Frieden im Entwurf eines LINKE-Wahlprogramms in kriegerischer Zeit

Frieden im Entwurf eines LINKE-Wahlprogramms in kriegerischer Zeit

Frieden im Entwurf eines LINKE-Wahlprogramms in kriegerischer Zeit

Ein Artikel von Bernhard Trautvetter

Die scheidenden Vorsitzenden der LINKEN, Katja Kipping und Bernd Riexinger, haben einen Programmentwurf vorgelegt: Darin werden zentrale friedenspolitische Positionen der Partei relativiert. Von Bernhard Trautvetter.

In diesem Wahljahr haben die Wählerinnen und Wähler eine hohe Verantwortung für die Zukunft. Ein Wahlprogramm, das dieser Verantwortung gerecht wird, geht von den Rahmenbedingungen aus, die es zu verändern gilt. Ein Programmentwurf, der schon im ersten Schritt eigene Ziele aufweicht, um in eventuelle Koalitionsverhandlungen einbezogen zu werden, ist ein inhaltlicher und wahltaktischer Offenbarungseid. Die scheidenden Vorsitzenden der LINKEN, Katja Kipping und Bernd Riexinger, legten diesen Monat einen Entwurf für ein Wahlprogramm vor.[1] Das geschah Monate nachdem Katja Kipping in ihrem Buch ‘Neue linke Mehrheiten – Eine Einladung‘ für eine sogenannte ‘Regierung der Hoffnung’ warb.[2] Dieser Ansatz übergeht die Tatsache, dass eine rein parlamentarische Hoffnung auf Sand gebaut ist. Ohne eine breite außerparlamentarische Opposition für die Zukunft, für Frieden und Abrüstung, Gerechtigkeit und demokratische Rechte wird jede linke Mehrheit in den Institutionen zerrieben. Bernd Riexinger formuliert die Erkenntnis in seinem fast zeitgleich veröffentlichten Buch ‘System Change‘, dass eine linke Partei “mit den gesellschaftlichen Bewegungen verbunden” sein muss, wenn sie etwas verändern will.[3]

Ein Wahlprogramm, das nicht von der Basis her, sondern mit der Hoffnung auf Regierungsmehrheiten entwickelt wurde, kann eine linke Kraft im Prozentgerangel aus Macht und Kompromissen marginalisieren. Für die LINKE wäre das das Ende. Parteien, die mit sogenannter Realpolitik im Wesentlichen parlamentsbezogen arbeiten, gibt es schon. Die aktuell circa sieben Prozent Stimmenanteil der LINKEN bei Umfragen können bei Wahlen schnell 4,9 werden. Aber beim Thema Zukunft und Frieden geht es um weit mehr als Wahlstrategien, es geht um die Abwendung der Zukunftsgefährdungen, die die kritischen Nuklearwissenschaftlerinnen und Nuklearwissenschaftler dazu veranlassten, die Uhr zur Warnung vor einer finalen Katastrophe auf 100 Sekunden vor Mitternacht zu stellen.[4] Die Wissenschaftler verweisen auf die Hochrüstung, die internationalen Spannungen und Konflikte infolge der ökologischen Katastrophe. Ein Wahlprogramm, das den Erfordernissen der Zeit gerecht wird, zielt auf die Abwendung dieser Bedrohungen durch die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft.

Die beiden Noch-Parteivorsitzenden der LINKEN haben jedoch ein Wahlprogramm vorgelegt, bei dessen Entstehung die Basis nicht einbezogen war. Dies und die Textsprache lassen befürchten, dass die notwendige Basismobilisierung für die Abwendung der Zukunftsgefährdungen aus der Aufmerksamkeit herausgefallen ist. Dabei machen schon alleine die Nato-Planungen sie notwendig. Aktuell stehen Drohnenbewaffnung, die Stationierung nuklearer Arsenale und die immer massivere Aufrüstung gegen Russland auf der Nato-Agenda ganz oben. Sie rechtfertigen das mit ihrer selbstgefälligen ‘Wir die Guten – die die Bösen’-Propaganda.

Sevim Dagdelen und Ulla Jelpke haben am 11.02.2021 in der Jungen Welt betont:

Sprache kann verräterisch sein. Im Programmentwurf zur Bundestagswahl, den die beiden scheidenden Linke-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger zu verantworten haben, werden zentrale friedenspolitische Positionen der Partei relativiert.”[5]

Sie kritisieren im Text eine ‘sprachliche Weichspülung’. Angesichts der Bedeutung der Friedensfrage und der zerstörerischen Wirkung der Hochrüstung mutet es auf den ersten Blick schon seltsam an, dass die Friedenspolitik im Programmentwurf als Kapitel erst weit hinten auf Seite 103 erscheint. Die Zielformulierung, mit der das Friedenskapitel eröffnet wird, erhärtet den Eindruck, dass hier nur halbherzig formuliert wird: “DIE LINKE verteidigt das Prinzip des Friedens als Modus internationaler Politik.” Der Begriff ‘Modus’ bedeutet Verfahrensweise. Das Wort mag modern klingen. Aber es ist eine Abschwächung gegenüber der Formulierung des friedenspolitischen ‘Leitbildes’ der LINKEN, demzufolge es um einen gerechten Frieden auf der Basis einer ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit geht, wie es das Erfurter Programm auf Seite 53 formuliert.[6]

Im aktuell vorgelegten Entwurf des LINKEN-Wahlprogramms steht zwar auf Seite 103: “Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden”, aber im gleichen Absatz lehnen die Parteivorsitzenden „mehr Investitionen in Militarisierung und Aufrüstung ab“. Die Wortwahl besagt, hier werden Militarisierung und Aufrüstung nicht grundsätzlich abgelehnt. Nur deren Zunahme. Diese Schlussfolgerung mag nicht in ihrer bewussten Absicht gelegen haben, aber die Aufweichung der Sprache, die auf Kosten einer klaren Positionierung geht, drückt eine Inkonsequenz in der Friedensfrage aus, die aufseiten friedensbewegter Mitmenschen Anlass zu größter Sorge ist. Man kennt das von den Grünen, die in ihrem ersten Programm 1980 den Frieden zum Grundsatz erhoben hatten und sich keine zwei Jahrzehnte später am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien beteiligt haben.[7]

Der Aufweichung der Sprache im Entwurf des Wahlprogramms der LINKEN folgt die der Forderungen. Auf Seite 103 heißt es ganz unspezifisch, die LINKE will die Ausgaben für Rüstung senken. Konkreter wird der Text in diesem Kontext nicht. Die Frage bleibt offen, wieviel Rüstung für die LINKE diesem Text zufolge zustimmungsfähig wäre. Innerhalb der letzten 6 Jahre stiegen Deutschlands jährliche Militärausgaben offiziell um ca. 10 Milliarden Euro auf nun über 50 Milliarden Euro.[8]

Das erste Kapitel im Friedensteil des Wahlprogrammentwurfs lautet “Für Frieden und Abrüstung. Waffenexporte verbieten”, und dann folgt das Kapitel ‘Rüstungsexporte stoppen’. Der Frage, warum die beiden Abschnitte teilweise ähnliche Inhalte berühren, folgt die Frage, warum im zweiten dieser Abschnitte eine erneute wachsweiche und unklare Forderung enthalten ist: “Perspektivisch wollen wir alle Rüstungsexporte … einstellen”. (S.104) Warum erst perspektivisch? Die Frage beantwortet der Text nicht.

Es folgt der Abschnitt zur Drohnenpolitik, der ohne Wenn und Aber die Ächtung bewaffneter Drohnen und autonomer Waffensysteme fordert. Der Abschnitt zu Atomwaffen ist ebenfalls erfreulich klar. Es wird die Unterzeichnung des UNO-Atomwaffenverbotsvertrages gefordert – mit allen Konsequenzen für den Ausstieg Deutschlands aus der Nato-Nuklearkriegsstrategie: ersatzloser Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland und keine Trägersysteme für den Atomkrieg! Die Forderung nach Demontage der Nukleararsenale wäre noch rigoroser als die nach deren Entfernung aus unserem Land.

Im Kapitel zum Umbau der Bundeswehr fordert der Programmentwurf den Umbau der Bundeswehr “hin zu einer strikten Defensivverteidigung” (S. 106). Das klingt auf den ersten Blick sympathisch. Doch: Diese Formulierung wirft die Frage auf, gegen welchen unserer Nachbarstaaten sich Deutschland verteidigen können sollte. Unter den neun Staaten von Dänemark über die Schweiz bis Polen zeichnet sich kein potentieller Angreifer ab, der Milliarden für den Militärsektor rechtfertigen könnte. Und Russland wird Deutschland auch nicht überfallen. Auf dem Weg sind unter anderem die Atomkraftwerke der Ukraine; Polen plant den Bau neuer AKWs, um von der Kohleverstromung wegzukommen. Ein Kampfgeschehen östlich Deutschlands wäre also auch ohne nukleare Arsenale ein Atomkrieg, möglicherweise das Ende mindestens der europäischen Zivilisation.

Als nächstes folgt im Programmentwurf der Abschnitt zu Auslandseinsätzen. Der Text fordert, die Bundeswehr aus allen Auslandseinsätzen zurückzuholen. Vielleicht ist es nur undurchdacht, aber auch dann wirft es Fragen auf: Was wäre denn mit neu auf die Agenda kommenden Beschlüssen über eine neue Entsendung von Soldaten in ein Konfliktgebiet out of area (außerhalb des Nato-Gebietes)? Im Abschnitt ‘Kooperation statt Konfrontation: für ein inklusives Sicherheitssystem’ geht die sprachliche Unklarheit weiter: Da steht die Forderung, dass die Nato aufgelöst und durch ein kollektives Sicherheitssystem ersetzt werden soll. Dieses Sicherheitssystem, das vermutlich wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auch Russland umfassen würde, wäre mitnichten ein Ersatz für die Nato. Da ist das Berliner Programm der SPD von 1989 klarer:

“Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen.”[9]

Im Entwurf der LINKEN-Chefs fehlt die Schließung des Nato-/US-Stützpunktes Ramstein, allerdings lehnt der Text die ‘Steuerung’ von Drohnen und den Ausbau der US-Basis Ramstein zum Weltraumcenter der Nato ab. Der Abschnitt zum Frieden im Wahlprogrammentwurf nähert sich dann Formulierungen des Erfurter Programms an und fordert, Sicherheit sei mehr als die Abwesenheit von Gewalt, es bedeute die “Versorgung mit Lebensmittel, … Zugang zu medizinischer Versorgung …, Wohnraum, Bildung und Ausbildung”. (S.107)

Der unambitionierte Eindruck, den der Abschnitt „Frieden“ im LINKEN-Entwurf macht, rührt auch daher, dass die Formulierungen den Bezug zwischen Abrüstung, Frieden und einer ökologischen Zukunft der Menschheit weitgehend außer Acht lassen. Die klima- und naturschädigenden Wirkungen des Militärsektors untergraben die Lebensbedingungen so gravierend wie kaum ein anderer Bereich der kapitalistischen Gesellschaft. Dies wird daran deutlich, dass das Militär ungeheure Mengen an fossilen Brennstoffen verbraucht. Es zerstört laut Beobachtern „die Umwelt und trägt wesentlich zum Klimawandel bei. Gleichzeitig werden die weltweiten Ressourcen knapper und Rohstoff-Kriege drohen in Zukunft zuzunehmen, wovor sogar in US-Militär- und Geheimdienstkreisen gewarnt wird”.[10]

Zusätzlich fehlen aktuelle Zuspitzungen zur Nato-Hochrüstung, gegen die die Friedensbewegung aktiv ist: Die Nato plant die Stationierung von Nuklearsystemen, die die Schwelle zum Atomkrieg absenken, da sie aufgrund ihrer Eigenschaften von den Militärs als gebrauchsfreudiger eingestuft werden.[11] Dagegen ist in der ersten Hälfte der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts der Widerstand in besonderem Maße gefordert. Das betrifft die vor uns liegende Legislaturperiode. Es geht darum, gerade jetzt die Anstrengungen der Friedens- und der Ökologiebewegung sowie der Gewerkschaften und der Solidaritätsbewegungen zu mobilisieren, um diese Gefahren abzuwenden.[12]

Die Fragen von Krieg und Frieden werden angesichts der Planungen der Militärs neben und mit der ökologischen Katastrophe zu einem Kernpunkt des Ringens um die Zukunft der Menschheit.

Titelbild: nitpicker / Shutterstock