Andreas Scheuer: Bundesminister mit unbeschränkter Haftung

Andreas Scheuer: Bundesminister mit unbeschränkter Haftung

Andreas Scheuer: Bundesminister mit unbeschränkter Haftung

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Der Bundesverkehrsminister klebt an seinem Sessel fest und keiner will ihn loseisen. Bei seiner Befragung in der finalen Sitzung des Untersuchungsausschusses zur vermasselten Pkw-Maut zeigte sich Andreas Scheuer einmal mehr mit sich und der Welt im Reinen. Er habe „rechtens“ gehandelt und würde dies genauso wieder tun. Reue, Scham, Anstand sind nicht die Sache des CSU-Mannes und auch bei der SPD sieht man keinen Grund, seine Demission zu fordern. Zum Dank schont die Union Vizekanzler Olaf Scholz und die schreib- und denkfaule Familienministerin. Für die politische Kultur ist das ganze Treiben desaströs, findet Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am Donnerstag ist Andreas Scheuer nicht zurückgetreten. Es war dies der Tag, an dem das große Finale des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Umstände zur gescheiterten Ausländermaut stieg. In den Stunden vor, während und nach dessem Auftritt auf der „Anklagebank“ wurde medial einmal mehr so ziemlich alles verhandelt, was sich der Bundesverkehrsminister in der Affäre an Verfehlungen geleistet hat. Dabei legten nicht wenige Kommentatoren dem Attackierten nahe, seinen Hut zu nehmen, etwa in der Frankfurter Rundschau, dem Tagesspiegel oder dem Handelsblatt. In der Bevölkerung ist die Stimmungslage sowieso eindeutig: Für neun von zehn Bürgerinnen und Bürgern ist der CSU-Mann in seinem Amt nicht mehr tragbar.

Trotzdem trat Scheuer auch diesmal nicht zurück, so wenig wie bei etlichen früheren Anlässen, die diesen Schritt längst erfordert hätten. Guten Willens haben die NachDenkSeiten dem Minister vier Tage Bedenkzeit eingeräumt, damit er noch einmal in sich gehen, die überfällige Konsequenz ziehen und so einen Rest Haltung und Anstand bewahren möge. Aber auch diese Frist ließ er verstreichen. Am heutigen Dienstag sitzt er noch immer fest im Sattel. Und selbst ohne hellseherische Fähigkeiten behält man am Ende wohl damit recht, dass er seinen Posten bis zur nächsten Bundestagswahl im Herbst innehaben wird. Es braucht nicht einmal viel Magie für die Vorstellung, ihn morgen noch auf seinem Stuhl kleben zu sehen, wenn heute die komplette Regierung abdankt.

Gestatten: Sonnenkönig

Überhaupt werden sich die Museumsdirektoren der Republik dereinst um Scheuers Sessel reißen. Das Exponat ist ein Muss für jede kulturhistorische Ausstellung – als Mahnmal für Machtbesessenheit. Nie zuvor in Nachkriegsdeutschland ist es einem Bundesminister mehr am Allerwertesten vorbeigegangen, was er an Mist auftürmt und wie arg er sein Amt, politische Sitten und demokratische Umgangsregeln beschmutzt. Es gab Zeiten, da hat ein Politiker von seinem Rang wegen eines falschen Briefkopfs den Platz geräumt (Jürgen Möllemann). Bloß für Scheuer gehen die Lichter niemals aus. Als er am Donnerstag seinen „Anklägern“ gegenübersitzt, die ihn der Lüge, des Amtsmissbrauchs, der Verdunklung und Missachtung von Vergabe-, Haushalts- und EU-Recht bezichtigen, und sich ein Saaldiener anschickt, die Lamellen an den Fenstern herunterzulassen, scherzt er: „Sie können die Sonne gerne lassen. Für mich geht die Sonne gerade auf.“

Recht hat er doch. Was, wenn nicht blendend, sind seine Aussichten, hat er sein Amt erst hinter sich. Im Politbetrieb wird größtmögliches Versagen bekanntlich mit höchstdotierter Anschlussbeschäftigung in Industrie und Finanzwelt honoriert. Deshalb stümpert Scheuer auch nicht zum Spaß oder aus Unfähigkeit. Berufen dazu, der deutschen Autoindustrie, der Digitalwirtschaft und Privatisierungslobby zu dienen, steckt er standhaft Prügel für die Belange derer ein, für die er insgeheim Politik macht. Seine „Ausländermaut“ war sodann auch nur vordergründig ein Schmankerl fürs CSU-Bierzeltfußvolk. Das Projekt war immer Teil eines umfassenden Planspiels, mittelfristig eine allgemeine Maut auf deutschen Straßen zu etablieren. Entworfen hatten es die von Niedrigzinsen gebeutelten Banken und Versicherungen 2014 in der Fratzscher-Kommission. Drei Jahre später lieferten Bund und Länder die zugehörige Autobahn-GmbH, die seit Jahresbeginn den Ausverkauf der Bundesstraßen zum Schaden der Steuerzahler besorgen soll.

Nehmerqualitäten

Dabei hakt es ebenfalls gewaltig, und Scheuer hält auch dafür den Kopf hin. Aber jeder Anfang ist schwer, und laufen in ein paar Jahren erst einmal die Geschäfte, werden Allianz und Ergo sich erinnern, wem sie das zu verdanken haben. Das gilt auch für andere, zum Beispiel den Fahrdienstleister Uber, der seine Ausbeuter- und Verdrängungsmethoden auf Gesetzesinitiative Scheuers bald ganz legal in deutschen Städten durchziehen soll. Möglich machen will er bald auch schon das autonome Fahren und dafür noch vor der Bundestagswahl die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen. Der Mann wird also noch gebraucht. Ein Ersatz so kurz vorm Schlusspfiff kann das alles nicht mehr abarbeiten, zumal niemand sonst solche Nehmerqualitäten mitbringt.

Dem Andi aus Niederbayern kann also so leicht niemand was. Dass er die Verträge zur Pkw-Maut ohne Rechtssicherheit gemacht hat, was den Steuerzahler absehbar Hunderte Millionen Euro kosten wird? Na und! Ist ja nicht sein Geld, dafür steht ja der Staat mit unbeschränkter Haftung ein. Dass er, um den Deal mit dem Betreiberkonsortium zu retten, dessen Gebot mit windigen Tricks um eine Milliarde Euro gedrückt hat, um nicht den vom Bundestag bewilligten Ausgabenrahmen zu sprengen? Schert Scheuer nicht, war ja nur gut gemeint, zum „Wohl des Bundes“, wie im U-Ausschuss bekräftigt. Dass seine hochbezahlten „Berater“ die Vergabe des Mautbetriebs an private Bieter mit frisierten Gutachten beglaubigt und das alternative Staatsmodell kontrafaktisch als überteuert veranschlagt haben. Dass die Kontrakte dann kurz vor Toreschluss um „Synergien“ durch Einbezug der Lkw-Mauteintreiber-Firma Toll Collect nachjustiert wurden, ohne das Okay des Parlaments.

“Nach bestem Wissen und Gewissen“

Das alles ist kein Problem für den Verkehrsminister, geschah schließlich nur „nach bestem Wissen und Gewissen“. Er verstehe zwar den Unmut über das Projekt, das der Europäische Gerichtshof (EuGH) Mitte 2019 ein halbes Jahr nach Vertragsabschluss als rechtswidrig gekippt hatte, was eine Schadensersatzklage der verhinderten Betreiber Kapsch und Eventim über 560 Millionen Euro provozierte. Aber stünde er heute noch einmal in der gleichen Situation, „ich würde wieder so handeln“. Der U-Ausschuss hat allerhand mehr ans Licht befördert, was Scheuer unter „Rechtschaffenheit“ versteht, zum Beispiel diverse klandestine Zusammenkünfte mit seinen Geschäftspartnern, die er zunächst verheimlicht hat, um später scheibchenweise mit der Wahrheit herauszurücken.

Dazu steht der starke Verdacht im Raum, er könnte private E-Mail-Accounts und andere nicht offizielle Postfächer als Geheimkanal zum Informationsaustausch über die Pkw-Maut genutzt haben. Neue Erkenntnisse in der Angelegenheit versprach zuletzt die Einsetzung eines Sonderermittlers im Auftrag der Grünen-, Links- und FDP-Fraktion. Aber das Wirtschaftsministerium (BMVI) blockierte den bereits „detailliert“ organisierten „Arbeitsablauf“ und zog seine zwischenzeitliche Zustimmung, das Material durch den Rechtsanwalt und ehemaligen Grünen-Politiker Jerzy Montag auswerten zu lassen, kurzerhand zurück. Damit blieben den „Ermittlern“ wahrscheinlich kompromittierende Unterlagen vorenthalten, mit denen man den Minister bei dessen abschließender Vernehmung konfrontieren wollte. Begründet wurde die Volte mit dem Zuwarten auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) in der Angelegenheit. Dieser erfolgte prompt am Freitag, einen Tag nach dem großen Showdown, und besagt im Kern, dass die Korrespondenz des Ministers mit seinen Staatssekretären und Abteilungsleitern offenzulegen ist.

Politische Kultur auf Talfahrt

Das zeigt einmal mehr: Scheuer verschleiert und vertuscht weiter, wo er nur kann und lässt sich höchstens durch höchste Gerichte in die Schranken weisen. Wenn überhaupt, denn noch ist offen, ob er gegen das Urteil Beschwerde einlegt. Bisher hat er noch alles unternommen, was ihm Zeit verschafft. Nach den Worten von Oliver Krischer, Obmann der Grünen-Bundestagsfraktion im U-Ausschuss, agierte der Minister „mit fast schon krimineller Energie“, um das CSU-Prestigeprojekt durchzuboxen. Er habe die Deutschen an der Nase herumgeführt, beklagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Dass er „trotz klarer Gesetzesverstöße nicht zurücktritt, ist ein Skandal, und es bedeutet eine erschreckende Veränderung der politischen Kultur in Deutschland“.

Tatsächlich könnte der Schaden, den sein Gebaren im Hinblick auf die Integrität und Glaubwürdigkeit der politischen Klasse anrichtet, kaum schlimmer sein. Wenn Politiker keinen Gedanken mehr darauf verschwenden, für ihre Fehler einzustehen, und sich mit einem „reinen Gewissen“ angesichts von Vorgängen brüsten, die an mafiöse Machenschaften erinnern, was bleibt dann noch von der Vorbildfunktion der Herren und Damen Volksvertreter übrig? Als hätte es davor nicht schon genügend Fälle von offensichtlichem, häufig „ungesühntem“ Macht- und Amtsmissbrauch gegeben, setzt die Causa Scheuer in punkto Verkommenheit ganz neue Maßstäbe. Solange nicht mal er mit seinem ellenlangen Sündenregister den Abgang macht, wer sollte und wollte dann überhaupt noch jemals abtreten müssen?

Nichtangriffspakt

Dazu war das Klammern an der Macht nie so würdelos. Scheuer hat das Image einer Witzfigur, keiner nimmt ihn mehr ernst, er blamiert sich ohne Unterlass, etwa mit seinen Tiraden gegen ein Tempolimit oder seinen Werbeeinlagen für SUV-Spritfresser und Flugtaxis. Trotzdem hält er eisern die Stellung und sucht die Schuld selbstredend nicht bei sich, sondern in seiner PR-Abteilung. Anfang Januar setzte er seinen Pressesprecher Wolfgang Ainetter vor die Tür, nachdem er zuvor schon einen persönlichen Referenten, zwei Staatssekretäre und zwei Abteilungsleiter ausgetauscht hatte. Im Vorzimmer des Ministers soll Sekretärinnenschwund herrschen, in keinem anderen Ressort der Krankenstand höher sein. Wie es heißt, sagt ihm sein Mitarbeiterstab hinter vorgehaltener Hand „Beratungsresistenz“ nach.

Wenn schon nicht er selbst, warum haben nicht andere Erbarmen mit ihm? Wieso gibt ihm die Bundeskanzlerin nicht den Laufpass oder CSU-Chef Markus Söder? Dass niemand ihn „zurücktritt“, verdankt er besonderen macht- und parteipolitischen Konstellationen. Das fängt damit an, dass Angela Merkel (CDU) inmitten der Corona-Krise und so kurz vor Ende ihrer Regentschaft nichts missliebiger wäre als eine Personaldebatte. Mehr noch profitiert Scheuer von einem Nichtangriffspakt zwischen Union und SPD. Denn was für ihn das Mautdebakel ist, ist für Finanzminister und Kanzlerkandidat Olaf Scholz die Wirecard-Pleite, die sich nur durch das sträfliche Wegsehen der Aufsichtsbehörden zu solchen Dimensionen hat auswachsen können. Überdies stellen sich Fragen zu seiner Rolle im Zusammenhang mit dem Skandal um sogenannte Cum-Ex-Geschäfte. In seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister waren der Privatbank Warburg Steuerrückzahlungen in Höhe von 46 Millionen Euro erlassen worden. Scholz muss sich gegen Vorwürfe erwehren, dies könnte mit seinem aktiven Zutun geschehen sein.

Leichen im Keller

Scheuer sieht sich in der Mautaffäre durchaus Kritik seitens der SPD ausgesetzt. Rücktrittsforderungen werden von höherer Parteiebene jedoch nicht erhoben. Darauf angesprochen, befand SPD-Obfrau Kirsten Lühmann am Donnerstag: „Nein, das ist nicht unsere Sache.“ Das war schon mal anders. Bevor 2011 Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und 2013 Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) ihre Ämter aufgrund erschummelter Doktorarbeiten niederlegen mussten, gehörten die Sozialdemokraten zu den eifrigsten Anklägern. Klar, damals saß man auf der Oppositionsbank. Heute hingegen hält man mit Franziska Giffey einer Familienministerin aus den eigenen Reihen die Stange, die sich allem Anschein nach dasselbe Vergehen hat zuschulde kommen lassen. Obwohl sie sogar nach Höherem strebt und Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden will, lässt die Union sie ziemlich ungestört machen.

Auch das dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass die SPD im Gegenzug bei Andreas Scheuer Milde demonstriert. Schließlich hat doch jeder seine Leichen im Keller. Und da sollen sie gefälligst auch bleiben. Nach der Bundestagswahl könnte die Sache wieder anders aussehen und könnten sich die Koordinaten für Rechtschaffenheit, Moral und Anstand schlagartig verschieben. Bis dahin gilt indes das Diktum Scheuers: „Fakt ist, wir haben rechtens gehandelt.“

Titelbild: photocosmos1/shutterstock.com

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!