Deutschland schlägt Schweden bei der Übersterblichkeit

Deutschland schlägt Schweden bei der Übersterblichkeit

Deutschland schlägt Schweden bei der Übersterblichkeit

Ein Artikel von Henning Rosenbusch

„Schweden ist gescheitert“, „Schweden hat versagt“ und „der schwedische Sonderweg ist beendet“ – diese Narrative zogen sich im vergangenen Jahr, mit wenigen Ausnahmen, durch die deutsche Medienlandschaft: Nichts davon ist wahr und die Belege dafür werden immer deutlicher. Von Henning Rosenbusch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Das Zentrum für evidenzbasierte Medizin der Universität Oxford veröffentlichte vorgestern Berechnungen zur Übersterblichkeit verschiedener Länder im Pandemiejahr 2020. Die Ergebnisse hätten einschlagen müssen wie eine Bombe, doch das taten sie nicht. Weder in Schweden, noch in Deutschland wurde bisher darüber berichtet, zu welchem Ergebnis die Experten für medizinische Statistik gekommen sind.

Sie berechneten für Schweden eine Übersterblichkeit im Jahre 2020 von 1,5 Prozent. Und für Deutschland 3,3 Prozent. Diese statistischen Berechnungen sind zwar momentan noch keinem Peer Review unterzogen worden, es wäre jedoch überraschend, wenn sich die Statistik-Experten der angesehenen Universität dabei großartig vertan hätten.

Zur Übersterblichkeit ein Zitat von Martin Sprenger, Mediziner, Autor und Gesundheitswissenschaftler an der Medizinischen Universität Graz mit den Schwerpunkten Public Health, Primärversorgung und Prävention, mit dem der Autor dieser Zeilen kürzlich bei Talk im Hangar 7 (Servus TV) über Alternativen zum Lockdown diskutieren durfte, aus eben dieser Sendung: „Die Übersterblichkeit ist der härteste Parameter, den wir haben, weil man eben nicht mehr darüber diskutieren muss, ob mit oder an Covid-19 verstorben.“ Sprenger war auch Mitglied der österreichischen Coronavirus-Taskforce des Gesundheitsministeriums bis Anfang April des vergangenen Jahres und ist dann aus eigenem Antrieb wegen Unstimmigkeiten mit der Regierung Kurz zurückgetreten: “Ich habe mir die Freiheit genommen, meine Meinung nur noch als Fachmann und Bürger kundzutun”.

Und Schweden ist auch mit dem neuen Pandemiegesetz von Anfang Januar nicht vom Sonderweg abgekommen oder hat den deutschen Weg eingeschlagen, wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bei seiner Aschermittwochs-Ansprache falsch behauptete: Es gibt und gab weiterhin nie einen Lockdown in Schweden oder etwas, was auch nur ansatzweise so bezeichnet werden könnte. Geschlossen sind teilweise nur öffentliche Einrichtungen wie Museen. Es gab nie eine Maskenpflicht und somit auch keinerlei Polizeikontrollen. Und die Schulen waren immer offen, einmal abgesehen von der gymnasialen Oberstufe, die während der ersten Welle und nun auch um Weihnachten herum für wenige Wochen in den Fernunterricht geschickt wurde. Es gab seit dem neuen Gesetz sowohl Verschärfungen als auch Lockerungen im schwedischen Pandemiekurs. So ist die gymnasiale Oberstufe seit Ende Januar zurück im Präsenzunterricht und auch jeglicher Sport, sowohl drinnen wie draußen, ist für Erwachsene und natürlich auch Kinder wieder ermöglicht worden: „Wer sein Kind durchgeschwitzt und glücklich vom Sport nach Hause kommen sieht, weiß, wie wichtig das für Kinder ist“, so die schwedischen Gesundheitsbehörden bei der Bekanntgabe dieser Lockerung der Empfehlungen.

Neues gibt und gab es in Sachen Masken, allerdings bleibt es auch hier bei Empfehlungen: Momentan sollen während der Rushhour in öffentlichen Verkehrsmitteln welche getragen werden und einige Regionen wie Stockholm gehen seit kurzer Zeit auch darüber hinaus und empfehlen Masken auch für jegliche Innenräume „wenn die Abstandsregeln wegen Überfüllung nicht eingehalten werden können.“ Dass weder Staatsepidemiologe Anders Tegnell noch sein Chef Johan Carlson viel von dieser allgemeinen Empfehlung hielten, wurde deutlich, als sie vor einem Monat während der Rushhour eben ohne Mund-und-Nasenbedeckung in U-Bahn und Bus fotografiert wurden, was natürlich für entsprechende Schlagzeilen in den schwedischen Gazetten sorgte und heiß diskutiert wurde.

Die Neuigkeiten in Sachen Masken passen auch gar nicht zu alten Aussagen Tegnells wie aus dem Dezember: „Masken sind politisch“. Warum es hier ein Umdenken gab, nachdem sich die Behörden bis zuletzt dem Druck der eigenen Regierung und der Journalisten aus dem In- und Ausland nicht gebeugt hatten, darüber lässt sich nur spekulieren.

Weiterhin gibt es Verschärfungen für Restaurants und Cafés in Einkaufszentren, wo sich seit dem 1. März nur noch eine Person an einen Tisch setzen darf. Mitte Februar wurde von der Regierung Löfven mit dem neuen Pandemiegesetz eine Schließung aller Gaststätten ab 20.30 Uhr abends verordnet, die für heftige Diskussionen in Schweden sorgt und hart kritisiert wird. Auch hier gibt es Widersprüche. Erst vor wenigen Tagen sagte Tegnell in einem Interview mit dem wöchentlich erscheinenden österreichischen Nachrichtenmagazin „Profil“: „Unser regionales Contact-Tracing fand nur sehr selten Infektionen, die auf Restaurantbesuche zurückgingen. Es ist uns offensichtlich gelungen, das Risiko in der Gastronomie stark zu senken. Man wird es nie auf null bringen; null Risiko ist bei dieser Krankheit nicht möglich.“ Wenn man Restaurants schließe, würden sich die Menschen woanders treffen, so Tegnell: Viele Länder hätten genau diese Erfahrungen gemacht: Die Restaurants wurden geschlossen und die Infektionszahlen blieben trotzdem hoch.

Und genau hier setzt nun die Kritik vieler schwedischer Kommentatoren an, denn die Gesundheitsbehörden hatten immer wieder und bis heute betont, dass die Neuinfektionen in Schweden vor allem auf zwei Bereiche zurückzuführen sind: Private Zusammenkünfte und der Arbeitsplatz. Kritiker dieser neuen Maßnahmen weisen nun darauf hin und merken an, dass durch die Schließung um 20.30 Uhr am Abend viele Menschen gleichzeitig mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause führen, was auch einige Bilder aus den U-Bahnen der Großstädte belegen und – darauf haben weder Gesundheitsbehörden noch die schwedische Regierung dank verfassungsrechtlicher Vorgaben Einfluss – dann im privaten Bereich zusammenkommen würden. Und zwar ohne jegliche Beschränkungen.

Ebenso fragwürdig bleibt, warum Tegnell und die Gesundheitsbehörden bei all den Attacken, denen sie dauerhaft ausgesetzt sind und waren, nicht mit den statistischen Untersuchungen zur Übersterblichkeit argumentieren. Am 19. Februar veröffentlichte dann das öffentlich-rechtliche Fernsehen SVT eine weitere Untersuchung der Übersterblichkeit in Schweden im Vergleich zu anderen Ländern Europas, die in den einschlägigen Corona-Foren Schwedens zu regelrechten Jubelschreien führte: Epidemiologin Karin Modig vom Karolinska Institut in Stockholm (wo jährlich die Träger des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin auserwählt werden) bestätigte die Untersuchungen des Historikers Fredrik Charpentier Ljungqvist (Universität Stockholm, Autor des Buches: „Corona – die Pandemie unserer Zeit in historischer Perspektive“): „Zwei Drittel der Länder Europas weisen eine signifikant höhere Sterblichkeitsrate auf als Schweden.“

Ljungqvist hatte unter anderem eine Übersterblichkeit von 7,6 Prozent für Schweden berechnet, für Deutschland 5,6 Prozent und für Österreich 11,1 Prozent. Modig schränkte ein, dass es unterschiedliche Methoden zur Berechnung der Übersterblichkeit geben würde, und so lassen sich am Ende auch die abweichenden Zahlen der Medizinstatistiker aus Oxford erklären. In den nächsten Tagen berichteten so gut wie alle Medien über diese Untersuchungen.

So wachsen jetzt urplötzlich weitere Zweifel am Kurs der Gesundheitsbehörden, die bisher nur von Kritikern aufgefordert wurden, die Maßnahmen zu verschärfen. Und zwar von der ganz anderen Seite: Am morgigen Samstag soll es organisiert vom Filip Sjöström einen „Tausend-Mann-Marsch“ in Stockholm geben. Er fordert die Aufhebung von so gut wie allen Empfehlungen und Einschränkungen der Gesundheitsbehörden und der Regierung und erwartet, dass sich mindestens 2000 Menschen anschließen: „Es gibt Zensur sowohl in den Medien als auch unter den Machthabern. Die Machthaber wollen sich nicht einmal unseren Fragen stellen“, so der junge Stockholmer, der sich mit seinen Mitstreitern Sorgen um Freiheit und Demokratie in Schweden macht. Die Polizei vor Ort will dies mit Hinweis auf aktuelle Restriktionen im Auge behalten und notfalls verhindern. Es wäre die erste Demonstration in Sachen Corona in Schweden seit Beginn der Pandemie.

Es bleibt spannend im Land des Sonderweges, denn auch in führenden Zeitungen wie Dagens Nyheter gibt es neue und ausführliche Debatten über Impfpässe und eine daraus womöglich entstehende Zwei-Klassen-Gesellschaft. Dort fragte sich Anita Goldmann kürzlich in einem langen Artikel: „Warum ist es so still darüber, dass die Pandemie unsere Demokratie bedroht?“

Wir werden demnächst in einem weiteren Artikel darauf eingehen.

Titelbild: © Henning Rosenbusch