„Alle verhalten sich wie Räuber.“ Westsahara – die letzte Kolonie Afrikas

„Alle verhalten sich wie Räuber.“ Westsahara – die letzte Kolonie Afrikas

„Alle verhalten sich wie Räuber.“ Westsahara – die letzte Kolonie Afrikas

Jakob Reimann
Ein Artikel von Jakob Reimann

Die Westsahara ist die letzte Kolonie Afrikas. Im Zuge des Rückzugs der spanischen Kolonialmacht 1975/76 wurde das ressourcenreiche Land am Atlantik von Marokko und Mauretanien besetzt. Es folgten 16 Jahre Krieg gegen die sozialistische Befreiungsbewegung Frente Polisario, der im Waffenstillstand von 1991 endete. Die UN sollte daraufhin ein Unabhängigkeitsreferendum organisieren, auf das die Sahrauis aufgrund der Weigerung Marokkos bis heute warten. Marokko hält auch weiterhin den größten Teil der spärlich besiedelten Westsahara besetzt und beutet in Kollaboration mit der EU – allen voran mit deutschen Firmen – die Schätze des Landes aus, während die Sahrauis in zweiter Generation ohne jede Perspektive in Flüchtlingslagern in Algerien ausharren. Im November 2020 brach Marokko nach fast 30 Jahren das Waffenstillstandsabkommen, der neuaufgeflammte Konflikt könnte zu einem offenen Krieg eskalieren. Jakob Reimann sprach für die NachDenkSeiten mit Nadjat Hamdi, der Vertreterin der Frente Polisario in Deutschland.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Um den Konflikt zwischen Marokko und der Frente Polisario verstehen zu können, ist ein Blick in die Kolonialgeschichte der Westsahara vonnöten. Kannst Du uns hier bitte einen Überblick geben?

Ja, gerne. Die Westsahara, die in Nordwestafrika liegt, war von 1885 bis 1976 eine spanische Kolonie. Sie ist die letzte Kolonie Afrikas. Die Westsahara gehörte nach der Berliner Konferenz von 1885 zu Spanien. Es gab damals einen starken Widerstand von den Sahrauis gegen die spanische Kolonialmacht, aus dem sich 1973 die Frente Polisario (FP) gegründet hat. Das ist Spanisch für Volksfront zur Befreiung von Saguía el Hamra und Río de Oro. Das sind die beiden Gebiete, die die Westsahara ausmachen. Man hat bewusst unsere Namen der Gebiete gewählt, um nicht das Wort „Westsahara“ zu benutzen, was eine Bezeichnung der Spanier war, um unser Land gegenüber Frankreich, England und Portugal als uninteressant darzustellen.

Die Westsahara steht seit den 1960er Jahren auf der UN-Liste der noch nicht entkolonialisierten Länder. Marokko und Mauretanien haben beide einen Anspruch auf die Westsahara erhoben, doch der Internationale Gerichtshof hat am 16. Oktober 1975 in einem Gutachten klargemacht, dass keines der beiden Länder einen Souveränitätsanspruch über die Westsahara begründen konnte. Im zweiten Teil dieses Gutachtens wurde der UN empfohlen, ein Selbstbestimmungsreferendum in der Westsahara zu organisieren, was jedoch weder Marokko noch Mauretanien davon abhielt, in die Westsahara einzumarschieren.

Das war direkt, nachdem Spanien das Land verlassen hat?

Leider noch nicht, nein. Marokko marschierte am 31. Oktober 1975 in der Westsahara ein, Spanien verließ das Land aber erst am 26. Februar 1976. Spanien wurde damals diktatorisch von Franco regiert. Als Franco im Sterbebett lag, hat sich Spanien höchst unmoralisch und illegal aus dieser Situation verabschiedet, indem es mit Marokko und Mauretanien ein Abkommen unterzeichnet hat – das illegale sogenannte Madrider Abkommen. Am 14. November 1975 haben sie die Westsahara in zwei Teile geteilt. Der nördliche Teil, Saguía el Hamra, sollte Marokko und der südliche Teil, Río de Oro, Mauretanien gehören. Spanien wollte selbstverständlich nicht mit leeren Händen nach Hause gehen und hat sich seine wirtschaftlichen Interessen gesichert und sich dann aus dem Staub gemacht. Seinen Verpflichtungen, den Entkolonialisierungsprozess voranzubringen, hat es sich entzogen. Marokko und Mauretanien haben beim Einmarsch eng mit Spanien zusammengearbeitet.

Die Invasion war also mit Spanien, mit Franco koordiniert?

Ja, genau. Dieses Vorgehen führte dazu, dass die UN-Generalversammlung diesen Schritt verurteilte und beide Länder aufforderte, sich zurückzuziehen. Doch das blieb nur eine Resolution, nicht mehr. Die Generalversammlung hat mehrere Resolutionen verabschiedet, wie eine sehr wichtige aus dem Jahr 1979, die Resolution 34/37, in der Marokko als Besatzungsmacht bezeichnet und aufgefordert wurde, die Besatzung der Westsahara zu beenden. Beim Einmarsch Marokkos und Mauretaniens im Winter 1975 wurden viele Sahrauis vertrieben. Tausende standen im Nordosten an der Grenze zu Algerien und wurden von Marokko mit Napalm und weißem Phosphor bombardiert – beide sind international verboten. Algerien hat seine Grenzen geöffnet und uns ein Stück Land gegeben, wo wir unsere Flüchtlingslager aufbauen durften, während Marokko und Mauretanien unser Land Stück für Stück besetzt haben. Der Krieg führte am 10. Juli 1978 in Mauretanien zu einem Militärputsch. Die Polisario nutzte die Gelegenheit und hat Mauretanien den Frieden angeboten. Sie haben der neuen Regierung einen Waffenstillstand von einem Jahr gegeben, so dass diese sich überlegen kann, ob sie sich nicht vom Krieg zurückziehen will. Das trug auch Früchte und Mauretanien hat im August 1979 mit der Polisario einen Friedensplan unterzeichnet und sich zurückgezogen.

Mauretanien hat die Westsahara später dann auch anerkannt.

Ja, dass Mauretanien die DARS (Demokratische Arabische Republik Sahara) als Nachbarstaat anerkennt, war eine Voraussetzung des Friedensplans. Mauretanien hat das akzeptiert, Gott sei Dank, und es gab einen Frieden. Doch Mauretanien war die schwächste Partei in diesem Konflikt und konnte den südlichen Teil der Westsahara nicht wie vereinbart an die Polisario zurückgeben. Stattdessen marschierten marokkanische Truppen auch in den Süden ein und besetzten ihn, was einen klaren Bruch internationalen Rechts darstellt. Die Polisario hat weiter gegen Marokko gekämpft, bis beide Parteien sich 1991 auf einen Vorschlag der Afrikanischen Union und der UNO einigten und gemäß der UN-Resolution 690 einen Friedensplan unterzeichneten. Mit der Resolution 690 wurde auch die UN-Mission für das Referendum in der Westsahara eingerichtet, die sogenannte MINURSO. Die UN hat uns damals versprochen, ein Referendum zu organisieren, das uns die Möglichkeit geben sollte, unser Selbstbestimmungsrecht auszuüben, was uns gemäß internationalem Recht und dem Gutachten des Den Haager Gerichts auch zusteht. Dieses Referendum sollte ursprünglich 1992 stattfinden, doch bis heute warten wir darauf.

Warum wurde das Referendum nie abgehalten?

Die Hauptgründe sind die Haltung Marokkos einerseits und die Schwäche beziehungsweise das mangelnde Interesse der internationalen Gemeinschaft andererseits, vor allem des UN-Sicherheitsrats. Diese Kombination: Marokko verhindert das Referendum und die UNO ist nicht bereit, Druck auf Marokko auszuüben, ebenso wenig die anderen Staaten. Am Anfang konnte Marokko das Referendum immer wieder verschieben und hat dann 2004 ganz offen gesagt: „Es wird kein Referendum geben.“

Das hat die marokkanische Regierung offen so gesagt?

Ja, sie haben gesagt, ein Referendum sei nicht mehr zeitgemäß. Also mussten sie nach Alternativen suchen und boten den Sahrauis eine Autonomie an. Seitdem versuchen sie, uns zu zwingen, nur noch über ein autonomes Land nach marokkanischen Vorgaben zu verhandeln und nicht länger vom Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen. Und wir sagten ständig, ok, Autonomie kann eine Option sein. Das ist kein Problem. Aber wenn wir ein Referendum machen, müssen doch mindestens zwei Optionen zur Wahl stehen. Sonst macht das keinen Sinn. Es ist undemokratisch und gegen die Menschenrechte. Wir haben immer gesagt, es können zehn Optionen sein, Autonomie, Anschluss an Marokko, die Freiheit, alles Mögliche. Doch nur Autonomie oder gar nichts, dann sind wir wieder am Punkt Null, wenn wir nein sagen. Außerdem geht Marokko von einem falschen Ausgangspunkt aus, da als erstes die Frage der Souveränität geklärt werden muss. Doch weder Marokko noch die Polisario noch irgendeine andere Partei hat Souveränität über die Westsahara, sondern einzig das sahrauische Volk.

1991 gab es den Waffenstillstand. Danach hat sich 20, 30 Jahre nur sehr wenig bewegt, es gab kaum Entwicklungen.

Es gab ein paar Versuche. Am Anfang gab es die Identifikation der Wahlberechtigten für das Referendum. Und als es dann für Marokko klar und deutlich war, dass es mit diesen Wählern das Referendum nicht gewinnen kann, hat es sich von der Idee abgewandt. Wir waren wirklich kompromissbereit, denn wir sind die einzigen, die etwas verlieren. Marokko hat nichts zu verlieren. Wir sind diejenigen, die in den Flüchtlingslagern sind und deren Land besetzt ist. Wir sind bemüht, eine Lösung zu finden. Deswegen sind wir auch bereit, Kompromisse einzugehen. Wir haben sogar den sogenannten Baker Plan II akzeptiert. Baker war ein UN-Sondergesandter.

Das war James Baker, der Außenminister unter Bush senior.

Genau. Nachdem das Referendum nicht stattfand, hat Baker einen alternativen Plan erarbeitet. Dieser sah eine fünfjährige sahrauische Autonomie vor. Und nach fünf Jahren, wenn alle Flüchtlinge zurückgekehrt sind und unter marokkanischer Herrschaft leben, fragt man sie, was sie wollen: Den Anschluss an Marokko, die Unabhängigkeit oder die Weiterführung der Autonomie? Wir haben das akzeptiert, weil wir überzeugt waren, dass unsere Leute auch nach 100 Jahren unter marokkanischer Herrschaft noch die Unabhängigkeit wollen. Wir vertrauen unseren Leuten. Wer hat das abgelehnt? Marokko.

Lass uns zu den jüngsten Ereignissen kommen. Am 13. November kündigte Marokko den Waffenstillstand von 1991 auf, einen Tag später auch die Polisario. Wie kam es zu dieser Eskalation?

In der Region Guerguerat ganz im Süden zur Grenze zu Mauretanien gab es seit einigen Jahren immer wieder Konflikte. 2016 zum Beispiel standen sich das sahrauische und das marokkanische Militär gegenüber und die UNO hat diesen Konflikt im letzten Moment schlichten können. Marokko will sich jetzt mehr nach Westafrika orientieren, um seine Waren dort zu verkaufen, und hat deswegen bei Guerguerat den Sperrwall geöffnet und eine Handelsroute errichtet. Und die Sahrauis haben gesagt, dass die Öffnung bei Guerguerat illegal ist, weil sie einen Bruch des Friedensplans von 1991 sowie des Militärabkommens von 1997/98 darstellt. Beide Abkommen schreiben vor, dass sich an der Stationierung der Soldaten nichts ändern darf. Im Oktober letzten Jahres sind dann viele sahrauische Zivilisten dort hinmarschiert und haben den Durchgang blockiert. Sie haben gesagt: „Wir stehen hier mit unseren Körpern, unbewaffnet, aber wir lassen keinen Lastwagen mehr durch.“

Nach dem Militärabkommen von 1997/98 dürfen sich in der Pufferzone zwar keine Militäreinheiten, aber Zivilisten aufhalten.

Genau. Da waren hauptsächlich Frauen und junge Männer. Es gab dort kein sahrauisches Militär. Das waren Zivilisten aus den Flüchtlingslagern und aus den befreiten Gebieten und viele andere Gruppen entlang der Mauer haben sich angeschlossen. Und nach 20 Tagen wollte Marokko die Blockade nicht länger dulden und hat Soldaten geschickt. Die haben nicht nur die Zivilisten vertrieben, sondern auch einen neuen Teil des Landes besetzt und die marokkanische Mauer verlängert.

In der Pufferzone, die eigentlich neutral sein sollte, dort hat Marokko jetzt weiteres Land besetzt?

Genau. Und das konnten sie nur machen, weil sie wissen, dass die UN nichts tun würde. Die Polisario hat wiederholt vor der Fragilität des Waffenstillstands gewarnt und in vielen Briefen an die UNO, den Sicherheitsrat, an Guterres, immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass es ohne Referendum noch einmal zum Krieg kommen könnte. Doch die UN hat das nicht ernst genommen. Sie ist nicht fähig zur Entkolonialisierung des Territoriums. Die Tendenz, dass die UNO und Marokko den Status quo als Endlösung betrachten und langsam vom Friedensprozess Abstand nehmen, führte natürlich zu großer Enttäuschung unter den Sahrauis. Und die Leute wollten einfach nicht mehr warten. Die Polisario konnte die jungen Leute in der Vergangenheit immer beruhigen, doch die Haltung Marokkos und die Unfähigkeit der UNO, eine Lösung zu erzielen, ließen der Polisario keine Chance mehr, die jungen Sahrauis auch weiter vom UNO-Friedensplan zu überzeugen.

Die jungen Sahrauis kennen nichts anderes als 30 Jahre Status quo. Da wachsen sicher große Frustration und Ausweglosigkeit heran?

Ja, die ganze Situation führt zu großer Frustration. Die Leute, die nach dem Waffenstillstand von 1991 in den Flüchtlingslagern geboren sind, sind jetzt 30 Jahre alt. Die haben schon die Schule abgeschlossen, zum großen Teil im Ausland studiert. Sie kamen zurück und warteten in den Flüchtlingslagern ohne jede Perspektive auf Arbeit und Freiheit. Sie können ihr Leben nicht planen und sehen, dass sie aus einem sehr reichen Land kommen, das tagtäglich vor ihren Augen ausgebeutet wird. Marokko nutzt ihr Eigentum, um viele korrupte Regimes in Afrika zu kaufen. Marokko stiehlt unseren Reichtum, um ihn dann auch noch gegen uns selbst einzusetzen. Und das nicht nur über korrupte Länder in Afrika – auch in den demokratischen Ländern Europas ist die Situation nicht besser.

Auf die Rolle Europas möchte ich gleich zu sprechen kommen. Noch kurz zu den jüngsten Ereignissen: Wie verlief die Eskalation? Waren Opfer zu beklagen?

Nein, Gott sei Dank nicht. Die Leute haben in Guerguerat gezeltet und dort 20 Tage den Durchgang blockiert, so dass zwar Menschen, aber keine Waren nach Mauretanien gelangen konnten. Sie haben schon Tage zuvor gehört, dass sich das Militär bewegt, dass sich Panzer bewegen. Und die MINURSO hat immer gesagt, nein, sie haben nichts gesehen. Doch die Sahrauis waren darauf vorbereitet, dass die Marokkaner jederzeit herauskommen können. Als sie dann einmarschierten, hat das sahrauische Militär alle Leute in Sicherheit gebracht. Natürlich haben sie die Zelte und andere Sachen in Brand gesteckt. Aber das ist nicht wichtig.

Bilder von brennenden Zelten gingen durchs Internet.

Aber die Leute sind alle heil davongekommen. Die sind alle zurückgegangen in die befreiten Gebiete oder die Flüchtlingslager.

Ich habe gelesen, dass der sahrauische Präsident, Brahim Ghali, in einem Brief an António Guterres von „einem brutalen Angriff auf unbewaffnete sahrauische Zivilisten“ gesprochen hat. Was kannst Du dazu sagen?

Brahim Ghali hat im Vorfeld mehrere Briefe an Guterres geschickt. Er hat immer gesagt, die Sahrauis sind in Gefahr. Die Zivilisten dürfen dort demonstrieren. Und wir sind für ihre Sicherheit verantwortlich. Sobald sie angegriffen werden, werden wir den Angriff erwidern und keinen Augenblick zögern. Und das ist auch so passiert.

Die Truppen der Polisario haben dann die Zivilisten aus der Gefahrenzone eskortiert.

Eskortiert und auf die Aggression reagiert. Und so fing der Krieg entlang der Mauer an. Sehr weit weg von Guerguerat.

Der Sperrwall ist insgesamt 2.700 Kilometer lang. Was ist dort genau passiert?

Seit dem 13. November gibt es entlang der Mauer militärische Angriffe der Polisario, vom Süden bis Norden.

Sie greifen dort Stellungen des marokkanischen Militärs an, über die Mauer hinweg?

Ja, genau.

Und dauern diese Kampfhandlungen noch an oder sind sie beendet?

Nein, nein, die laufen noch. Denn wir denken, es ist unser legitimes Recht, uns zu verteidigen. Für uns gibt es keinen Waffenstillstand mehr. Es gibt nur zwei Situationen. Entweder einen vereinbarten, respektierten Waffenstillstand, den wir 30 Jahre lang respektiert haben. Oder die Wiederaufnahme der Gewehre und die militärische Auseinandersetzung. Wir haben unsere Aufgabe noch vor uns. Wir haben unser Land noch nicht befreit. Wir sind für den Frieden. Wir haben sicherlich der ganzen Welt bewiesen, dass wir Geduld haben können. 30 Jahre, eine Generation. Aber weder die Welt noch Marokko haben das respektiert. Irgendwann hat die UNO gedacht: „Ok, die sind ruhig, die machen nichts, dann brauchen wir uns auch nicht mehr bemühen.“ Der Status quo ist ganz bequem. Alle verdienen daran. Nur wir nicht. Und sie haben wahrscheinlich gedacht, dass das eine Ewigkeit so bleiben wird.

Ihr habt also 30 Jahre lang bewusst auf Gewalt verzichtet. Ihr wolltet ohne Waffen kämpfen. Doch 30 Jahre waren dann einfach genug?

Genau. Wir denken, wir haben Marokko, aber auch der Weltgemeinschaft 30 Jahre die Möglichkeit gegeben, uns zu beweisen, dass sie wirklich fähig und vor allem willens sind, einen Frieden zu sichern. 30 Jahre geduldig zu warten, heißt sehr viel. Das ist eine ganze Generation, die unter schwierigen Bedingungen in Flüchtlingslagern aufgewachsen ist. 30 Jahre Ausbeutung, 30 Jahre Flucht, 30 Jahre Elend. Wir haben natürlich weitergekämpft, mit anderen Mitteln, politisch, diplomatisch, juristisch, aber nicht militärisch. Doch das hat alles nichts gebracht. Und jetzt werden wir auch den bewaffneten Kampf als legitimes Mittel einsetzen, um unser Land zu verteidigen und zu befreien. Wir wollen den Krieg nicht, doch zum zweiten Mal werden wir dazu gezwungen. Wir verherrlichen den Krieg nicht, denn wir haben ihn ja erlebt und wissen, was das bedeutet.

Denkst Du, dass die aktuellen Kämpfe weiter eskalieren, oder denkst Du, dass sie rasch beendet werden?

Nein, die werden eskalieren. Auf jeden Fall. Da bin ich mir sicher, das ist nur der Anfang. Vor allem, wenn ich weiß, dass die Sahrauis überall in der Welt nur darauf warten, dass sie zurück in ihre Heimat kehren können.

Ich würde gerne auf die Rolle Europas zu sprechen kommen. Wie profitiert die EU vom Westsahara-Konflikt? Und auch Deutschland im Speziellen.

Der Konflikt in der Westsahara ist unbekannt, vor allem in Deutschland. Aber das heißt nicht, dass wir nicht sehr viel miteinander zu tun hätten. Deutschland gehört zu den Ländern, die sehr weit weg sind von der Westsahara – es gibt keine historischen Verbindungen, keine kolonialen oder geographischen. Und trotzdem mischt Deutschland in diesem Konflikt ganz kräftig mit: durch die Firmen, die mit der marokkanischen Besatzungsmacht zusammenarbeiten. Und wenn ich Besatzungsmacht sage, dann sind das nicht meine Worte. Das sind die Beschlüsse der Vereinten Nationen, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Und das wissen auch alle Firmen. Trotzdem sehen wir viele Firmen aus Deutschland in der Westsahara. Siemens etwa arbeitet dort im Energiebereich.

Was genau macht Siemens dort?

Es gibt ein riesengroßes Projekt in erneuerbaren Energien, da ist Siemens stark involviert. Dann Continental, die arbeiten intensiv an der Ausbeutung des sahrauischen Phosphats. HeidelbergCement – die verfestigen richtig, „zementieren“ die Besatzung. Dann haben wir zum Beispiel DHL, die Deutsche Post. Dann haben wir die Deutsche Bahn, Schenker. Dann haben wir KMP, Köster Marine Proteins, die importieren Fischmehl nach Deutschland, und von Deutschland nach Europa.

Fische also, die vor der Westsahara aus dem Atlantik gefischt werden, und aus denen wird dann Fischmehl hergestellt und nach Europa exportiert?

Ja, genau. Es gibt auch im Finanzbereich die KfW, die dort Firmen unterstützt. Es gibt eine Menge deutscher Firmen, das sind nur ein paar Beispiele. Und vor allem beteiligt sich Deutschland auch an den Assoziationsabkommen zwischen der EU und Marokko und dem Fischereiabkommen.

Kannst Du zur Fischerei bitte etwas mehr sagen?

Es gibt ein Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko, das auch die Westsahara beinhaltet. Wir haben nichts dagegen, dass die EU mit Marokko Abkommen wirtschaftlicher Art unterzeichnet. Aber wir haben etwas dagegen, dass diese Abkommen auch die Westsahara umfassen. Gerade was die Fischerei anbelangt, ist die Westsahara sehr interessant. Wir haben eine Küste von 1.500 Kilometer Länge, eine der an Fischen reichsten Küsten der Welt, an Vielfalt, aber auch an Quantität. Deswegen interessieren sich alle dafür, dort zu fischen. Die Polisario als legitime Vertretung des sahrauischen Volkes, wir haben natürlich beim Europäischen Gerichtshof Klage dagegen erhoben. Sowohl 2016 als auch 2018 kam der Europäische Gerichtshof zum Urteil, dass die Westsahara und Marokko zwei separate Staaten sind. Das bedeutet, dass Handelsabkommen mit Marokko die Westsahara nicht beinhalten dürfen. Und trotzdem fischt die EU, und auch Deutschland, weiter illegal in der Westsahara. Damit brechen sie nicht „nur“ internationales Recht, sondern auch europäisches Recht.

Man muss das klar sagen: Das ist illegal.

Richtig, ja. Das ist total illegal. Auch laut der EU.

Es gibt mehrere internationale Gesetze und Gutachten, die gebrochen werden, wenn in besetzten Gebieten Ressourcen gegen den Willen der autochthonen Bevölkerung ausgebeutet werden.

Genau in Bezug auf die Westsahara gibt es ein Gutachten von der UNO, das sogenannte Corell-Gutachten [nach dem schwedischen Diplomaten Hans Corell, Anm. d. Red.], in dem genau das über die Westsahara gesagt wird. Aber das interessiert niemanden. Alle sagen, wir haben dort keine Aktien zu verlieren. Aber sie lügen. Sie fischen alle illegal in der Westsahara, beuten unser Phosphat aus. Sie beuten sogar unsere Luft aus.

Was meinst Du damit?

Ich meine die Energieressourcen, die Windkrafträder. Sonnenenergie – nicht einmal die Sonne wird verschont. Sie nehmen den Sand aus der Westsahara und schmücken damit die Küsten in Europa. Sie machen Strände daraus. Sie nehmen alles raus. Überall, wo man hinsieht, Phosphat, Fisch, Windmühlen, Sonnenenergie, das Desertec-Projekt. Die kanarischen Inseln bekommen ihren Sand aus der Westsahara. Das ist unglaublich.

In der Westsahara liegt mit Bou Craa die größte Phosphatlagerstätte der Welt. Was kannst Du uns zum Phosphatabbau sagen?

Während der spanischen Kolonialzeit wurde das entdeckt und seit Anfang der 1970er Jahre wird dort Tag und Nacht Phosphat ausgebeutet und an die ganze Welt verkauft. Neuseeland, Australien, verschiedene Länder in Afrika und Europa. Da arbeitet Continental auch ganz brav mit, am großen Förderband von den Minen zu den Häfen. Man fragt sich, wofür Phosphat? Das wird viel im Agrarbereich benutzt. Auch in jedem Spülmittel ist Phosphat enthalten. Das Schlimme ist, man kann diese Materialien nicht recyclen. Einmal benutzt und weg. Auch in Sachen Umwelt und Nachhaltigkeit wird dort nichts berücksichtigt, genau wie im Fischereisektor. Abgesehen davon, dass all das ohnehin illegal ist, werden nicht einmal Nachhaltigkeitsmaßstäbe angesetzt. Man fischt kleine Fische. Man sucht sich bestimmte Sorten heraus und beutet sie aus. Sie haben immer den Hintergedanken, dass die Ressourcen ihnen ja nicht gehören. Daher holen sie alles so schnell raus, wie sie können. Alle verhalten sich wie Räuber.

Ich würde Dich zum Ende noch bitten: Was ist Dein Appell an Europa? Können die Menschen in Europa überhaupt irgendwas tun, um die Lage zu verbessern?

Ich denke, am Thema Rohstoffausbeutung haben wir gesehen, wie nah Europa an diesem Konflikt ist. Wenn wir das als Ausgangspunkt nehmen, sind die Menschen in Europa mitverantwortlich. Und nicht „nur“, weil Europa Afrika jahrelang kolonisiert und ausgebeutet hat, sondern auch, weil es diesen Kontinent und mein Land noch heute tagtäglich weiter ausbeutet. Das verpflichtet die Menschen in Europa dazu, mit uns eine Lösung für die illegale Besatzung und diese Ungerechtigkeit zu suchen. Europa hat die Mittel dazu, die Länder haben die Druckmittel. Sie alle sind Marokkos Partner, sie verhandeln und sind befreundet. Und ich denke, Freunde sollten ihren Freunden helfen, indem sie sie auf die Respektierung des internationalen Rechts und der Menschenrechte verpflichten.

Wenn die Regierungen nicht bereit sind, eine Lösung zu finden, dann sollen sie wenigstens einfach ihre Finger von der Westsahara lassen und mit der Ausbeutung aufhören. Aufhören mit der Zementierung der Kolonialmacht Marokko. Damit wäre uns schon geholfen. Ich trenne immer zwischen Regierungen, Firmen und Menschen. Die meisten Menschen sind über den Konflikt nicht informiert. Doch die Menschen können diese Informationen weiterverbreiten. Sie können sich solidarisieren mit einem Volk, das seit einem halben Jahrhundert in Flüchtlingslagern lebt und 30 Jahre geduldig auf die UN gewartet und für seine Rechte gekämpft hat. Doch der Kampf kann nur mit internationaler Hilfe gelingen. Und wir brauchen diese Hilfe heute dringender als je zuvor.

Ich danke Dir vielmals für das Gespräch.

Titelbild: Screenshot arte TV