Westliche Werte und die IPAC

Westliche Werte und die IPAC

Westliche Werte und die IPAC

Ein Artikel von Walther Bücklers

Der Westen hält die Themen Menschenrechte und Demokratie gerne hoch, wenn es darum geht, konkurrierende Staaten zu diskreditieren. Allen voran China sieht sich mehr und mehr mit Vorwürfen konfrontiert, die sogenannten „westlichen Werte“ zu verletzen. Walther Bücklers hat sich für die NachDenkSeiten diese Vorwürfe einmal näher angeschaut und zeigt auf, wie man versucht, die „westlichen Werte“ gegen China zu instrumentalisieren, und wie eine Organisation, die für Völker- und Menschenrecht zu stehen versucht, mit beiden wenig zu tun hat.

Wir sind der Westen. Wir, das sind Europa und Nordamerika, und der Westen ist in diesem Zusammenhang mehr als einfach nur die geographische Lage. Der Westen, das sind die Industrieländer der ersten Welt, eine Allianz von Demokratien mit gemeinschaftlichen Zielen und Werten; Werten, die uns ausmachen, die uns von anderen Teilen der Welt abheben, die unsere Gesellschaft ein wenig fortschrittlicher, ein wenig zivilisierter machen. Es sind Werte, die uns als Europäern so wichtig sind, dass wir sie als Grundsätze in unseren bilateralen Verträgen festschreiben. Werte wie freiheitliche Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Frieden und Stabilität, das – so betonen unsere Politiker und Medien gern – sind unsere westlichen Werte.

Die unausgesprochene Annahme ist, dass das Verbreiten dieser Werte einen Beitrag für eine bessere Welt darstellt. Es ist daher unsere Aufgabe und vielleicht sogar unsere moralische Pflicht, unseren Teil zur Verbreitung beizutragen. Nationen, die unsere Werte in einem nicht ausreichenden Maß teilen, gelten als unterentwickelt und unzivilisiert, ihre Regierungen als nicht legitim. Über die Jahre hat der Westen folgerichtig ein weitreichendes Netzwerk von international agierenden NGOs und Think Tanks von Freedom House bis Human Rights Watch hervorgebracht, das sich allein für den Erhalt und die Verbreitung unserer Werte weltweit einsetzt. Die jüngste Organisation, die sich in diese Tradition eingereiht hat, ist die IPAC – die Inter-Parliamentary Alliance on China.

Die IPAC wurde am 04. Juni 2020 am 31. Jahrestag der Vorfälle auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking gegründet und ist ein Zusammenschluss von Abgeordneten aus inzwischen 18 nationalen und dem EU-Parlament. Die IPAC sieht sich laut eigenem Mission Statement als vereinte Front der Demokratien, die unsere Werte gegen den negativen Einfluss Chinas zu verteidigen sucht. Schwerpunkte sollen dabei internationales Recht, Menschenrechte, Sicherheitspolitik und Fair Trade sein. Deutschland ist durch die Bundestagsabgeordneten Margerete Bause und Michael Brand und den Europaparlamentsabgeordneten Reinhard Bütikofer als IPAC-Co-Chairs vertreten.

Fünf weitere deutsche Politiker sind darüber hinaus Mitglieder der IPAC, darunter Gyde Jensen, Ausschussvorsitzende für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Bundestag. Das Bild, das die Mitglieder der IPAC in ihrem Vorstellungsvideo von China vermitteln, ist das eines gefährlichen Landes, dessen unmoralische Führung sich einfach nicht an internationale Normen halten kann, dessen ständig wachsender Einfluss nun auch das Handeln anderer Nationen zu korrumpieren droht und so die Gründung der IPAC notwendig gemacht hat, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Westliche Demokratie gegen das kommunistische China; ein Hauch von Gut gegen Böse.

Doch sind Chinas Verstöße gegen internationales Recht, Menschenrechte und internationale Sicherheit tatsächlich so eklatant, dass das Land das Prädikat Gefahr für die freie Demokratie und westliche Werte verdient? Im Bereich internationales Recht und Sicherheit sind es vor allem Chinas Grenzkonflikte mit Indien, im südchinesischen Meer und mit Taiwan, die von internationaler Seite am häufigsten kritisiert werden.

Chinas Grenzkonflikte

Indien

Der Grenzkonflikt zwischen Indien und China ist mehrere Jahrzehnte alt und beruht auf gegensätzlichen Gebietsansprüchen im Bereich der Hochgebirge an der chinesischen Westgrenze um Tibet und Xinjiang. Bei Zusammenstößen starben im Juni diesen Jahres 20 indische Soldaten. Allerdings ist der Grenzdisput mit China für Indien keine Ausnahme – ähnliche Konflikte existieren mit beinahe allen nördlichen Nachbarn von Myanmar bis Pakistan – und es ist unklar, wer die Verantwortung für die jüngsten Auseinandersetzungen trägt. Die Ursachen für die diplomatischen Spannungen allein bei China zu suchen, ist sicher zu einfach.

Südchinesisches Meer

Anders verhält es sich im südchinesischen Meer. Hier werden verschiedene Inselgruppen, wie die Paracels und die Spratleys, von mehreren Anrainerstaaten, u.a. Brunei, den Philippinen und Vietnam, beansprucht. China macht seinerseits historische Ansprüche für einen Großteil des südchinesischen Meeres geltend und hat durch die Aufschüttung von 13 Quadratkilometern künstlicher Inselfläche seit 2013 und deren teilweiser Militarisierung Fakten geschaffen.

Das ständige Schiedsgericht in Den Haag hat in einem Urteil in 2016 entschieden, dass China historische Ansprüche mit Rücksicht auf das internationale Seevölkerrecht nicht geltend machen könne und in verschiedenen Fällen das philippinische Hoheitsrecht von chinesischer Seite verletzt wurde. Zu den Besitzverhältnissen im südchinesischen Meer selbst nahm das Urteil allerdings keine Stellung. Die jahrzehntelangen Spannungen zwischen den einzelnen Staaten existieren damit aufgrund der ungeklärten Hoheitsansprüche weiterhin und dass China als dominante maritime Kraft Forderungen stellt und ein Vorgehen an den Tag legt, das eher auf Realpolitik als internationalem Völkerrecht fußt, trägt zum Konfliktpotential im südchinesischen Meer bei.

Taiwan

Taiwan ist für China nicht nur eine abtrünnige Provinz, sondern auch eine der letzten verbleibenden Erinnerungen an das Jahrhundert der Schande von 1839 bis 1949, in dem China sich von den imperialistischen Kräften Europas und Japans fremdbestimmt und ausgebeutet sah. Nach der Niederlage im ersten chinesisch-japanischen Krieg 1895 wurde Taiwan von Japan annektiert und verblieb nach der japanischen Niederlage im zweiten Weltkrieg aufgrund amerikanischer, gegen die neue kommunistische Regierung Chinas gerichteter Intervention und im Gegensatz zu den zur Kriegszeit gemachten Vereinbarungen von China getrennt.

Die nach der Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg 1949 nach Taiwan geflohenen Nationalisten unter Chiang Kai-Shek regierten fortan von Taipei aus mit dem zweifelhaften Anspruch, die einzige legitime Regierung ganz Chinas zu sein. Denselben Anspruch erhoben wesentlich überzeugender auch die Kommunisten in Beijing und wurden ab 1971 auch in der UN als einziger offizieller Repräsentant Chinas anerkannt. Dass Taiwan ein Teil Chinas ist, stand sowohl für Nationalisten als auch für Kommunisten außer Frage.

Mit Taiwans Demokratisierung Ende der 80er und Anfang der 90er gewannen erstmals offizielle Stimmen an Bedeutung, die anders als die Kuomintang (KMT), die Partei Chiang Kai-Sheks, die Unabhängigkeit von Taiwan als eigenständiger Staat als Möglichkeit formulierten. Vorrangiger Vertreter dieser Bestrebung ist die DPP der aktuellen Präsidentin Tsai Ing-Wen. Doch während China bereit ist, den aktuellen Status Quo Taiwans als einen aus den Wirren der Geschichte gewachsenen notdürftigen Kompromiss zu tolerieren, wäre eine Unabhängigkeitserklärung für China die Manifestierung historischen Unrechts und damit unannehmbar.

Im Jahr 1992 einigten sich Repräsentanten beider Seiten auf den umstrittenen One-China-Consensus, der besagt, dass es nur ein China gibt. Grundsätzlich steht dahinter das Versprechen Beijings, keine weiteren Schritte in der Taiwanfrage zu unternehmen, solange sich Taiwan zu einem China und nicht zur Unabhängigkeit bekennt. Die aktuellen wiederholten Proteste und militärischen Drohgebärden Beijings, wie das wiederholte Eindringen der chinesischen Luftwaffe in den taiwanesischen Luftraum, sind dementsprechend jeweils Reaktionen auf politische Aktionen Taiwans, die den One-China-Consensus infrage stellen. Der Kauf von US-Waffensystemen, bestimmte Aussagen zu Taiwans Souveränität von Tsai Ing-Wen und der Empfang von US-Diplomaten werden von Beijing als eine Provokation angesehen und sind von der Gegenseite zum Teil sicher auch als solche gedacht.

Die chinesische Regierung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie nicht in der Lage war, diese Grenzkonflikte trotz ihrer jahrzehntelangen Geschichte nachhaltig zu lösen. Doch weder ist China das einzige Land, dessen Grenzverlauf nicht abschließend geklärt ist und damit Konfliktpotential birgt, noch zeichnet sich das Vorgehen der Regierung in Beijing in Bezug auf ihre Souveränitätsansprüche durch besondere Aggressivität aus. Im Gegensatz zu den Grenzkonflikten zwischen Indien und Pakistan, Russland und der Ukraine oder wie aktuell zwischen Armenien und Aserbaidschan vertritt China seine Interessen beinahe ausschließlich mit diplomatischen, nicht-militärischen Mitteln. Tödliche Zusammenstöße wie zuletzt an der indischen Grenze sind im Gegensatz zu anderen Grenzkonflikten weltweit die Ausnahme, nicht die Regel.

Chinas Vorgehen ist nicht, wie häufig beschrieben, auf territoriale Expansion ausgelegt, sondern zielt auf den Erhalt der Gebiete, in dem die chinesische Regierung historische und, wie im Falle Taiwans, jahrhundertealte Ansprüche sieht. Im Falle des südchinesischen Meeres steht dieser Anspruch allerdings im Widerspruch zum UN-Völkerrecht und die chinesischen Verstöße wurden zu recht kritisiert.

Aber dass China aufgrund seines jüngsten Verhaltens wie von der IPAC gefordert besondere Aufmerksamkeit als Gefahr für internationales Recht und Sicherheit verdient, ist fragwürdig. Denn weder hat China seine offiziellen Standpunkte bezüglich seiner langjährigen Grenzkonflikte kürzlich geändert, noch wäre es besonders schwierig, Beispiele von Staaten zu nennen, deren aktuelle Verstöße in den Bereichen internationales Recht und Sicherheit wesentlich schwerer wiegen. So führt z.B. das NATO-Mitglied Türkei einen Angriffskrieg in Syrien, kämpft in Libyen, unterstützt die Eskalation zwischen Aserbaidschan und Armenien, bombardiert Kurden im Irak, unterdrückt die kurdische Minderheit im eigenen Land und hält eine der weltweit längsten völkerrechtlich illegalen Besatzungen in Zypern aufrecht. Damit ist die Türkei, ein weit kleineres Land als China und außerdem Teil Europas und Partner in der westlichen Verteidigungsallianz, in vier Kriege gleichzeitig verwickelt, die bereits tausende Tote gekostet haben. Vor diesem Hintergrund scheint die starke westliche Fokussierung auf China entweder verfehlt, politisch motiviert oder rein willkürlich.

Chinas Menschenrechtsverletzungen

Doch von allen Vorwürfen gegen China sind es vor allem die der eklatanten Menschenrechtsverletzungen, die am schwersten wiegen. Die IPAC stützt ihre Daseinsberechtigung nicht zuletzt auf die Theorie, dass das skrupellose Verhalten einer aufstrebenden wirtschaftlichen Großmacht die globalen, von der westlichen Welt aufrechterhaltenen Moralvorstellungen und die Demokratie selbst untergräbt. Beweise für den menschenverachtenden Charakter von Chinas Führung finden sich vor allem in zwei Beispielen: Hong Kong und Xinjiang.

Hong Kong

In Hong Kong hat China – so der Vorwurf – friedliche, pro-demokratische Demonstrationen brutal unterdrückt. Demonstranten werde exzessive Polizeigewalt entgegengesetzt und so nicht nur das Recht der Bürger Hong Kongs auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit verletzt, sondern die Demokratie selbst untergraben. Mit der anschließenden Verabschiedung des nationalen Sicherheitsgesetzes im Juni diesen Jahres habe China die permanente Beschneidung der Menschenrechte in Hong Kong gesetzlich festgeschrieben.

Dass es während der Demonstrationen zu Fällen von Polizeigewalt kam, ist unstrittig. Allerdings ist dieser Fakt ohne Kontext wenig aussagekräftig. Die Proteste in Hong Kong dauerten 6 Monate. Was als friedliche Massenproteste gegen ein Auslieferungsgesetz mit dem Festland begann, entwickelte sich innerhalb weniger Wochen zu massiven, gewalttätigen, gegen die Hong Konger und Beijinger Regierungen gerichteten Ausschreitungen. Brandstiftung und Vandalismus führten zu Millionenschäden. Gewalttaten gegen Protestgegner, Festlandchinesen und Polizisten forderten dutzende Verletzte. Demonstranten zündeten einen Mann an und brachten einen 70-Jährigen mit einem Steinwurf um. Die Polizeiaktionen waren dementsprechend weniger der Versuch, die Grundrechte der Bürger zu untergraben, als Ausschreitungen zu unterbinden.

Dass die Hong Konger Polizei unverhältnismäßig reagiert und so zur Radikalisierung der Proteste beigetragen hat, ist möglich. Die umfassenden Filmaufnahmen der Auseinandersetzungen zeigen allerdings, dass die Gewalt ebenfalls von Demonstranten ausging und dass die Verantwortung allein bei der Polizei zu suchen, zu einfach ist. Der internationale Vergleich wirft darüber hinaus Zweifel auf, dass die Gewaltbereitschaft der Hong Konger Polizei sonderlich exzessiv war. In 2019 gab es weltweit Proteste in Frankreich, Ecuador, Bolivien, Chile, Indonesien und im Irak. In fast allen Fällen und obwohl die meisten Proteste wenige Wochen, nicht Monate, andauerten, gab es Tote durch Polizeigewalt; nicht in Hong Kong.

Das Nationale Sicherheitsgesetz

Das am 30. Juni in Kraft getretene nationale Sicherheitsgesetz ist eine direkte Reaktion auf die Proteste des letzten Jahres und die Einflussnahme ausländischer Kräfte, vor allem der USA. Es stellt Landesverrat, Sezession, Volksverhetzung und Planung des Regierungssturzes unter Strafe. Westliche Kritiker sehen das Gesetz allerdings weniger als Reaktion auf äußere Einmischung in Chinas Angelegenheiten als vielmehr als Werkzeug zur Unterdrückung demokratischer Kräfte und der Meinungsfreiheit in Hong Kong.

Die Anklage Chinas, dass die USA die Protestbewegung in Hong Kong unterstützt und damit das Gesetz notwendig gemacht hätten, wurde im Westen als wenig originelle Ausrede eines autoritären Regimes für die durch staatliche Unterdrückung provozierten inneren Unruhen dargestellt. Dabei bestehen zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch Zweifel am Ausmaß, aber nicht an der Einmischung selbst. Über die CIA-Tochter NED (National Endowment for Democracy) haben die USA über die letzten 6 Jahre 1.8 Millionen USD in Hong Kong investiert. Das Geld floss direkt oder indirekt an mindestens sechs Organisationen, die die Hong Konger Proteste organisiert haben.

Wie Time berichtet, flossen weitere Millionen durch die US Agency for Global Media für die Entwicklung verschlüsselter Kommunikations-Apps und einen Hilfsfonds. Die führenden Köpfe der Protestbewegung wie Hauptfinancier der Demonstrationen und Medienmogul Jimmy Lai, Gründer der demokratischen Partei Martin Lee oder Demosisto-Gründer Joshua Wong und Nathan Law haben direkte Beziehungen zur amerikanischen Politelite um Mike Pompeo, Mike Pence, Nancy Pelosi, John Bolton und Marco Rubio. Wie Donald Trumps Chinaberater, Michael Pillsbury, in einem Fox-News-Interview bestätigte, unterstützten die USA bereits die Regenschirmproteste in 2014. Die amerikanische NGO Human Rights Foundation schulte Hong-Kong-Protestorganisatoren Jahre im Voraus.

Das NSG an sich ist kein außergewöhnliches Gesetz. Vergleichbare Gesetze existieren z.B. in Macau seit 2009, ebenfalls eine Sonderadministration Chinas, oder – in noch weitreichenderer Fassung – in Form des Patriot Acts in den USA. Auch das deutsche Strafrecht umfasst Reglungen gegen Hochverrat und Volksverhetzung. Das NSG in Hong Kong erlaubt dem Gesetzgeber allerdings extrem weiten Spielraum bei der Auslegung und Kritiker sehen zu recht die Gefahr der willkürlichen Kriminalisierung von Kleinstdelikten und der Unterdrückung zukünftiger demokratischer Reformbewegungen. Zu der befürchteten exzessiven Anwendung des NSG ist es aber bisher nicht gekommen. In den ersten drei Monaten seit Inkrafttreten des Gesetzes gab es 26 Festnahmen und lediglich eine Anklage.

Xinjiang

In Xinjiang reichen die Vorwürfe gegen China von religiöser Unterdrückung, Zwangsarbeit, Zwangsheirat, Massenverhaftungen, Sterilisationen und ethnischen Säuberungen bis zum kulturellen und demographischen Genozid muslimischer Minderheiten in Konzentrationslagern. Über eine Million Muslime, vor allem Uighuren, sollen von willkürlicher Verfolgung und Inhaftierung durch die chinesische Regierung betroffen sein. China spricht seinerseits von einem Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus, dem man versuche durch verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, Investition in Fortbildung und Umerziehungslager zu begegnen.

Dass die Umerziehungslager existieren und dass China ein engmaschiges Überwachungsnetz in weiten Teilen Xinjiangs installiert hat, ist unumstritten. Die starke Ausweitung des öffentlichen Sicherheitsapparats ist aber weder grundlos geschehen, noch richten sich die Maßnahmen gegen die muslimische Glaubensgemeinschaft insgesamt. Vielmehr haben Terroranschläge von uighurischen Extremisten der ETIM (East Turkistan Independence Movement) über die letzten drei Jahrzehnte hunderten Menschen das Leben gekostet. Die ETIM wird nicht nur von China, sondern auch von den USA (bis November 2020), UK und der UN als terroristische Vereinigung mit Al-Qaeda-Verbindungen klassifiziert. Die USA selbst flogen noch in 2018 Einsätze gegen ETIM-Trainingscamps in Afghanistan.

Eine Großzahl der genannten Anschuldigungen ist sicher der Politisierung des Themas Xinjiang geschuldet. Dass sich Chinas Kampagne nicht pauschal gegen Muslime richtet, lässt sich an der Unterstützung für Chinas Deradikalisierungsmaßnahmen durch das OIC (Organization of Islamic Cooperation) und einem Großteil der mehrheitlich muslimischen Nationen erkennen. Und dass an der Charakterisierung der Umerziehungslager Zweifel bestehen sollten, ist daran abzulesen, dass keiner der dutzenden Besucher von internationalen Delegationen, Journalisten, der Weltbank und der UN auch nur ansatzweise Beweise für Konzentrationslager oder einen Genozid hat feststellen können. Weder die für eine Massenverfolgung symptomatischen Flüchtlingsströme noch die im Social-Media-Zeitalter unvermeidbaren Videobeweise existieren.

Die krassesten Anschuldigungen gegen China gehen vor allem auf dubiose, US-amerikanisch finanzierte Quellen zurück. Prominentestes Beispiel hierfür ist Adrian Zenz, ein evangelikaler Deutscher, der als Senior Research Fellow beim antikommunistischen, in Washington ansässigen Think Tank Victims of Communism Memorial Foundation tätig und vor seiner überraschenden Karriere als Xinjiang-Experte vor allem durch obskure Glaubensstudien aufgefallen ist. Es ist bezeichnend für den öffentlichen Diskurs zu Xinjiang, dass Zenz trotz Interessenkonflikt, zweifelhafter Expertise und der Veröffentlichung von grob unwissenschaftlichen Studien der Öffentlichkeit kritiklos als Autorität im Bereich China präsentiert wird. Und es ist ebenfalls bezeichnend für die IPAC, dass Zenz und Vicky Xu vom australischen ASPI als „Berater“ gelistet sind.

Das ASPI (Australian Strategic Policy Institute) ist eine weitere prominente Quelle, die u.a. durch das australische Verteidigungsministerium, den US-amerikanischen Militärkomplex und die NATO finanziert wird, und vor allem durch Studien von Analysten in den Mittzwanzigern auffällt, die öffentlich zugängliche Dokumente und Satellitenbilder fragwürdig interpretieren. In Australien selbst werfen Politiker dem ASPI vor, an einem neuen Kalten Krieg zu arbeiten und einen einseitigen pro-amerikanischen Standpunkt zu vertreten. Die ursprüngliche Quelle für die von Adrian Zenz zur Popularität verholfenen 1 Million inhaftierten Uighuren ist ein weiterer US-amerikanischer Think Tank in Washington mit dem Namen China Human Rights Defenders (CHRD). Die Zahl ist eine Schätzung auf Basis von nur 8 Interviews.

Weitere Anklagen gegen die Umerziehungslager kommen von ehemaligen Insassen. Und diese Zeugenaussagen zu den Verhältnissen in den Umerziehungslagern beschreiben häufig unhaltbare Zustände, sind aber gleichzeitig unmöglich zu verifizieren, und es gibt deutliche Anzeichen für Manipulation der jeweiligen Darstellung, um einen dramatischen Effekt zu erzielen. Sayragul Sauytbay und Tursunay Ziyawudun sind zwei der am häufigsten zitierten Zeugen. Beide gaben mehrere Interviews, die zunehmend dramatischere Details beinhalteten. Ziyawudun behauptet zunächst, kein Opfer von Gewalt gewesen zu sein, um anschließend KZ-ähnliche Zustände mit medizinischen Experimenten und Tritten in den Unterleib zu beschreiben. Zwischen ihren beiden Interviews liegen ganze 4 Monate.

Sauytbay gab ursprünglich ebenfalls zu Protokoll, keinerlei Gewalt gesehen zu haben, um ein Jahr später von permanenter Folter – inkl. Elektroschocks und der Entfernung von Fingernägeln – medizinischen Experimenten, regelmäßigen Vergewaltigungen und dem Zwang, als Muslimin Schweinefleisch essen zu müssen, zu berichten. Auf Anfrage, zu den extremen Anschuldigungen Stellung zu nehmen, gab die chinesische Regierung zu Protokoll, dass Sauytbay selber nie in einem Umerziehungslager war und China trotz Verdacht auf Kreditschwindel von über 40.000 EUR verlassen hätte.

Bezüglich der Anklagen des demographischen und kulturellen Genozids und der Massensterilisierung von Uighuren sollte darüber hinaus in Betracht gezogen werden, dass identische Vorwürfe jahrelang in Tibet vorgebracht wurden und sich anschließend als haltlose Übertreibungen herausgestellt haben. Weder gab es ein Programm für erzwungene Abtreibungen und Sterilisationen noch einen Genozid. Es leben heute mehr Tibeter in China als je zuvor.

Doch trotz der breitgestreuten Fehlinformation zu Xinjiang bleibt festzuhalten, dass die Deradikalisierungsmaßnahmen der chinesischen Regierung den Freiheitsentzug für, wenn auch nicht eine Million, so doch hunderttausende Menschen (die Weltbank gab 180.000 Teilnehmer auf ihrer Informationsseite zum Projekt an, bevor sie die Daten wieder löschte) bedeutet hat und dass die ständigen Sicherheitskontrollen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit einen deutlichen Einfluss auf die Lebensqualität der uighurischen Minderheit haben. Und auch wenn andere Länder vergleichbare Maßnahmen (1/2/3) gegen Extremismus im eigenen Land unternommen haben, so ist doch Chinas Programm in Xinjiang das umfassendste, und es stellt sich die Frage, ob die von der Regierung priorisierte öffentliche Sicherheit sich nicht mit weniger schwerwiegenden Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte seiner Bürger hätte erreichen lassen.

Der Westen und seine Werte

Angesichts der massiven Kritik von westlicher Seite an Chinas Verhalten bezüglich seiner Grenzkonflikte und dem harten Durchgreifen in Hong Kong und Xinjiang sollte man erwarten, dass es vor allem die freiheitlichen Demokratien Europas und Nordamerikas sind, die die Werte wie internationale Sicherheit, internationales Recht und Menschenrechte in der globalen Staatengemeinschaft aufrechterhalten. Die UN- und NATO-Charta, die Genfer Konventionen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sind schließlich vom Westen selbst federführend entworfene Dokumente. Und wie sonst könnte man die Gründung einer Organisation wie der IPAC rechtfertigen? Vorbildcharakter würde man insbesondere von der Nation erwarten, deren Verhalten den größten Einfluss auf das Weltgeschehen hat und sich daher als Anführer der freien Welt sieht: den USA.

Die Vereinigten Staaten

Die Machtfülle, militärische Überlegenheit und kulturelle Suggestivkraft der USA sind historisch einmalig. Kein anderes Land hatte größeren Einfluss auf die Entstehung internationaler Institutionen und kein Land hat umfassender gegen ihre Regeln und den Geist, den sie verkörpern, verstoßen. Die Verstöße gegen internationale Sicherheit, internationales Recht und Menschenrechte der USA sind ein Abbild ihrer außergewöhnlichen Machtfülle und damit so eklatant, dass ein Vergleich mit China absurd erscheinen muss.

Die USA sind seit 20 Jahren permanent im Krieg, die meiste Zeit in mehreren Ländern gleichzeitig. Die Kriege in Afghanistan und Irak haben mindestens 500.000 Menschen das Leben gekostet. Weitere Hundertausende Menschen starben in von den USA selbst geführten und/oder großzügig unterstützten Kampfhandlungen in Libyen, Syrien und Jemen, einem Krieg, der tatsächlich das Prädikat Genozid verdient. Die Destabilisierung des Mittleren Ostens hat zu Millionen Flüchtlingen geführt und Libyen von einer der reichsten Nationen Afrikas zu einem gescheiterten Staat degradiert, in dem erstmals seit über 100 Jahren wieder Sklavenmärkte existieren. Die negativen Auswirkungen der durch die Gewalt verursachte gesellschaftliche Zerrissenheit und persönlichen Traumata sowie die von US-Truppen eingesetzte und zu Geburtsdefekten führende Uranmunition werden den Menschen in den Kriegszonen noch Generationen erhalten bleiben.

Gleichzeitig führen die USA über Sanktionen einen Wirtschaftskrieg gegen ca. ein Drittel der Weltbevölkerung, dem in den letzten Jahren weitere zehntausende Menschen zum Opfer gefallen sind. Der seit 2004 geführte Drohnenkrieg fordert jährlich hunderte Opfer in mindestens 7 mehrheitlich muslimischen Ländern; ein Fakt, der die häufig öffentlich vorgetragenen Sorgen amerikanischer Diplomaten für das Schicksal der Muslime in China letztlich nicht ganz aufrichtig erscheinen lässt. US-amerikanische Geheimdienste organisieren routinemäßig gewalttätige Regierungsumstürze, zuletzt – wie von US-Senator Chris Murphy eingestanden – erfolglos 2019 in Venezuela. Laut der Meinung seiner führenden Intellektuellen, Journalisten, Politiker und akademischen Institutionen ist selbst die Bezeichnung der USA als Demokratie fragwürdig.

Dass die Außenpolitik der USA im Gegensatz zur UN-Charta und ihrem Geist von Frieden und internationaler Zusammenarbeit steht, ist offenkundig. Gezielte Tötungen mit Drohnen, der Diebstahl von Syriens Öl und willkürliche Verschleppung und Folter wie im Falle Guantanamos sind alles Kriegsverbrechen im Sinne der Genfer Konvention. Dass die Aussicht, sich für Kriegsverbrechen in Afghanistan verantworten zu müssen, Mike Pompeo dazu veranlasste, den internationalen Kriminalgerichtshof in Den Haag einen „Kangaroo Court“ zu nennen, zeigt den Stellenwert, den die amerikanische Regierung in Bezug auf sich selbst westlichen Werten einzuräumen bereit ist.

Die USA verletzten internationales Recht und Menschenrechte und gefährden internationale Sicherheit so häufig und in einem solchen Ausmaß, dass man davon ausgehen muss, dass sie von den Entscheidungsträgern nur dann als relevant angesehen werden, wenn sie mit den eigenen Zielen harmonieren oder als Instrument der Anklage gegen andere Nationen verwendet werden können.

Am Beispiel Europas: Frankreich

Doch der Westen besteht nicht nur aus den Vereinigten Staaten und aufgrund der herausragenden Stellung, die die USA in der Weltordnung einnehmen, könnte man sie möglicherweise als nicht-repräsentative Ausnahme der westlichen Wertegemeinschaft entschuldigen. Doch auch in Europa finden sich Beispiele, die darauf hindeuten, dass es den jeweiligen Nationen in ihren Entscheidungen weniger um die von der IPAC deklarierten, abstrakten Ideale als vielmehr um geopolitische Interessen und Einfluss geht. Ein prominentes Beispiel ist Deutschlands engster Partner und „Kern Europas“: Frankreich.

Die 1960er Jahre gelten als das Ende des Kolonialzeitalters und der Herrschaft der Europäer über den afrikanischen Kontinent. Doch im krassen Gegensatz zum vorherrschenden Zeitgeist afrikanischer Emanzipation zwang Frankreich einen Großteil seiner afrikanischen Kolonien in ein Reglement, das als Francafrique Bekanntheit erlangt hat und grundsätzlich die Fortsetzung der französischen Herrschaft mit anderen Mitteln gewährleisten sollte. Selbstbestimmung war damit für die 12 französischen Kolonien, die sich diesem System unterordnen mussten, nur nominell, aber keine Unabhängigkeit im wirklichen Sinne des Wortes. Für diese Länder ging Kolonialismus lediglich in Neokolonialismus über.

Das System Francafrique existiert bis heute. Für 14 afrikanische Staaten bedeutet das u.a., dass ihre Geld- und Wirtschaftspolitik maßgeblich von Frankreich beeinflusst wird, dass sie mindestens 50% ihrer Währungsreserven in Frankreich deponieren mussten (erst 2019 revidiert), dass öffentliche Aufträge zunächst französischen Firmen angeboten werden müssen und dass Frankreich das Vorkaufsrecht auf alle Rohstoffe des jeweiligen Landes hat. Mit welchen Mitteln Frankreich bereit ist, diese Privilegien gegen afrikanische Selbstbestimmung zu verteidigen, lässt sich an der großen Zahl afrikanischer Reformer, die Attentaten oder Regierungsumstürzen zum Opfer fielen, ablesen (Manche Quellen sprechen von 22 Ermordungen afrikanischer Staatsoberhäupter). Das französische Militär hat seit 1960 über 50 Mal direkt in Afrika interveniert und über 4.000 französische Soldaten sind aktuell permanent in Afrika stationiert.

Dass Frankreichs Neokolonialismus, der günstige Zugang zu Rohstoffen und Aufträgen für französische Firmen, massive Vorteile für den französischen Staat hat, ist offenkundig. Für 14 afrikanische Länder bedeutet das Francafrique-System außer einer stabilen Währung aber eine stagnierende Wirtschaft, den Ausverkauf ihrer natürlichen Ressourcen, fehlende Auslandsinvestitionen, korrupte Eliten und politische Unruhen. Während Frankreich sich seinen internationalen Status und Einfluss erhält, fristen seine ehemaligen Kolonien eine permanente Existenz als Entwicklungsländer. In der Rangliste des Human Development Index der Vereinten Nationen rangieren 5 der Francafrique-Staaten unter den letzten 10.

Frankreichs Neokolonialismus in Afrika steht im krassen Gegensatz zu den Werten, die die IPAC für sich in Anspruch nimmt. Weder die langjährige Unterstützung Frankreichs für afrikanische Autokraten noch die vielfältigen Regierungsumstürze, die Westafrika seine politische Stabilität nehmen, sind ein Bekenntnis zu demokratischen Grundwerten oder internationaler Sicherheit und Stabilität. China wird in Hong Kong keine freien Wahlen nach europäischem Vorbild zulassen. Frankreichs Neokolonialismus ist mitverantwortlich für die Unterentwicklung von 170 Millionen Afrikanern und das seit 60 Jahren.

Deutschland

Aber auch für Frankreich könnte man anführen, dass das Land als ehemalige Kolonialgroßmacht einen Sonderstatus ähnlich der USA innehat und daher nicht repräsentativ für den Westen stehen kann. Daher stellt sich die Frage, wie Deutschland selbst, als finanzstärkstes und einflussreichstes Land Europas, die westlichen Werte verkörpert, zu deren Verteidigung sich sowohl Abgeordnete des Bundestages als auch deutsche Abgeordnete aus dem Europaparlament der IPAC angeschlossen haben.

Ein erstes Indiz ist Deutschlands Teilnahme am Kosovokrieg 1999. Mit der Teilnahme am NATO-Bombardement auf dem Balkan hat Deutschland nicht nur das Völkerrecht gebrochen, da der Angriff ohne UN-Mandat erfolgte, sondern gleichzeitig auch die NATO-Charta, die ausschließlich kollektive Verteidigung bei einem Angriff auf eines der NATO-Mitglieder vorsieht. Mit einer Bilanz von über zehntausend Toten und über einer Million Flüchtlingen, von denen der Großteil versuchte, den NATO-Angriffen zu entkommen, kann dieser erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten im Ausland seit dem Zweiten Weltkrieg kaum als erfolgreicher Beitrag für internationales Recht und Sicherheit oder Menschenrechte gewertet werden. Bei den grünen IPAC-Mitgliedern Bütikofer und Bause fand der Kampfeinsatz der Bundeswehr bereits damals trotzdem Unterstützung.

Dass es Deutschland auch in den letzten 20 Jahren nur mangelhaft geschafft hat, für internationales Recht, Menschenrechte und Demokratie einzustehen, liegt vor allem daran, dass Deutschland als NATO-Mitglied Juniorpartner der USA ist und außenpolitische Entscheidungen damit entscheidend vorbelastet sind. Egal, ob für den Irakkrieg, den Afghanistankrieg, die Bombardierung Libyens oder den Krieg in Syrien, die USA haben mindestens die latente Unterstützung Deutschlands durch das Gewähren von Überflugrechten sowie der Bereitstellung von logistischen, personellen und finanziellen Ressourcen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte dementsprechend als Reaktion auf das Verhalten der Bundesregierung im Irakkrieg in 2005, dass Deutschland nicht verpflichtet sei, völkerrechtliche Delikte der NATO zu unterstützen, sondern im Gegenteil dazu angehalten sei, seine Neutralität zu verteidigen. Die deutsche Judikative zeigte damit, dass sie die westlichen Werte bedeutend besser verinnerlicht hat als die Exekutive.

Der Syrienkrieg ist ein plastisches Beispiel dafür, in welchem Maße Deutschland dazu bereit ist, moralische Werte den geopolitischen Erwägungen der USA unterzuordnen. Obwohl Veröffentlichungen u.a. durch Wikileaks beweisen, dass die USA Assads Umsturz durch die Unterstützung der Opposition seit mindestens 2006 geplant hatten, westliche Geheimdienste die Rebellen seit 2011 trainierten, die CIA über Operation Timber Sycamore die Rebellen bei jährlichen Kosten von ca. 1 Mrd. USD ausbildete und bewaffnete und bereits 2012 klar war, dass es sich bei den Oppositionskämpfern vor allem um islamistische Extremisten handelte, deren letzte Bastion seit 2018 Idlib ist, hat Deutschland Waffen und Geheiminformationen an eben diese Opposition geliefert, Militäroperationen der USA in Syrien unterstützt und sendet bis heute Milliarden für humanitäre Hilfe in die Region.

Da die finanzielle Unterstützung in Syrien selbst ausschließlich für Oppositionsgebiete und nicht für den Wiederaufbau der zerstörten Nation gedacht ist, liegt der Verdacht nahe, dass diese Hilfen dazu dienen werden, einen Konflikt, der für 5 Millionen Flüchtlinge und 400.000 Tote verantwortlich ist, künstlich am Leben zu erhalten. Die Flüchtlingskrise hatte auch für Deutschland tiefgreifende Folgen und der vorherrschende Eindruck ist, dass Deutschland in Syrien nicht nur westlichen Werten, sondern auch seinen eigenen besten Interessen zuwidergehandelt hat.

Konfliktherde wie in Syrien oder in Jemen zeigen aber auch, dass eklatante Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüche Deutschland nicht davon abhalten, den Konfliktparteien weiter Waffen zu liefern. Zwar exportiert Deutschland aktuell keine Waffen an Saudi-Arabien, aber dass das 2018 in Kraft getretene Embargo eher kosmetischer als idealistischer Natur ist, lässt sich daran ablesen, dass die genehmigten Waffenexporte an die anderen Länder der mittelöstlichen Kriegsallianz in 2019 über eine Milliarde Euro betrugen und dass zu dem Zeitpunkt, zu dem das Embargo ausgesprochen wurde, bereits über 70.000 Menschen umgekommen und 50.000 Kinder in Jemen verhungert waren. Die Türkei, die aktuell Nordsyrien besetzt, gegen Kurden im Nordirak vorgeht, in Libyen kämpft und die Eskalation zwischen Aserbaidschan und Armenien unterstützt, war in 2018 und 2019 darüber hinaus das Zielland für ein Drittel aller deutschen Rüstungsexporte.

Das wohl schwerwiegendste Vergehen Deutschlands gegen Menschen- und Völkerrecht ist aber die Unterstützung des amerikanischen Drohnenkrieges. Spätestens seit den Enthüllungen der Intercept in 2015 ist klar, dass die US-Militärbasis in Ramstein eine Schlüsselfunktion innehat, die die willkürliche Bombardierung von mindestens 7 Ländern im Mittleren Osten, Asien und Afrika erst ermöglicht. Weder die mediale Berichterstattung noch öffentlicher Druck oder die weitere Eskalation des Drohnenkrieges unter Donald Trump haben bei der deutschen Regierung zu einer nennenswerten Reaktion geführt. Ein Verhalten, das nun auch vom Bundesverwaltungsgericht legitimiert wurde. Damit macht sich Deutschland weiterhin mitschuldig an außergerichtlichen Tötungen, willkürlichen Massakern an Hochzeitsgesellschaften und Schulkindern und der gezielten Terrorisierung ganzer Regionen.

Selbst die deutsche Liebe zur Demokratie findet ihre Grenzen in der amerikanischen Interessenpolitik. Sowohl in Venezuela, wo sich der ungewählte Präsident der Nationalversammlung, Juan Guaido, undemokratisch selbst zum Präsidenten ernannte, als auch in Bolivien, wo ein gewalttätiger Militärputsch den bolivianischen Präsidenten Evo Morales zwang, das eigene Land zu verlassen, und die ungewählte, christliche Fundamentalistin Janine Anez an die Macht brachte, erfolgte die Anerkennung der neuen Präsidenten durch die Bundesregierung jeweils direkt im Anschluss an die der USA. Obwohl Aussagen des US-Senators Chris Murphy Vermutungen bestätigen, dass Guaidos Selbsternennung Teil eines Putschversuchs der USA und damit ein klar antidemokratischer, illegaler und imperialistischer Vorgang war, erkennt die deutsche Regierung Guaido bis zum heutigen Tag als rechtmäßigen Repräsentanten Venezuelas an und legitimiert damit den völkerrechtswidrigen Eingriff in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten, jedenfalls solange er durch unsere geopolitischen Partner vorgenommen wird.

Die IPAC

Wiegen Chinas Verletzungen gegen die westlichen Werte wirklich schwerer als die des Westens selbst? Ist die Inhaftierung von Hunderttausenden Menschen aufgrund von Deradikalisationsmaßnahmen schwerwiegender als die Tötung Hunderttausender Menschen durch endlose Ressourcenkriege? Ist die Unterdrückung regierungsfeindlicher Proteste im eigenen Land schwerwiegender als Neokolonialismus, der ganzen Nationen ihre Selbstbestimmung abspricht und sie zu einer permanenten Existenz als Entwicklungsland verurteilt? Sind weitgehend über diplomatische Kanäle ausgetragene Grenzkonflikte vergleichbar mit der Missachtung jeglicher staatlicher Souveränität und der gezielten, außergerichtlichen Tötung von Menschen durch den Drohnenkrieg? Bei einer Organisation, die vorgibt, sich für das Völkerrecht und Menschenrechte einzusetzen, würde man erwarten, dass ihr Fokus auf den Ländern liegt, die die Hauptschuldigen für die Verletzung von Völker- und Menschenrechten sind. Die IPAC akzeptiert sie hingegen als Mitglieder; ein Indiz dafür, dass – wie so häufig in internationaler Politik – Menschenrechte lediglich ein Mittel zum Zweck sind. Der Zweck ist die Diffamierung und geopolitische Ausgrenzung Chinas.

Wessen Geistes Kind die IPAC wirklich ist, lässt sich an seinen Mitgliedern ablesen. Mindestens sieben Berater und Mitarbeiter haben Verbindungen zur CIA-nahen Jamestown Foundation in Washington, der ebenfalls in Washington ansässigen Victims of Communism Foundation oder der CIA-Schwesterorganisation NED. Ein IPAC-Berater, Robert Suettinger, arbeitete selbst über 20 Jahre bei der CIA. Mit Adrian Zenz und Vicky Xu gehören auch die Verfasser der populärsten Anklageschriften zu Xinjiang zum weiteren Beraterstab. Von den 18 in der IPAC vertretenen Parlamenten sind 12 NATO-Staaten. Unter diesen Umständen sollte es niemanden überraschen, dass das Ziel der Organisation, China als unmoralischen Widersacher darzustellen, mit den geopolitischen Interessen der NATO und damit vor allem denen der USA übereinstimmt.

Die Begründung für die Existenz der IPAC ist ein einziger Widerspruch. Die Organisation sieht sich selbst als Bollwerk der Demokratien gegen die Gefahr Chinas. Doch weder könnte man überzeugend argumentieren, dass ein übereinstimmendes politisches System zu übereinstimmenden außenpolitischen Zielen führt – die Sicherung mittelöstlicher Ölquellen mag z.B. im Interesse der USA gewesen sein, die kollateralen menschlichen Konsequenzen aber sicherlich nicht im Interesse Europas – noch dass China eine größere Gefahr für demokratische Staaten ist als die USA, die in den letzten 70 Jahren weltweit ein Dutzend demokratischer Staatsoberhäupter aus dem Amt geputscht haben. Es existiert keine vergleichbare Einflussnahme in internationalen Beziehungen von Chinas Seite. Selbst die Bezeichnung als Demokratie, vordergründig eine Grundvoraussetzung für die Teilnahme bei der IPAC, ist bei manchen Mitgliedern, wie den USA oder Uganda, durchaus fraglich.

Die fragwürdige Auffassung der IPAC, dass die Menschenrechtsverletzungen bestimmter Staaten mehr Aufmerksamkeit verdient haben als andere, spiegelt sich auch in seinen deutschen Mitgliedern wider. Gyde Jensen und Reinhard Bütikofer sind führende Fürsprecher für die Demonstranten Hong Kongs, Jensen ist überzeugt, dass in Xinjiang ein Genozid stattfindet, Bütikofer glaubt, es ist zumindest „so etwas Ähnliches“. Beide halten Chinas Außenpolitik für aggressiv und China selbst für die vorrangige Gefahr für Demokratie und Menschenrechte. Beide sind für Sanktionen.

Die USA und die NATO allerdings mit den durch den Syrienkrieg und den Bürgerkrieg in Libyen geschaffenen humanitären Katastrophen oder Frankreich mit der nordafrikanischen Flüchtlingskrise in Verbindung zu bringen, gelingt beiden nicht. Für den Drohnenkrieg mit deutscher Beteiligung scheinen sie sich nicht zu interessieren. Dass es so viel leichter fällt, die Vergehen des weit entfernten Chinas als die ungleich schweren Völker- und Menschenrechtsverstöße von europäischen Nachbarn, NATO-Partnern und Deutschland selbst zu verurteilen, zeugt weder von Mut noch von moralischer Integrität. Als Reinhard Bütikofer Mitte April auf Twitter per chinesischer Schriftzeichen auf Menschenrechte in China aufmerksam machen will, hat die chinesische Regierung die Corona-Epidemie im eigenen Land bereits unter Kontrolle gebracht. Während China die Opferzahlen damit unter 6.000 Toten hält, sterben in Europa und Amerika hunderttausende Menschen zu einem nicht unerheblichen Teil, weil wirtschaftspolitische Interessen schwerer als gesundheitspolitische wogen oder schlicht aufgrund grober politischer Fahrlässigkeit. Das Recht auf Leben ist der erste Punkt auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und man könnte nur unzureichend argumentieren, dass diesem Recht während der Corona-Epidemie im Westen größeres Gewicht eingeräumt worden wäre als in China.

Dass diese Entwicklung sowie der Tod hunderttausender Syrer, Afghanen, Irakis und Libyer nicht als Menschenrechtsverletzung des Westens wahrgenommen wird und man lieber gegen chinesische Zensur und Außenpolitik als gegen Kriegsverbrechen polemisiert, ist bezeichnend.

Letztlich hat die IPAC weder etwas mit Menschen- noch mit dem Völkerrecht oder Demokratie zu tun. Sie ist NATO-PR, die ein illusionäres Bild von einer bipolaren Welt mit einem neuen Feindbild propagiert: der gute, Menschenrecht achtende Westen und das schlechte, regelverachtende China. Westliche Werte sind dabei lediglich ein Werkzeug. Für die NATO-Staaten sind sie lediglich Theorie für die Massen, nicht staatliche Praxis. Sie dienen als moralischer Maßstab, mit dem man China öffentlich bloßstellen kann, an dem aber das eigene Weltbild zerbrechen würde, würde ihn der Westen ernsthaft auf sich selbst anwenden. Dass es möglich ist, kritiklos eine Organisation auf der Annahme zu gründen, dass in westlichen Nationen das friedliche Miteinander und Wohl der Menschen einen höheren Stellenwert genießen als anderswo, zeugt von einem realitätsfernen Selbstverständnis und von einer medialen Berichterstattung, die den negativen Auswirkungen westlicher Außenpolitik nur unzureichend Aufmerksamkeit widmet.

China hat ein negatives Image in Europa. Es ist nicht schwer, als westlicher Politiker öffentlich gegen China und für westliche Werte Stellung zu beziehen. Es ist ein einfaches Selbstbranding ohne nachteilige Konsequenzen. Die IPAC versucht aber, Werte für sich in Anspruch zu nehmen, die ihre teilnehmenden Nationen selber im umfangreichsten Maße verletzen. Die einzelnen Politiker der IPAC mögen sich Menschen- und Völkerrecht verbunden fühlen, aber der einseitig parteiische Charakter der Organisation reduziert sie von Menschenrechtlern zu bestenfalls Menschenrechtsinteressierten. Und wer glaubt, dass das aktuelle Weltgeschehen mehr durch Menschenrechtsverletzungen Chinas als die der NATO-Mitglieder geprägt ist, kann die jüngere Geschichte nur mit großem Desinteresse verfolgt haben, was die einzelnen Mitglieder der Vereinigung weniger idealistisch als ignorant, naiv und opportunistisch erscheinen lässt. Universelle Menschenrechte und das Völkerrecht können nur von jemandem glaubhaft vertreten werden, der auch bereit ist, die Werte vorurteilsfrei von allen Nationen gleichermaßen einzufordern, und die Fähigkeit beweist, gemäß der Schwere der Rechtsverletzungen Prioritäten zu setzen. Nelson Mandela hat einmal gesagt, dass niemand, der seine Prinzipien nicht gleichermaßen gegenüber jedermann zu vertreten weiß, eine Nation führen sollte. Ebenso sollte niemand, der Menschen- und Völkerrecht nur einseitig selektiv vertritt, wie die IPAC, als Verfechter unserer Werte ernstgenommen werden.

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