Der US-alliierte Krieg gegen den Irak. Ein „gerechter Krieg“ feiert seinen 30. Geburtstag

Der US-alliierte Krieg gegen den Irak. Ein „gerechter Krieg“ feiert seinen 30. Geburtstag

Der US-alliierte Krieg gegen den Irak. Ein „gerechter Krieg“ feiert seinen 30. Geburtstag

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Ein Masterplan für einen Krieg aus edlen und selbstlosen Gründen, die nicht nur für alte Militaristen gut sind. Es liegt nun 30 Jahre zurück, als US-alliierte Truppen in den Irak einmarschiert waren. Es lohnt sich, Bilanz zu ziehen. Denn heute lassen sich viel sicherer Versprechen, Propaganda und Wirklichkeiten auseinanderhalten. Und es gibt noch einen sehr aktuellen Anlass, auf diesen ‚Zweiten Golfkrieg‘ zurückzublicken. Damals taten jene, die dem „Realoflügel“ der GRÜNEN nahestanden, alles, um den Pazifismus über Bord zu werfen. Heute machen sich Teile der Partei DIE LINKE dieselben Gedanken. Wie kann man sich als Koalitionspartner anbieten und gleichzeitig ein wesentliches Erkennungszeichen der LINKEN, keinen Kriegseinsätzen zuzustimmen, aushebeln? Von Wolf Wetzel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Lesen Sie zum Thema auf den NachDenkSeiten auch: Jakob Reimann – „Seit 30 Jahren bombardieren die USA den Irak“

Man wird nicht für die totale Überraschung sorgen, wenn man feststellt, dass die ‚guten‘ Gründe, die heute dafür angeführt werden, dieselben sind, die man vor 30 Jahren aus dem Hut gezaubert hatte.

Dieser Beitrag wird sich also der Beantwortung der Fragen widmen, die heute so brisant sind wie vor 30 Jahren:

  • Halten die Gründe, die man damals für einen Krieg anführte, einer Überprüfung stand?
  • Waren die Gründe vorgeschoben, um ganz andere Kriegsziele damit zu verschleiern?
  • Gibt es so etwas wie einen „gerechten“ Krieg, den imperiale Staaten vorgeben zu führen?
  • Wer hat tatsächlich von diesem Krieg profitiert? Die Bevölkerung, die Unterdrückten oder jene, für die sich ein Krieg auszahlen muss?

Am 2.8.1990 marschierten irakische Truppen in den Kuwait ein. Was anfangs wie ein regionaler, inner-arabischer Konflikt aussah, entwickelte sich in den folgenden Monaten zum ersten US-alliierten Krieg in der Golfregion nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Gründe für die offenen Kriegsdrohungen der USA gegen den Irak variierten, je nach Zielgruppe und Geschmack: Mal war es die Besetzung des Kuwaits, ein anderes Mal die Behauptung, der Irak stünde kurz vor dem Besitz einsatzfähiger Atomwaffen. Dazwischen waren auch weniger edle Kriegsgründe, schlicht ökonomische und strategische Interessen der USA, vernehmbar. Diese bekamen die Soldaten in Saudi-Arabien zu hören, denen der damalige US-Präsident Georg Bush im November 1990 einen Besuch abstattete: Die „wirtschaftliche Lebensader der Welt“[1] sei bedroht. Von diesen sehr schnöden Gründen eines selbsternannten „Weltpolizisten“ hörten die Soldaten in der Wüste, im Westen ganz wenige.

Was im Westen als übermenschliche Zurückhaltung und größtmöglichste Geduld verkauft wurde, war alleine dem Umstand geschuldet, dass die USA und ihre Alliierten diese Zeit benötigten, um den größten Truppenaufmarsch in der Golfregion nach dem Zweiten Weltkrieg abzuschließen: „Bis Ende 1990 wurde eine aus 676.000 Soldaten, 3.600 Panzern, 1.740 Kampfflugzeugen und 150 Kriegsschiffen bestehende Streitmacht für die Rückeroberung Kuwaits stationiert. Die USA stellten etwa zwei Drittel der Truppen.“[2]

Parallel dazu hatten westliche Regierungen alle Hände voll zu tun, den einstigen Freund und Verbündeten, Saddam Hussein, in einen „Schlächter“ und „Diktator“ umzurüsten, um so die innere Anti-Kriegs-Opposition auf ihrem eigenen Terrain schlagen zu können. Erstaunlicherweise verfingen all die Kriegslügen am Anfang kaum. Zu durchsichtig waren die militärischen, imperialen und ökonomischen Interessen der US-Alliierten in der Golf-Region, in der billiges Öl und diktatorische Regime auf das Vortrefflichste die Interessen des Westens bedienten.

Operation Wüstensturm

Am 17. Januar 1991 begannen die US-Alliierten mit der ‚Operation Wüstensturm‘ die Bombardierung des Iraks. Noch am selben Abend kam es in vielen Städten und an vielen Orten in der BRD zu Demonstrationen und Kundgebungen. In Frankfurt beteiligten sich über 4.000 KriegsgegnerInnen an einer spontanen Demonstration. Das Spektrum, das sich in den folgenden Wochen zum Teil täglich zu Demonstrationen und Kundgebungen versammelte, war breit, heterogen und widersprüchlich: Es reichte von Friedensbewegten, den GRÜNEN, gewerkschaftlich Organisierten, SPD-Mitgliedern und Funktionären bis hin zu Anti-Kriegsgruppen und autonomen Gruppierungen.

Um einiges schemenhafter war die Kriegsberichterstattung. Bilder wie aus einem OP-Kreissaal: grünes, flackerndes Licht, schemenhafte Umrisse des ‚Bösen‘, ein Fadenkreuz, ein Ziel, ein chirurgischer Eingriff, eine Rauchwolke. Tag und Nacht bombardierten die US-Alliierten ‚legitime Ziele‘ im Irak und wie durch ein (Fernseh-)Wunder kam dabei niemand – medial – um. Keine Toten, keine Verletzten, keine Verwüstungen.

Kein Blut für Öl‘ – zumindest die Bilder des Krieges kamen diesem Wunsch auf verlogene Weise entgegen.

Der US-alliierte Bombenkrieg gegen den Irak wurde mit über 2.000 Luftangriffen tagtäglich fortgesetzt, die Ästhetisierung des Krieges auch. Ein Krieg, der sich in der medialen Auflösung als Computerspiel anbot. Die schlichte Tatsache, dass in diesem Krieg bereits Tausende ums Leben gekommen waren, mutierte zum antiamerikanischen Ressentiment.

Opfer, die sich sehen lassen können

Am 18.1.1991 feuerte das irakische Militär acht Scud-Raketen auf Israel. Fünf weitere Raketenangriffe folgten. Schlagartig änderte sich die Kriegsberichterstattung. Der Krieg bekam nun Opfer, die sich sehen lassen konnten. Im US-alliierten Krieg gegen den Irak lösten sich die Opfer in der Abstraktion des Sichtbargemachten, d.h. in Wohlgefallen auf. In Israel wurde der Zusammenhang zwischen einem militärischen Angriff und den gewollten Zerstörungen wiederhergestellt. Täglich waren Bilder von zerstörten Häusern, von Verletzten, von Raketenkratern zu sehen, die ihr Ziel verfehlten. Menschen wurden sichtbar, die Angst hatten, die sich furchtsam erinnerten, die sich vor neuen Angriffen zu schützen suchten. Eine perfekte mediale Inszenierung, die psychologisch als Verschiebung beschrieben werden kann: Die Opfer des US-alliierten Krieges gegen den Irak wurden in Israel betrauert.

Die Scud-Raketen verfolgten vor allem ein politisches Ziel. Die irakische Regierung wollte mit dem gemeinsamen Feind „Israel“ in der arabischen Welt um politischen und militärischen Beistand werben.

Unter militärischen Gesichtspunkten waren die Scud-Raketen ein gefundenes Fressen – für ihre Gegner: „Zwar hatten wir Dutzende von Raketeneinschlägen […] Trotz Angst und Stress und beinahe täglicher […] Alarme ist dieser Krieg für uns ein ‚Krieg de luxe‘, so der ehemalige Verteidigungsminister Jizchak Rabin.“[3]

Auch politisch verfehlten die Scud-Raketen ihr Ziel fast gänzlich. Das Kalkül, die ‚arabischen Brüdervölker‘ an die Seite des Iraks zu bomben, den Israel/Palästina-Konflikt zu instrumentalisieren, ging nicht auf.

Die Scud-Raketen schlugen auch in Deutschland ein, mitten in eine ehemalige, außerparlamentarische Linke, die sich im Wesentlichen in und um die Grünen sammelte. Noch präsentierten sich die Grünen als Oppositionspartei, die sich programmatisch als pazifistisch verortete und jede deutsche Beteiligung an Kriegseinsätzen kategorisch ablehnte. Realpolitisch stand aber auch fest, dass alle Weichen auf Regierungsbeteiligung gestellt wurden. Damit war klar, dass der Pazifismus geopfert werden musste. Denn eine Regierungsbeteiligung schloss mehr denn je ein, endlich auch bei Kriegseinsätzen dabei zu sein und die bis dahin gültige Maxime „Nie wieder Auschwitz – Nie wieder Krieg“ auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.

Die Scud-Raketen auf Israel waren die ideale Gelegenheit, die Maxime sogar umzukehren: Um ein zweites ‚Auschwitz‘ zu verhindern, muss man Krieg führen!

Unser Hundesohn

Über 25 Jahre war das irakische Regime, war Saddam Hussein „unser Mann im Orient“. Das irakische Regime war einer der wenigen säkularisierten Staaten in dieser Region. Kein Koran, kein Islam und vor allem kein religiöser Fundamentalismus bestimmten die politischen Maxime der irakischen Diktatur, sondern – ganz im Sinne westlicher Lehren – pragmatische Überlegungen. Auch ideologisch war das Regime nicht festgelegt. Man machte mit allen Geschäfte und Politik, sei’s mit der UdSSR oder dem Westen. Hauptsache war, dass es dem eigenen Regime nützlich und vorteilhaft erschien. Kurzum, das Regime war ganz von westlicher Rationalität geprägt. Es unterdrückte die islamische wie kommunistische Opposition im eigenen Land, verbot die Kommunistische Partei und ließ deren Anhänger hinrichten. Der Kampf der KurdInnen um Autonomie wurde mit allen Mitteln eines modernen, aufgeklärten Staates verfolgt (im eigenen Land), missbraucht (im Krieg gegen den Iran) und hintertrieben (mit Hilfe von nie eingelösten Zugeständnissen wie dem Autonomiestatus aus dem Jahre 1970) – ganz und gar nicht besonders orientalisch oder ‚uns‘ gar fremd.

Der Nahost-Experte im Pentagon, Howard Teicher, brachte es auf den Punkt: Saddam Hussein mochte „ein Hundesohn sein, aber er war unser Hundesohn“[4].

All diese ganz normalen, üblichen Verbrechen dieses irakischen Regimes waren weder für sich, noch zusammengenommen jemals ein Grund für den Westen, das Regime fallenzulassen. Im Gegenteil: Sie waren Bedingung für wirtschaftliche, politische und militärische Zusammenarbeit mit der ‚freien Welt‘. Eine geradezu grandiose Karriere als Mann des Westens machte das Militärregime Saddam Hussein, als das irakische Militär 1980 den Iran überfiel. Das Blut floss, die Kredite flossen, das Öl floss und der ‚freie Westen‘ verdiente an allem blendend und reichlich. Alles war in bester Ordnung. In dem acht Jahre dauernden Krieg verlor der ‚freie Westen‘ weder ein Wort über ein UN-Ultimatum, ein Wirtschafts- oder Waffenembargo oder gar eine Drohung, militärisch zu intervenieren, um dieses eine Million Menschenleben kostende Massaker zu beenden. „Zynisch und skrupellos wurden Iraner und Iraker dabei gegeneinander ausgespielt; Traumergebnis für die USA war ein Patt der beiden verfeindeten Staaten im Golfkrieg“[5].

Im Namen des Völkerrechts

Um einen Krieg zu führen, ist es unklug zu sagen, dass man es gewohnt ist, die Welt zu beherrschen – erst recht, wenn der Kolonialismus in seiner alten Form zu kostspielig geworden ist.

Es müssen also edle, uneigennützige Gründe sein, für die man in den Krieg ziehen kann und soll. Zu diesem selbstlosen Gründen zählt ganz oben die Verletzung (also Verteidigung) des Völkerrechts, ein Völkerrecht, das in seiner materiellen Substanz tatsächlich eine Errungenschaft darstellt.

Im Allgemeinen scherten sich die US-Führungen recht wenig um das Völkerrecht. Doch die politische Koalition dieses Kriegsbündnisses verlangte nach einer edlen Begründung – gerade auch aufseiten der GRÜNEN, die an der Schwelle zur Regierungspartei standen.

Gibt es also so etwas wie eine ‚linke‘ Kriegsbegründung?

Lassen wir einmal bei der Suche nach einer Antwort beiseite, dass es diesen linken Exekuteuren des Völkerrechts nicht einmal mehr der Erwähnung wert ist, dass in der UNO keine Völker vertreten sind, sondern eine ganz gewöhnliche Mischung aus (gewählten) Regierungen, Diktaturen und Marionetten-Regimes. Doch selbst diese circa 150 Staatsregierungen haben wenig bis nichts zu sagen. Denn das entscheidende Gremium, der Weltsicherheitsrat, besteht aus einem illegitimen, sich selbst ernannten Haufen aus Ex-Kolonialmächten (England, Frankreich) und den drei Hegemonial- und Weltmächten (China, USA, UdSSR). Ihr Vetorecht gilt – selbst wenn sich die ganze Welt auf den Kopf stellt, d.h. in diesem Fall ca. 150 UN-Staaten. Bleibt die UN-Charta und das darin festgeschriebene weltweite „System kollektiver Sicherheit“[6]. Dann wäre zumindest gerechtigkeitshalber die Frage zu stellen, warum dieselben Kriegsbefürworter nicht schon lange bzw. spätestens jetzt einen UN-Militäreinsatz gegen den NATO-Partner Türkei fordern, der seit Jahren einen Teil Zyperns besetzt hält, oder gegen das US-alliierte Königreich Marokko, das die Westsahara okkupiert hatte, oder gegen Israel, das seit 1967 ägyptisches, syrisches und jordanisches Land besetzt bzw. annektiert hat.

Oder, nochmal anders gefragt: Was unterscheidet völkerrechtlich die Besetzung Kuwaits von der US-Invasion in Panama oder Grenada (um nicht die insgesamt ca. 200 US-Interventionen im 20. Jahrhundert aufzuzählen), von der Bombardierung libyscher Städte durch amerikanische Kampfbomber (1984) oder von der Verminung nicaraguanischer Häfen (1984) im Rahmen des nicht-erklärten Krieges der USA gegen das sandinistische Nicaragua?

Was macht völkerrechtlich den Unterschied zwischen einem Saddam Hussein und einem König Hassan aus, einem Ministerpräsidenten Özal, einem Ministerpräsidenten Begin oder einem R. Reagan (ohne die vielen Pinochets, Marcos’ und Francos zu erwähnen)? Wie schaffen es diese Menschenrechtskrieger, Saddam Hussein als „Feind des Menschengeschlechts“, als „orientalischen Despoten“ den Krieg zu erklären, während sie mit anderen Völkerrechtsverbrechern zusammen das Völkerrecht ‚verteidigen‘?

Während die meisten von ihnen wortreich ihre Kriegsbefürwortung gegen den Irak begründen, befällt sie bei diesen Fragen eine auffällig akute (Taub-)Stummheit. Man kann es als Verdienst Hans Magnus Enzensbergers ansehen, als er in seiner viel beachteten und dankbar entgegengenommenen Kriegsrede („Hitlers Wiedergänger“ Der SPIEGEL vom 4.02.1991) deutlich gemacht hat, worauf es ankommt.

Im Unterschied zu Figuren wie Franco, Batista, Marcos, Pinochet und einem halben hundert ihresgleichen […] hat es Saddam Hussein nicht nur darauf abgesehen, ein Volk zu unterdrücken, zu beherrschen, auszubeuten […] Alleinherrscher dieser Sorte gehören zum Repertoire der Geschichte, ja man ist versucht zu sagen, zur Normalität der Staatenwelt […] Ihr Vorgehen (gehorcht) einem Interessenskalkül und das macht sie ihrerseits kalkulierbar.“[7]

Man kann kaum treffender aussprechen, womit sich Enzensberger und viele andere linke Kriegsbefürworter längst abgefunden haben. Herrschaft, Unterdrückung, Ausbeutung sind keine Kriegserklärung gegen die Menschheit – sie gehören zur „Normalität der Staatenwelt“, zu ihrer eigenen Normalität. Diese Opfer zählen nicht, solange das „Interessenskalkül […] kalkulierbar“, sprich ein gemeinsames ist. Angst macht ihnen nicht (länger) diese imperiale Weltordnung, sondern die Vorstellung, diese könne unkontrollierbar werden und sich gegen die Architekten und Privilegierten selbst wenden.

Das bellizistische Schweigen nach dem Krieg

Nicht nur die US-Alliierten, sondern gerade auch die „Querfront“ der Bellizisten in Deutschland bedienten sich in hohem Maße der Kriegspropaganda: Sie sprachen von einem „gerechten Krieg“ gegen einen „Diktator“, der gegen internationale Rechtsgarantien verstoße, seine eigene Bevölkerung grausam unterdrücke und – summa summarum – eine Gefahr für den Weltfrieden darstelle. Ein „Schlächter“, dessen Beseitigung nur noch mit dem letzten Mittel Krieg möglich sei, um noch Schlimmeres zu verhindern. Die Kritik aus den Reihen der Antikriegsbewegung, die US-Alliierten führen keinen „gerechten“, sondern einen ganz gewöhnlich imperialistischen Krieg, erreichte die linken KriegsbefürworterInnen nicht. Auch der Einwand, dass es in diesem Krieg nicht um die Beseitigung eines Diktators gehe, sondern um die Wiederherstellung der imperialen Ordnung, unter der militärischen Hegemonie der USA, verpuffte im Nichts.

Dem Widerspruch, die US-Alliierten führen keinen „chirurgischen“ Krieg, um die Zivilbevölkerung zu schonen, wurden die Bilder eines sauberen Krieges entgegengehalten, die die Kriegszensur ihnen zur Verfügung stellte.

Was mit der Kapitulation des Iraks ans Tageslicht kam, übertraf alle Mutmaßungen und Befürchtungen. Stück für Stück kam die Dimension einer Kriegsführungsstrategie zum Vorschein, die sich mit dem mörderischen Krieg der USA in Vietnam vergleichen lässt.

Vom War game zum „Truthahnschießen“

Über 90 Prozent des Krieges bestand aus einem grauenhaften Gemetzel: „Wenn sie aus ihren Gräben rauskommen, um zu kämpfen, wird unsere Infanterie sie niedermähen. Wenn sie in ihren Gräben bleiben, werden wir über sie hinwegpflügen und sie lebendig begraben.“[8]

Die meisten Waffen, die Mehrzahl der Bomben, die dafür zum Einsatz kamen, hatten ein Ziel: auf einer möglichst großen Fläche, zu einem möglichst günstigen Preis so viele Feinde wie möglich umzubringen.

Passend zu dieser Militärstrategie wurden Gebiete in „killing boxes“ (Todeszonen) eingeteilt, die so lange und so oft bombardiert wurden, bis sich dort nichts mehr rührte: „Die irakische Armee […] wird abgeschlachtet. Und da gibt es niemanden, der ihr dabei raushelfen kann außer Saddam Hussein.“[9]

Selbst den Rückzug der irakischen Armee aus dem besetzten Kuwait, das vorgebliche Ziel der US-Alliierten, verwandelten sie in ein Massaker. Die Rückzugswege wurden abgeschnitten, die Brücken gesprengt: „Es war wie beim Truthahnschießen.“[10]

Ein Frieden mit mehr Toten als im Krieg

Die US-Alliierten und ihre KriegsbefürworterInnen erklärten immer wieder, dass sich dieser Krieg nicht gegen die Zivilbevölkerung richte. Im Schutz der Kriegszensur wiederholten sie unentwegt diese Lüge. Wie kaum ein anderer Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg steht dieser im Namen westlicher Werte geführte Krieg für die systematische Zerstörung der zivilen Infrastruktur eines Landes. Ein Krieg, der die Zivilbevölkerung nicht versehentlich, sondern absichtlich zur Geisel einer Kriegspolitik machte, die nicht alleine den Krieg gewinnen, sondern vor allem den Frieden diktieren wollte. Ein ‚Frieden‘, den es in den meisten Regionen dieser Welt nur gibt, wenn die Interessen des Westens aufs Vorzüglichste berücksichtigt sind.

Ramsey Clark, ehemaliger US-Justizminister, war während des US-alliierten Krieges gegen den Irak mit einem Kamerateam im Irak unterwegs. Anschließend gründete er ein internationales Komitee, das die dort begangenen Kriegsverbrechen öffentlich machte. In seinem 1993 in Deutschland erschienenen Buch „Wüstensturm – US-Kriegsverbrechen am Golf“ listet er die Zerstörung für legitim erklärter, ziviler Kriegsziele auf:

„In den ersten Stunden des Krieges fiel die irakische Stromversorgung zu mehr als 90 Prozent aus […] Die US-Luftwaffe zerstörte die elf wichtigsten Stromkraftwerke sowie 119 kleinere Kraftwerke. […] Iraks acht wichtigste Staudämme wurden wiederholt unter Beschuss genommen und schwer beschädigt […] Vier der sieben wichtigsten Pumpstationen wurden zerstört. Bomben und Raketen schlugen in 31 städtische Frischwasseraufbereitungs- und Kläranlagen ein – allein in Bagdad waren es 20. […] Auch das irakische Telefonnetz wurde in den ersten Kriegstagen funktionsuntüchtig gebombt. […] 400.000 der 900.000 Leitungen zerstört. […] Vierzehn Fernmeldeämter wurden irreparabel beschädigt, dreizehn weitere fielen auf unbestimmte Zeit aus. […] In dem von zwei großen Strömen zerteilten Land wurden 139 Brücken entweder beschädigt oder zerstört. […] Direkten und systematischen Angriffen war die irakische Landwirtschaft, waren die Lebensmittelproduktion, -lagerung und –verteilung ausgesetzt. Die Hälfte aller Agrarprodukte wurde auf bewässerten Flächen erzeugt; angegriffen wurden alle dafür genutzten Wasserwirtschaftssysteme, darunter Talsperren, Staustufen, Pumpstationen und Entwässerungsanlagen … 28 zivile Krankenhäuser und 52 Gesundheitszentren wurden von Bomben getroffen. […] Zahlreiche Produktionsanlagen wurden bombardiert: Sieben Textilfabriken wurden beschädigt, ebenso fünf Maschinenbau-Werke, fünf Bauunternehmen, vier Fahrzeug-Montagewerke. […] Angriffsziel mit hoher Priorität war auch die irakische Ölindustrie. US-Flugzeuge beschossen elf Ölraffinerien, fünf Pipelines und Produktionsanlagen sowie zahlreiche Öltanker. Drei Tanker wurden versenkt, drei weitere in Brand geschossen.“[11]

Es ging nicht darum, den Krieg zu gewinnen, sondern den „Frieden“ zu diktieren. Ramsey Clark zitierte dafür einen Oberst John A. Warden III, der die gezielte Deindustrialisierung Iraks als klares US-alliiertes Kriegsziel auswies: „Die Stromversorgung kann Saddam Hussein nicht allein wiederherstellen. Er braucht Hilfe. Wenn die UN-Koalition schon politische Ziele verfolgt, dann kann sie sagen: ‚Saddam, wenn ihr all dem zustimmt, werden wir zulassen, dass unsere Fachleute eure Stromversorgung wieder in Ordnung bringen.‘ Auf lange Sicht ist das ein gutes Druckmittel.“[12]

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Professor Noam Chomsky:

Es war ein Angriff auf die Wasser- und Energieversorgungssysteme und andere Infrastruktureinrichtungen, der genau den Effekt biologischer Kriegsführung hatte. Diese Angriffsspitze hatte nichts zu tun mit dem Krieg, nichts. […] Der Zweck der biologischen Kriegsführung und des Angriffs auf die Infrastruktur bestand darin, die Bevölkerung für die Zeit nach dem Krieg als Geisel zu nehmen, damit die USA ihre politischen Ziele in der Region erreichen konnten. Das ist internationaler Terrorismus kolossalen Ausmaßes.“[13]

Dass dieser Krieg nicht nur auf die militärische Schwächung eines Feindes zielte, sondern auch auf die Zivilbevölkerung selbst; dass man mit Frieden mehr Menschen töten kann als durch den Krieg selbst, belegen die Zahlen von UN-Organisationen: „Die FAO sprach 1995 von einer Million Toten, die Weltgesundheitsorganisation WHO stellte 1996 fest, dass sich die Kindersterblichkeit versechsfacht hat und die Mehrheit der Bevölkerung unterernährt ist.“[14]

In Frieden weiter Krieg führen

Das Regime Saddam Hussein kehrte als „Hundesohn des Westens“ nicht zu seinen Herren zurück. Das führte zum nächsten Krieg 2003, zum Sturz, zum Regime Change und zur De-facto-Annexion, also Akquisition der Ölquellen zugunsten der US-Alliierten.

Seitdem ist der Irak eine Trümmerlandschaft. Die Öleinnahmen, die über 90 Prozent des Staatseinkommens ausmachen, fließen wie immer und jeher in die Hände Weniger. Die Lebensbedingungen sind schlechter als unter der Regierung Saddam Husseins. Das Gesundheitssystem, das zu den besten in der Region gehörte, ist zusammengebrochen. Wasser, Strom, Leben, Zukunft gibt es nur stundenweise.

Im Irak kann man sich vor Augen führen, wohin „gerechte“ Kriege führen. Man sollte dies zu einem Pflichtprogramm für alle Bellizisten machen – ohne Polizeischutz.

Titelbild: zef art/shutterstock.com

Krieg ist Frieden. Über Bagdad, Srebrenica, Genua, Kabul nach …, Wolf Wetzel, Unrast Verlag 2002

Quellen und Hinweise:

Ohne Gott und Adorno” – Die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens

Die großen Lügen der Geschichte. Propaganda auf der Säuglingsstation, Folge 8, Frankreich 2018. „Eine Propagandalüge, detailgenau konstruiert, mit schwerwiegenden Folgen: In Kuwait sollen 1990 irakische Soldaten Brutkästen gestohlen und die Frühgeborenen hilflos zurückgelassen haben.“

Ehrbarer Antisemitismus? Die Resistenz gegen den zweiten Golfkrieg und die falsche Alternative „Frieden oder Rettet Israel!“, Markus Mohr:

Teil I: wolfwetzel.de/index.php/2021/02/23/ehrbarer-antisemitismus-die-resistenz-gegen-den-zweiten-golfkrieg-und-die-falsche-alternative-frieden-oder-rettet-israel-von-markus-mohr/
Teil II: wolfwetzel.de/index.php/2021/02/27/ehrbarer-antisemitismus-von-markus-mohr-teil-ii/
Teil III: wolfwetzel.de/index.php/2021/03/10/wahnsinn


[«1] FR vom 23.11.1990

[«2] Jungle World vom 2.8.2000

[«3] Uri Avnery, Spiegel 9/1991

[«4] Spiegel, 8/1991, S.140

[«5] Spiegel, 8/1991, S.140

[«6] D. Senghaas, FR vom 5.2.1991

[«7] Spiegel 6/1991, S.26

[«8] US-Oberleutnant Richard Semiola, FR vom 2.3.1991

[«9] Ein US-Militär zur neuen Strategie, FR vom 14.2.1991

[«10] Kompaniechef Jess Fairington, taz vom 21.2.1991

[«11] FR vom 16.9.1993

[«12] FR vom 16.9.1993

[«13] FR vom 30.1.1992

[«14] Jungle World vom 2.8.2000

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