Joe Biden und die Aussichten der US-Beziehungen mit Lateinamerika

Joe Biden und die Aussichten der US-Beziehungen mit Lateinamerika

Joe Biden und die Aussichten der US-Beziehungen mit Lateinamerika

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Die Monate lange, chaotische Stimmenzählung im anachronistischsten Wahlsystem der Welt attestierte am vergangenen 6. Januar 2021 das geräuschvolle Ende der Wiederwahl-Ambitionen Donald Trumps und den Machtwechsel in Washington für die kommenden vier Jahre mit der Übernahme der US-Präsidentschaft durch den Demokraten Joe Biden. Das Ergebnis war im Grunde Mitte Dezember 2020 vom US-Wahlmännergremium längst bestätigt worden, musste jedoch mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Ritual der Zertifizierung auch vom Abgeordnetenhaus und Senat abgesegnet werden. Von Frederico Füllgraf.

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Am Vorabend drohte jedoch Donald Trump, „höllisch zu kämpfen, um im Weißen Haus zu bleiben“, und schürte Krawalle, die in der Erstürmung des Kapitols durch hunderte seiner gewaltbereiten Anhänger und dem Zusammenstoß mit der Washingtoner Polizei gipfelten, nachdem die „nicht zuständige“ Nationalgarde dem Überfall tatenlos zusah. Nicht aufzuhalten schien der Überfall, als bekannt wurde, dass obendrein Raphael Warnock und Jon Ossoff die Republikaner Kelly Loeffler und David Perdue in Georgia besiegten und damit die Mehrheit der Demokraten in beiden Häusern des Parlaments für Biden sicherten. Nicht wenige US-Medien hatten bereits seit Anfang Dezember 2020 gewarnt, Trump werde, wenn nicht einen Coup d´État wagen, so ihn zumindest propagandistisch in Szene setzen. Eine zugleich einmalige Provokation in der Geschichte der Demokratie der Vereinigten Staaten und eine Warnung an die Adresse der Administration Joe Biden, wozu der fundamentalistisch-faschistoide Deep State in den kommenden Jahren bereit ist.

Trumps Abgang ist vom doppelten Scheitern gekennzeichnet. Zum einen mit der seit November 2020 im höhnischen Fake-News-Stil verbreiteten, jedoch niemals nachgewiesenen Unterstellung, Biden habe die Wahlergebnisse gefälscht. Zum anderen, nämlich umgekehrt, mit dem kriminell anmutenden Versuch, das Endergebnis durch einen Wahlschwindel im Bundesstaat Georgia doch noch zu seinen Gunsten zu kippen. Die Anstiftung dazu geht aus einem Telefongespräch Trumps mit Georgias außenpolitischem Beauftragten der Republikaner, Brad Raffensperger, hervor, den Wahlverlierer Trump gebeten hat, mal „12.000 zusätzliche Stimmen zu finden“, um ihm in Georgia den Sieg und damit die Wiederwahl zu sichern; nicht ahnend, dass das einstündige Gespräch abgehört und der Washington Post zugespielt wurde. Soweit bekannt, habe Raffensperger mit Unterstützung des Rechtsberaters der Regierung Georgias den amtierenden Präsidenten wissen lassen, dass er nicht nur mit der erbetenen Fälschung „ein großes Risiko“ eingehe, sondern auch, dass Trumps weitverbreitete Vorwürfe des Wahlbetrugs im gesamten Bundesstaat nicht auf gültigen Beweisen beruhten.

Die lateinamerikanischen Reaktionen auf Joe Bidens Wahlsieg

Der 20. Januar 2021 steht somit für Bidens unumstrittenen Inauguration Day. Der weltweit mit Spannung erwartete Amtsantritt erlaubt vielfache, jedoch weniger vielversprechende Ausblicke. Im Rückblick auf das US-lateinamerikanische Verhältnis während der Barack-Obama-Administration, der Biden von 2009 bis 2017 als Vizepräsident diente, werden in mehreren lateinamerikanischen Ländern schillernde Licht-und-Schatten-Beziehungen befürchtet. Die Vermutungen sind berechtigt und lassen sich mit zwei Fallbeispielen andeuten. Wenngleich sich Präsident Obama um eine Entspannung mit Kuba bemühte, die die vor 60 Jahren verhängte Politik-, Wirtschafts- und Finanzblockade schrittweise zurücknehmen sollte, befeuerten die US-Geheimdienste und das State Department unter Hillary Clinton und John Kerry die mit dem Begriff der “Farben-Revolutionen” verniedlichende politische Destabilisierung in Osteuropa, Nordafrika, Nahost und Brasilien.

Dessen seit 2011 amtierende und 2014 wiedergewählte Staatspräsidentin Dilma Rousseff wurde bereits drei Jahre vor ihrer illegalen Amtsenthebung durch den parlamentarischen Staatsstreich von 2016 zusammen mit zwei Dutzend führender Mitglieder ihrer Regierung und des staatlichen Ölkonzerns Petrobras vom US-Spionagedienst NSA abgehört. Der Eingriff weitete sich zum diplomatischen Skandal aus und veranlasste die populäre Staatschefin im September 2013 zu einer empörten Anklage vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen und der Absage eines Staatsbesuchs in den USA. Mark Weisbrot, PhD-Ökonom und Co-Direktor des Washington-Zentrums für Wirtschafts- und Politikforschung (CEPR), erklärte bereits im September 2020 gegenüber dem kritischen brasilianischen Wochenmagazin Carta Capital, im Falle eines Wahlsieges „muss die Regierung Biden diese Fragen unverzüglich beantworten und alle Informationen über die Beteiligung der US-Regierung an den Ermittlungen (Anm. F. F.: z.B. gegen Ex-Präsident Lula), am Staatsstreich (gegen Präsidentin Dilma Rousseff) und an anderen politischen Interventionen gegen die PT offenlegen“.

Die lateinamerikanischen Reaktionen auf Bidens Wahlsieg reichten von Bolsonaros dummem Nachgeplapper von Trumps Vorwurf der „Wahlfälschung“ und Beleidigung der Demokraten, über das Schweigen von Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador – der sich der vorsichtigen Haltung des russischen Präsidenten Wladimir Putin anschloss – bis hin zu freundlichen Glückwünschen; darunter denen des argentinischen Präsidenten Alberto Fernández, des ehemaligen kolumbianischen Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Juan Manuel Santos und des kubanischen Präsidenten Miguel Díaz-Canel. Mit einem Tweet von Anfang November gratulierte der kubanische Staatschef dem Demokraten Biden, bezeichnete seinen Wahlsieg als „Entscheidung des US-Volkes für einen neuen Kurs“ und knüpfte Hoffnungen „an die Möglichkeit einer konstruktiven bilateralen Beziehung unter Berücksichtigung der Unterschiede“. Kuba drängt verständlicherweise auf die Wiederaufnahme der von Donald Trump brutal unterbrochenen Entspannungspolitik Barack Obamas, mit einer Normalisierung der bilateralen Beziehungen; wissend, dass auch die Demokraten wie in Venezuela ihre Forderung nach „freien Wahlen“ nicht aufgeben werden.

Selbstverständlich beeilten sich die Rechtsaußen-Präsidenten Kolumbiens und Chiles – Ivan Duque und Sebastián Piñera – mit der Beweihräucherung scheinbar geteilter „Werte wie Freiheit, Verteidigung der Menschenrechte und Herausforderungen wie Frieden und Umweltschutz“, schrieb Piñera auf seinem Twitter-Account. Die Beziehung zu den USA ist für Chile und seine Ein-Prozent-Ruling-Class von strategischer Bedeutung. Die Vereinigten Staaten rangieren als zweitgrößter Handelspartner, als Nummer 2 für chilenische Exporte und als zweitgrößter Exporteur nach Chile; ein Szenario, das sich in den meisten Nachbarländern wiederholt. Doch den Demokraten sind die erratische Außenpolitik und das kommunikative Falschspiel des Multimilliardärs Piñera sehr wohl bekannt; insbesondere in der Kaschierung der verheerenden Verletzung von Menschenrechten seit Ende 2018; ein Thema, das die Biden-Administration mit Nachdruck in Lateinamerika geltend machen will.

Demgegenüber ist die bisherige Beziehung zwischen Buenos Aires und Washington seit der Wahl von Alberto Fernández eher unterkühlt und wird von Nebenschauplätzen politischer Differenzen geprägt. Dazu gehört der Widerstand der argentinischen Regierung gegen die Nominierung des Trump-Verbündeten und rechtsradikalen Exilkubaners Mauricio Claver-Carone zum Direktor der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), der der Kolumbianer Duque wiederum geradezu enthusiastisch beipflichtete. Auch die argentinischen Umschuldungsverhandlungen mit US-Hedgefonds und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) könnten eventuell zu punktuellen Spannungen selbst mit dem demokratischen Lager führen.

Der Blitzbesuch des Steve-Bannon-Vertreters in Brasilien und des Bolsonaro-Sohns Eduardo bei Trumps Tochter Ivanka im Weißen Haus, wenige Stunden vor der Erstürmung des Capitols, deuten an, dass das rechtsextremistische Regime Jair Bolsonaro punktuell zu Provokationen gegen die Administration Biden bereit ist, andererseits aber den voraussehbaren Schulterschluss mit Washington gegen den „chinesischen Vormarsch in Lateinamerika“ annehmen wird, dessen geopolitische Implikationen Republikaner und Demokraten nur in Nuancen unterscheidet. Starke Spannungen in Fragen der Bekämpfung des Klimawandels, des Schutzes des Amazonas-Regenwaldes und der Menschenrechte sind jedoch mit dem Bolsonaro-Regime programmiert und könnten eine völlig unvermutete Allianz Bidens mit der demokratischen und linken Opposition in Brasilien schmieden.

Bidens neuer Außenminister Antony Blinken und die „Diplomatie der Nötigung“

Allerdings empfehlen einzelne Experten aus einem anderen Grund auf Bidens außenpolitische Agenda mit Argusaugen zu schauen, nämlich wegen der Nominierung Antony Blinkens zum Secretary of State.

Blinkens Vater, Donald Blinken, diente vier Jahre lang als US-Botschafter der Regierung Bill Clinton in Ungarn und gilt als einer der sturen Funktionäre, die Ungarn die NATO-Mitgliedschaft aufnötigten. Die Blinken-Diplomaten spielten jedoch eine ebenso wichtige Rolle bei der NATO-Aufnahme Polens und somit bei der Ostverschiebung der Sicherheitsgrenze zu Russland.

Antony Blinken verbindet darüber hinaus ein enges Verhältnis mit dem gebürtigen Ungarn und Milliardär George Soros und dessen Stiftung Open Society. Als stellvertretender nationaler Sicherheitsberater (2013-2015), als Joe Biden Vizepräsident war, entwickelte Blinken Pläne für die politische Destabilisierung im Nahen Osten, mit gemischten Ergebnissen in Ägypten, Irak, Syrien und Libyen. Nach Bewertung Aram Aharonians – uruguayischer Journalist, Essayist und Mitbegründer des venezolanischen Fernsehsenders Telesur – bestehe der grundlegende Unterschied zum Vorgehen von Trumps Außenminister Mike Pompeo darin, dass Blinken im Gegensatz zum Unilateralismus auf Multilateralismus ausgerichtet sei. Seine Spezialität ist jedoch die sogenannte „Zwangsdiplomatie“, die sowohl von militärischen als auch von wirtschaftlichen Machtgruppen in den USA unterstützt wird. Nötigungs- oder Zwangsmaßnahmen sind nach Aharonian Teil der Instrumente, die Blinken in der Vergangenheit in seinen Empfehlungen an Obama für seine Politik gegenüber Russland und gegen Venezuela am häufigsten eingesetzt hat, um den Weg für die Intensivierung und den politischen Druck zu ebnen.

Experten weisen darauf hin, dass sich mit der Biden-Administration die Dynamik in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ändern und Claver-Carone die Interamerikanische Entwicklungsbank verlassen werde. Dies bedeutet auch die Achtung der nationalen Souveränität und die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.

Dennoch, so Aharonian, werde Lateinamerika sicherlich weiterhin als Hinterhof behandelt werden. Die regionale Herausforderung werde darin bestehen, das günstige Handicap im militärischen Bereich zu nutzen, um die Kontrolle über die strategischen Ressourcen der Region zu verhandeln: die Artenvielfalt des Amazonas, das Lithium Boliviens, die besten Erdölvorkommen in Venezuela, das Agrargeschäft Brasiliens und Argentiniens, die doppelte ozeanische Lage Mittelamerikas, usw.

Diesem „New Deal“ könnten selbst die mit Fernostasien und Dutzenden von Regionalkonflikten überforderten US-Streitkräfte zustimmen. Nicht aber die mächtigen Lobbys in Washington oder der Finanzwelt, die mit Waffenverkäufen, Aneignung von natürlichen Ressourcen und Geldwäsche von den Verhandlungen hinter der Bühne amerikanischer Interventionen profitiert haben.

Titelbild: Matt Smith Photographer/shutterstock.com

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