fernsehen und der sich anpassende öffentlich-rechtliche Rundfunk haben ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen. Als Wenig-Fernseher kann ich bei gelegentlicher Begegnung mit dem Hauptprogramm nur noch staunen, was da an unentwegter Gewalt über den Bildschirm flimmert. Ein Krimi folgt dem anderen. Keine Sorge: Ich kenne die Ablenkungsmanöver, wonach diese Art von Programmen Gewalt ablenken würden, absorbieren würden wie große Blitzableiter.

Es wäre wichtig, dass anders denkende Menschen versuchen, die Hoheit über den Stammtischen und Familientischen und Freundeskreisen wieder zu erobern. Deshalb der zarte Hinweis, das Warschauer Ereignis von vor 50 Jahren aufleben zu lassen – in Ihren Gesprächen.

Übrigens: Der Kniefall hat weder die Würde des deutschen Bundeskanzlers negativ beeinträchtigt noch unserem Land geschadet. Im Gegenteil. Nie in der Nachkriegszeit war der Ruf unseres Landes auf angenehme Weise so gut.

Gute Nachbarn nach außen?!

Bitte nutzen Sie das Jubiläum, um in Ihrem Umfeld dafür zu werben, die Völkerverständigung auch im Umgang mit China und mit Russland wieder als Leitlinie zu verankern. Das gegenseitig Aufhetzen, wie es zurzeit geschieht, der systematisch betriebene Feindbild-Aufbau führt nicht nur zu einem teuren neuen Kalten Krieg, der wirklich heiße Krieg ist dann nicht fern, auch deshalb nicht, weil im Hintergrund Mächte wirken, die an Kriegen verdienen.

Es gibt im Westen, also in einer Welt, von der manche auch von Wertegemeinschaft sprechen, durchaus sehr verschiedene Werte, diametral entgegengesetzte und sich ausschließende Werte. An Willy Brandt, im Vergleich zu Obama oder Biden oder Trump oder Merkel oder all den anderen, die nach Sanktionen, nach Bestrafung, nach Aufrüstung rufen, kann man sehen, dass es auch andere Wertvorstellungen für den Umgang mit anderen Völkern gibt. Letztere sollten eigentlich der Normalfall sein, so könnte man annehmen. Aber die Wirklichkeit zeigt, dass jene für die Politik unserer Länder verantwortlichen Personen leider höchst selten die Wertvorstellung in Theorie und Praxis vertreten haben, wie das bei Willy Brandt der Fall war.

Ich bin in meinem langen politischen Leben einigen davon begegnet. Zum Beispiel Gustav Heinemann. Zum Beispiel Olof Palme. Zum Beispiel auch Helmut Schmidt. Ihn würde ich in seiner Amtszeit zu jenen Politikern zählen, die nicht angetreten sind, um anderen Völkern Leid zuzufügen. Zum Beispiel Julius Nyerere, Präsident von Tansania. Er hatte mich 1970, nachdem er davon hörte, dass ein Mitarbeiter Willy Brandts in seinem Land ein Entwicklungsprojekt besucht, zu einem langen Gespräch eingeladen. Zum Beispiel in der Zeit der Blüte der Entspannungspolitik auch Helmut Kohl. Auch Helmut Kohl hatte als Bundeskanzler die für eine gute Völkerverständigung notwendige Tugend entwickelt, sich in die Lage eines anderen Volkes zu versetzen. Wer diese Fähigkeit besitzt oder entwickelt, ist unfähig, das zu tun, was zur Zeit gang und gäbe ist: einem anderen Volk Schaden zuzufügen, Sanktionen zu erlassen, Hungersnöte auszulösen, andere tot zu rüsten und was so alles auf der Tagesordnung von kriminellen Außenpolitikern steht.

Ich nenne die jetzt gängige Außen- und Sicherheitspolitik der USA und ihrer Partner in der NATO mit Bedacht kriminell. Wer anderen Völkern bewusst schadet, Erwachsene und Kinder bewusst verhungern lässt, wie das zum Beispiel im Falle Syriens gängig ist, handelt kriminell. Mit solchen Elementen gibt es keine Wertegemeinschaft. Auch das sollten wir in Gesprächen unseren Kindern und Enkeln vermitteln.

P. S. eine persönliche Anmerkung: Willy Brandt war wichtig für mein Denken und für mein politisches Engagement. Auch deshalb hängt in meinem Treppenhaus das großartige Foto, das Harry Walter, damaliger Chef der Werbeagentur der SPD, von Willy Brandt bei einem Besuch in Niederbayern geschossen hat. Hier ist es:

(Foto: Harry Walter 1972, Treppenhaus Pleisweiler)

Titelbild: Alizada Studios / Shutterstock

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