Soziale Kälte unter dem Deckmantel der Integrationsdebatte

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Während sich die Schlagzeilen, die Kommentatoren und das Feuilleton darüber auslassen, ob „der Islam zu Deutschland gehört“ (Wulff), beschleunigt die schwarz-gelbe Bundesregierung ihren Kurs der sozialen Kälte. Unter dem Deckmantel der „Integrationsdebatte“ wird zum einen, ohne dass das Gesetz verabschiedet ist, den Hartz IV-Beziehern schon mal vorab das Elterngeld entzogen und zum anderen beschließt die Regierungskoalition über Nacht eine Neuregelung der Hinzuverdienstgrenzen, wonach einige wenige Hartz IV-Aufstocker gerade mal bis zu 20 Euro im Monat hinzuverdienen dürfen. Solche Meldungen verschwinden unter Verschiedenes.
Der Verlust des Elterngeldes für Hartz IV-Beziehern von 300 Euro pro Monat und 3.600 Euro für ein Jahr ist nur noch Nebensache. Ein „Minischritt“ beim Zuverdienst für etwa dreihundert Tausend der 1,4 Millionen Aufstocker, darf als „Anreiz“ zur Aufnahme zur eine sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung schöngeredet werden, ohne dass ein lautes Hohngelächter ausbricht. Wolfgang Lieb

Die veröffentlichte Meinung hat seit der Sarrazin-Kampagne ihr Thema. Eine „Integrationsdebatte“, die Desintegration, Ausgrenzung und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit schürt, beherrscht den Diskurs und zeigt Wirkung. Nach einer neuerlichen Emnid-Umfrage im Auftrag von „Bild am Sonntag“ glauben „59 Prozent der Deutschen…, dass die große Mehrheit der Muslime bei uns nicht bereit ist, das Grundgesetz für sich persönlich zu akzeptieren. Im Ostteil der Republik sind sogar 70 Prozent der Befragten dieser Ansicht“ . Wie vorurteilsbeladen solche Meinungsbekundungen sind, zeigt das Urteil der Ostdeutschen, die kaum persönliche Erfahrung mit Muslimen haben können, weil gerade einmal 2 Prozent der islamischen Bevölkerung dort wohnhaft sind.

Nun weiß man zwar, dass die Emnid-Umfragen im Auftrag der BamS alles andere als verlässlich sind, aber in der Tendenz dürfte zutreffen, dass sich das ablehnende und abgrenzende „Bewusstsein (!)verschärft (!)“ hat, wie Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner formuliert. Und solche populistischen Vorlagen greifen natürlich CSU-Chef Seehofer, Verteidigungsminister zu Guttenberg und Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (alle zitiert in BamS) nur zu gerne auf um den rechten Rand ihrer Parteien zu bedienen. Vor allem aber, um sich nicht viel ernsteren Fragen der politisch vorangetriebenen Ausgrenzung von Arbeitslosen und Niedriglöhnern stellen zu müssen.

Zur Frage etwa auf welcher Rechtsgrundlage die Bundesagentur für Arbeit bis zum Jahresende mehr als 300.000 Bescheide zustellen will, die das bisherige Elterngeld für Hartz IV-Bezieher entziehen, äußern sich die schwarz-gelben Populisten natürlich nicht. Ein ermächtigendes Gesetz ist weder beschlossen noch ist es sicher, ob es so wie die Bundesregierung will, im Bundesrat eine Mehrheit erhält. Seit wann darf eine Verwaltungsbehörde, wie die Bundesagentur für Arbeit, Gesetze umsetzen, bevor diese gelten?
Die Sozialgerichte werden mit einer erneuten Klagewelle rechnen müssen.

Die Streichung wurde von Schwarz-Gelb damit begründet, dass das Elterngeld nun mal eine „Lohnersatzleistung“ sei und wer nun mal nicht arbeite, hätte auch keinen „Lohn“ und damit auch keinen Anspruch auf einen Ersatz. Doch diese formale – um nicht zu sagen zynische – Begründung ist einmal mehr nur die halbe Wahrheit und in Wirklichkeit eine ganze Lüge. Mit der Einführung des Elterngeldes, von dem vor allem Besserverdienende profitieren, wurde nämlich das vorherige Erziehungsgeld für Arbeitslosengeld II- (bzw. Sozialhilfe- und Grundsicherungs-) bezieher/innen gestrichen. Statt früher 7.200 Euro über einen Zeitraum von zwei Jahren erhielt diese Gruppe nach Einführung des Elterngeldes nur noch zwölf Mal 300, also maximal 3.600 Euro.

Diese damalige Halbierung der Transferleistung wird mit der Streichung des Elterngeldes nun vollständig auf Null gesetzt. Statt auf diesen Skandal aufmerksam zu machen, führt man lieber eine „Integrations“-debatte gegen Ausländer und grenzt die Ärmsten der Armen weiter aus. Gerade so, als ob sich mit der sich damit verschärfenden Kinderarmut nicht ein viel gefährlicherer sozialer Sprengstoff anhäuft, als von etwa zweieinhalb Millionen (ganz überwiegend integrierten) türkischen Muslime in einer Bevölkerung von über 80 Millionen je an Konflikten ausgehen könnten.

Auch ein weiterer Beschluss der Bundesregierung vom Ende der letzten Woche hat hinter dem Pulverdampf der Bedrohung durch den Islam bestenfalls noch Nachrichtenwert. Bis auf die Wiedergabe einiger weniger kritischen Anmerkungen der Oppositionsparteien hat kaum ein Kommentator die Hartz IV-Zuverdienstregelungen hinterfragt.

Die bisherigen Hinzuverdienstgrenzen für Hartz IV-Aufstocker, wonach 100 Euro nicht vom Regelsatz abgezogen werden, von einem Einkommen bis 800 Euro von jedem selbst verdienten Euro aber nur 20 Cent und über 800 Euro nur noch 10 Cent im Geldbeutel der Betroffenen ankamen, sollten nach den großspurigen Ankündigungen der schwarz-gelben Koalition „deutlich“ angehoben werden. Angeblich um die „Anreize“ zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu erhöhen.

Der kreißende Berg gebar ein winziges Mäuschen. Für rund 300.000 der 1,4 Millionen Aufstocker sollen maximal 20 Euro mehr vom eigenen Arbeitseinkommen übrigbleiben.
Bei etwa einer Million Aufstocker bleibt alles beim Alten. Nur diejenigen, die mehr als 800 Euro monatlich hinzuverdienen dürfen künftig zwanzig statt wie bisher 10 Cent pro selbst verdientem Euro behalten – im Maximum also 20 Euro mehr pro Monat.

Im Gespräch war sogar, den Freibetrag von 100 Euro zu halbieren. Doch das riskierte man wohl wegen der massiven Kritik an der mickrigen Anhebung der Hartz IV-Regelsätze um 5 Euro dann doch nicht.

Maximal 20 Euro mehr, werde keine Wirkung zeigen, meinte selbst Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Diejenigen die für einen Niedrigstlohn arbeiten und davon nur einen Bruchteil behalten dürfen, haben doch schon längst bewiesen, dass sie eine Beschäftigung – sozusagen für jeden Preis – wollen. Sie brauchen keinen „Anreiz“ und schon gar nicht von lächerlichen 20 Euro pro Monat, sie brauchen vielmehr menschwürdige Arbeitsplätze, mit denen sie sich aus Hartz IV befreien könnten. Der mindeste „Anreiz“ wäre ein Mindestlohn. Und wenn dann trotz Mindestlohn, z.B. aufgrund der persönlichen Situation, etwa als Alleinerziehende/r, das Einkommen nicht ausreicht um – wie es das Bundesverfassungsgericht verlangt – ein soziokulturelles Existenzminimum zu erreichen, dann wäre geradezu umgekehrt der Staat in der Pflicht etwas zum Einkommen zuzuschießen (Michael Sommer)

Bei der jetzigen „Neuregelung“ bleibt es dabei, dass der Staat über diejenigen, die „Aufstocken“ müssen, um ihr Existenzminimum zu sichern, nicht die Arbeitnehmer sondern die Unternehmen subventioniert. Diejenigen Unternehmen mit den übelsten Entlohnungspraktiken können nach wie vor ihre Arbeitnehmer zu den Arbeitsagenturen schicken und ihnen mit auf den Weg geben: Holt Euch dort den Rest, den ihr zum Überleben braucht.

Mit 9,3 Milliarden jährlich unterstützt der Staat Niedriglöhne, ein Großteil dieses Geldes ist eine reine Subventionen an Unternehmen. Dadurch, dass mit der Neureglung die Bundesagentur von etwa 300.000 Aufstockern, die mehr als 800 Euro selbst verdienen, maximal 20 Euro pro Monat weniger abkassiert, entstehen laut Frankfurter Rundschau (Printausgabe) Einnahmeverluste in Nürnberg von – in Koalitionskreisen geschätzten – 200 Millionen Euro.

Milliardensubventionen für Unternehmen mit Billigstlöhnen und ein paar Millionen für arbeitswillige Hartz IV-Aufstocker, so sehen die arbeitsmarktpolitischen „Anreize“ dieser Bundesregierung tatsächlich aus.

Aber die deutsche Öffentlichkeit debattiert lieber über die unbestreitbare Tatsache, dass rund 4 Millionen Muslime (etwa 45 Prozent mit deutscher Staatsbürgerschaft) davon etwa zweieinhalb Millionen mit türkischer Herkunft in Deutschland leben und sie zerreißt sich den Mund darüber, ob bei uns islamische Mitbürger eine anzuerkennende Realität sind oder ob man sich dieser Wirklichkeit – wie seit Jahrzehnten – weiterhin verweigern soll.

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