Corona-Maßnahmen: „Die Exekutive scheint keine Selbstbeschränkungen und keine Grenzen mehr zu kennen“

Corona-Maßnahmen: „Die Exekutive scheint keine Selbstbeschränkungen und keine Grenzen mehr zu kennen“

Corona-Maßnahmen: „Die Exekutive scheint keine Selbstbeschränkungen und keine Grenzen mehr zu kennen“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Ich bin schockiert, welche Beschränkungen der offenen Gesellschaft nach dem Infektionsschutzgesetz möglich sind.“ Das sagt der Historiker René Schlott im NachDenkSeiten-Interview. Schlott betont im Interview, dass er es als seine staatsbürgerliche Pflicht erachtet, kritisch auf die Einschränkungen der Grundrechte hinzuweisen. Die jetzige Situation, sagt Schlott, übertreffe bereits die Dystopie des französischen Philosophen Phillipe Muray, in der die Gesellschaft alles der Gesundheit unterordne und Denunzierung und Kritiklosigkeit als Teil des „guten Reichs“ an der Tagesordnung seien. Der in Berlin lebende Publizist beobachtet zudem eine politische Instrumentalisierung der Corona-Maßnahmen, „etwa im Rennen um den CDU-Vorsitz und die Unions-Kanzlerkandidatur.“ Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Schlott, Sie sind Historiker und haben sich gerade in einem Kommentar im Deutschlandfunk Kultur sehr kritisch zur Pandemie und den Freiheitsrechten geäußert. Warum haben Sie sich zu Wort gemeldet?

Weil ich als meine staatsbürgerliche Pflicht erachte, auf Entwicklungen, die mir Sorge bereiten, hinzuweisen. Die anhaltende und massive Einschränkung von Freiheitsrechten unter dem Primat der epidemiologischen Kurve ist historisch gesehen in unserem Land einmalig. Ich bin schockiert, welche Beschränkungen der offenen Gesellschaft nach dem Infektionsschutzgesetz möglich sind, und hätte einen zweiten Lockdown nach dem Frühjahr nicht für möglich gehalten. Letztlich haben wir unser Gesellschaftmodell damit dauerhaft unter Pandemievorbehalt gestellt. Kunst und Kultur, Freizügigkeit und offene Grenzen, Bildung und Wissenschaft, Berufs- und Gewerbefreiheit können jederzeit zur Disposition gestellt werden, wenn es das Infektionsgeschehen aus Sicht der Politik erfordert. Die volle Geltung der Grundrechte hängt letztlich von der Aufnahmekapazität der Intensivstationen ab.

Wenn es um Freiheitsrechte geht, kommt es vor allem darauf an, wie sich Politiker, Journalisten, Richter, aber auch Bürger verhalten. Wie agieren die Bürger, wie agieren die angeführten Gruppen aus Ihrer Sicht in der Pandemie?

Seit März beobachte ich, dass sich die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung in eine Spirale begeben haben, in der sie auf höhere Zahlen stets mit noch massiveren staatlichen Eingriffen in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger reagieren. Ich vertraue darauf, dass dies in guter Absicht geschieht. Viele der Maßnahmen sind aber widersprüchlich und nicht verhältnismäßig, ihr Nutzen im Hinblick auf den Infektionsschutz ist nicht immer erwiesen. Viele der Medien nehmen ihre Rolle als vierte Gewalt, die das Regierungshandeln kritisch hinterfragt, kaum oder nur unzureichend wahr. Die Bürgerinnen und Bürger reagieren mit einer doppelten Angst. Angst vor dem Virus und dem starken Staat, der seine Maßnahmen notfalls mit Sanktionen und Zwang durchsetzt.

Sie sind Historiker. Lassen Sie uns das Verhalten kritisch einordnen. Die Demokratie in Deutschland existiert schon eine Weile. Es gibt ein Bildungssystem, in dem auch die politische Bildung auf dem Lehrplan steht. Und vor allem: Es gibt auch einen Geschichtsunterricht. Anders gesagt: Eigentlich sollte man erwarten, dass Bürger, aber vor allem auch gebildete Gruppen wie Journalisten bei der aktuellen Entwicklung sensibel reagieren, immer wieder auf die Bedeutung der Grund- und Freiheitsrechte hinweisen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wie erklären Sie sich das?

Das kann ich mir leider nicht erklären, es ist mir ein Rätsel. Wenn ich es aus naheliegenden Gründen mit einer nationalen Typisierung der Deutschen als Untertanenvolk versuchen würde, könnte man mit Recht auf das genauso passive Verhalten der Menschen in unseren Nachbarländern verweisen. Das Verhalten bestimmter Gruppen, wie den Journalistinnen und Journalisten, kann vielleicht die Schweigespirale erklären, eine von Elisabeth Noelle-Neumann in den 1970er Jahren formulierte Theorie der öffentlichen Meinung. Widerspricht die eigene Meinung einem als vorherrschend empfundenen Meinungsklima, so entwickelt man aus Angst vor beruflichen oder persönlichen Nachteilen Hemmungen, diese zu äußern. Da die Kritik an den Maßnahmen zur Corona-Eindämmung als „rechts“ gilt, scheuen sich viele, ihre Haltung öffentlich zu machen.

Konzentrieren wir uns mal auf die Bürger. Wie sollte politische Mündigkeit, wie sollte die Mündigkeit als Staatsbürger in der aktuellen Situation aussehen?

Bürgerinnen und Bürger sollten gegenüber einer wohlmeinenden Exekutive stets kritisch bleiben und alle Entscheidungen hinterfragen. Es ist ein gutes Zeichen für unsere Demokratie, wenn viele Menschen der Bundes- und den Landesregierungen vertrauen, dennoch: Es ist zu beobachten, dass die Corona-Maßnahmen inzwischen politisch instrumentalisiert werden, etwa im Rennen um den CDU-Vorsitz und die Unions-Kanzlerkandidatur.

Denkt man sich in die Logik des Pandemiegeschehens rein, lassen sich natürlich gewisse Maßnahmen nachvollziehen. Aber erstaunlich ist, wie selbstverständlich auch die schwersten Grundrechtseingriffe hingenommen werden.

In der Tat: Ausgangssperren und die Beschränkung aller sozialen Kontakte von 83 Millionen Menschen hätte ich in unserer Demokratie nicht für möglich gehalten. Auch die massive Beschränkung von Religions- und Versammlungsfreiheit, die von den Kirchen und Gewerkschaften, ja zum Teil sogar von den Gerichten akzeptiert wird, ist etwas nie Dagewesenes und wird als Zäsur bleiben, selbst wenn die Corona-Pandemie eines Tages ein wie auch immer geartetes Ende gefunden haben wird.

In Ihrem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur verweisen Sie auf den französischen Philosophen Phillipe Muray, der eine Dystopie entworfen hat, in der unter anderem Denunzierung und Kritiklosigkeit als Teil des „guten Reichs“ beschrieben werden. Er spricht, wie Sie anführen, von einer „obszönen Dressur der Massen“ und der „Uniformierung der Lebensweisen“. Erinnert Sie das, was wir erleben, an die Dystopie Murays?

Ja, durchaus. Vor allem, weil Muray eine Gesellschaft beschrieb, in der alles der Gesundheit untergeordnet ist und in der nicht etwa Menschen eigenverantwortlich darüber entscheiden, sondern der Staat. Alle Vergnügungen wie Alkohol, Tanz usw. gelten als verpönt. Das erinnert mich doch sehr daran, wie jetzt über Glühweinstände als Hotspots diskutiert wird und wie Silvesterfeuerwerk zum verabscheuungswürdigen Exzess erklärt wird.

In einer Hinsicht übertrifft die jetzige Situation aber noch die Dystopie Muray. Bei uns wird nicht allgemein der Gesundheit alles untergeordnet, sondern einzig und allein einer Krankheit: Covid 19. Anders lässt sich nicht erklären, dass selbst gesundheitsfördernde Sportstätten geschlossen wurden und dass in Videospots nicht etwa die das Immunsystem stärkende Bewegung an der frischen Luft, sondern der Fernsehkonsum in geschlossenen Räumen propagiert wird.

„Bürger“, die während des ersten Lockdowns Autonummern aufschreiben, die nicht in die Straße „gehören“, Nachbarn, die die Polizei rufen, weil sie verbotenerweise eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Spielplatz sehen: Mitmenschen zu denunzieren, steht zumindest bei einigen anscheinend hoch im Kurs. Selbst Markus Söder hat öffentlich zum Denunzieren aufgerufen. Was läuft hier falsch?

Jeder Mensch gilt als ein potentieller „Gefährder“, jeder ist zuallererst Virenträger. Ich weiß nicht, wie man das aus den Köpfen wieder hinausbekommen will.

Wie nehmen Sie die Sprache wahr, der sich Journalisten und Politiker in der Pandemie bedienen?

Oft als ein Orwell‘scher Neusprech, in dem die Maske „als Instrument der Freiheit“ und die Inzidenzzahl „als Mutter aller Zahlen“ gilt und in Zeitungen geschichtsvergessene Slogans wie „Leid lehrt Disziplin“, „nationale Kraftanstrengung“ und „Disziplin ist Freiheit“ zu lesen sind.

Bald stehen ziemlich gewichtige Fragen an. Es wird um Impfungen gehen, aber auch um die Reisefreiheit. Dürfen Bürger nur noch mit einem entsprechenden Impfnachweis in andere Länder reisen?, wird eine Frage sein, über die zu diskutieren sein wird. Das Problem ist nur: Es findet im Grunde genommen keine echte Diskussion in den großen Medien statt. Wie sehen Sie das?

Diese Diskussion gibt es, kürzlich hat sich erst die Bundesjustizministerin dazu geäußert. Allerdings beobachte ich mit Sorge, wie einige Medienvertreter die Impfpflicht geradezu herbeischreiben und damit Druck auf die Politik aufbauen. Ich finde auch frappierend, dass die Impfbereitschaft laut Umfragen in den letzten Monaten kontinuierlich gesunken ist, das Vertrauen in Politik und Wissenschaft also doch nicht so groß zu sein scheint.

Würden Sie einen Ausblick wagen: Wie wird es weitergehen?

Ich fürchte, wir stehen vor noch massiveren Beschränkungen und ihrer noch rigoroseren Durchsetzung. Die Exekutive scheint keine Selbstbeschränkungen und keine Grenzen mehr zu kennen. Sie stößt in immer privatere Lebensbereiche ihrer Bürgerinnen und Bürger vor. Wahrscheinlich wird demnächst auch der Datenschutz weiter aufgeweicht, um die Corona-App auszubauen.

Titelbild: GRSI/shutterstock.com