Niko Härting: „Gesundheit ist kein Supergrundrecht“

Niko Härting: „Gesundheit ist kein Supergrundrecht“

Niko Härting: „Gesundheit ist kein Supergrundrecht“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Die Gerichte versagen zurzeit beim Grundrechtsschutz.“ Das sagt der Jurist Niko Härting im NachDenkSeiten-Interview. Härting, der als niedergelassener Anwalt, aber auch als Professor an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht tätig ist, betont im Interview, dass die nächtlichen Ausgangssperren „verfassungswidrig“ sind und kritisiert die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, das „den Regierungen bislang so gut wie alles durchgehen“ lasse. Von Marcus Klöckner

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Härting, hätten Sie es vor Corona für möglich gehalten, dass der Staat so weitreichend und so lange andauernd in unsere Grundrechte eingreifen würde?

Nein, vor Corona hätte sich dies kein Jurist vorstellen können. Im Jurastudium haben wir Grundrechte ganz anders gelernt. Wir haben gelernt, dass nur das Parlament (und keine Landesregierung) „wesentliche“ Beschränkungen beschließen kann. Und wir haben gelernt, dass es für die Verhältnismäßigkeit nicht reicht, dass durch Maßnahmen Infektionszahlen gesenkt werden können.

Wenn es um Grundrechte und Infektionsschutz geht, sieht es oft so aus, als ob es kein Miteinander gibt. Wie sehen Sie das?

Das eine schließt das andere nicht aus. Und auch Infektionsschutz schützt Grundrechte – Gesundheit und Leben. Es geht um eine Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Ein uraltes, schwieriges Thema, das wir beispielsweise auch aus der Anti-Terror-Gesetzgebung kennen, die ja – wie der Infektionsschutz – Leben schützen soll.

Angenommen vor Ihnen steht eine Person, die sich Sorgen um ihre Gesundheit macht und überhaupt kein Problem mit der Einschränkung ihrer Grundrechte hat. Was würden Sie sagen, um ihr zu verdeutlichen, warum auch in einer Pandemie die Achtung der Grundrechte von Bedeutung ist?

Die Gesundheit ist kein „Supergrundrecht“, ebenso wenig wie „Sicherheit“ ein „Supergrundrecht“ ist. Wir alle haben das Recht, von den Regierenden zu verlangen, dass es ein funktionierendes Gesundheitssystem gibt und dass die Ämter und Behörden in der Pandemie nicht untätig bleiben. Aber niemand hat das Recht zu verlangen, dass sich die gesamte Gesellschaft, das gesellschaftliche Leben und alle Mitmenschen dem Ziel des Infektionsschutzes vollständig unterordnen.

Macht es Ihnen eigentlich als Privatperson oder als Bundesbürger Sorgen, wenn Sie sehen, wie bereitwillig viele Bürger selbst so weitreichende Eingriffe in ihre Grundrechte hinnehmen, wie es etwa bei den Ausgangsbeschränkungen oder Ausgangssperren der Fall ist?

Ja, ich war schon etwas fassungslos, wie geräuschlos der erste Lockdown im Frühjahr vollzogen werden konnte. Erinnert man sich allerdings zurück, findet man durchaus Parallelen. Nach dem 11. September 2001 gab es auch kaum Widerstand gegen drastische Anti-Terror-Gesetze, die in aller Welt verabschiedet wurden. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sagt dazu – frei nach Rainer Werner Fassbinder: „Angst essen Freiheit auf“.

Sie sind Anwalt. Sie haben auch Mandanten, die gegen die Maßnahmen klagen. Gewähren Sie uns bitte einen Einblick in Ihre Arbeit. Worum geht es bei den Fällen?

Erfolgreich waren wir, als im Herbst bundesweit Gastronomen gegen Sperrstunden klagten. Auch im Mai/Juni gab es Erfolge, als Lockerungen beschlossen wurden, von denen es seltsame Ausnahmen gab: Solarien, die zunächst nicht öffnen durften, oder Fußpfleger. Beim Teil-Lockdown im November haben wir für Gastronomen, Fitnessstudios, Kosmetiksalons und Theater Eilanträge gestellt, die durch die Bank gescheitert sind. Sie wollten nicht verstehen, weshalb Baumärkte und Autosalons weiter öffnen durften, ihre eigenen Betriebe jedoch nicht.

Wie ist der gegenwärtige Stand der Dinge in den Verfahren?

Nachdem wir im November Verwaltungs- und Verfassungsgerichte erlebt haben, die alle Maßnahmen gebilligt haben, raten wir derzeit von Verfahren meist ab.

Sie haben bestimmt die Rechtsprechung beobachtet. Wie verhalten sich aus Ihrer Sicht die Gerichte?

Die Gerichte versagen zurzeit beim Grundrechtsschutz. Das schmerzt, und ich hoffe, dass dies nur eine Momentaufnahme ist. Leider spielt das Bundesverfassungsgericht eine besonders unrühmliche Rolle. Karlsruhe lässt den Regierungen bislang so gut wie alles durchgehen und starrt – wie große Teile der Politik – ausschließlich auf Zahlen. Wenn Maßnahmen Zahlen senken können, reicht dies für das Bundesverfassungsgericht bereits aus, um Eilanträge zurückzuweisen.

Lassen Sie uns bitte auf die Ausgangssperren eingehen. Vielerorts darf man am Abend und in der Nacht – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht mehr auf die Straße. Wie ordnen Sie so eine pauschale Ausgangssperre aus rechtlicher Hinsicht ein?

Wer steckt sich schon nachts auf einer leeren Straße an? Nächtliche Ausgangssperren lassen sich mit dem Infektionsschutz nicht überzeugend begründen, sie sind verfassungswidrig. Leider sehen auch dies die Gerichte bislang anders. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat Ausgangssperren kürzlich gebilligt.

Mittlerweile werden auch die Demonstrationen gegen die Maßnahmen verboten. Ist das für Sie aus juristischer Sicht noch nachvollziehbar?

Auch dies geht maßgeblich auf das Konto des Bundesverfassungsgerichts, das im August entschieden hat, dass die Hürden niedrig sind, wenn es darum geht, Demonstrationen aus Gründen des Infektionsschutzes zu verbieten. Höchst problematisch ist daran, dass gelegentlich der Eindruck entsteht, es gehe weniger um Infektionsschutz als darum, dass man keine „Querdenker“ auf den Straßen der Großstädte sehen möchte. Geht es um Klimaschutz oder um Demonstrationen gegen die Räumung eines besetzten Hauses, wird nicht ganz so rigoros auf Masken und Abstand geachtet.

Was muss sich im Hinblick auf den Umgang mit unseren Grundrechten aus juristischer, aber auch aus politischer Sicht ändern?

Die Corona-Politik der Bundesregierung ist nicht alternativlos und auch längst nicht immer erfolgreich, wie der misslungene „Teil-Lockdown“ gezeigt hat. Es gibt auch nicht „die Wissenschaft“, die sich über notwendige Maßnahmen einig ist, auch unter medizinischen Experten gibt es viele kritische Stimmen, und das Team Drosten/Lauterbach ist nicht das Maß aller Dinge. Ich würde mir eine offenere und kritischere Diskussion wünschen und eine größere Sensibilität für die sozialen, wirtschaftlichen und seelischen Folgen der Maßnahmen. Für eine Minderheit der Bevölkerung bedeutet Corona Beschäftigungslosigkeit, Existenzangst und Depression. Hierauf nimmt die Mehrheit viel zu wenig Rücksicht. Zu oft entscheiden Menschen, die mit gesichertem Einkommen im warmen Home Office sitzen, über Maßnahmen, von deren existentiellen Folgen sie selbst nur ganz am Rande betroffen sind. Dies spaltet die Gesellschaft und grenzt aus.

Titelbild: one photo / shutterstock.com

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